Rückfahrt, Umbruch, Übergang
Selbstreflexion in Umbruchszeiten
Während diese Reihe von Kurzgeschichten entsteht, wartet der Autor auf die Prüfung seiner Arbeit, mit welcher eine Lebensphase abgeschlossen wird und nach der eine ebenso ungewisse Zukunft bevorsteht. Während dessen begegnen ihm verschiedene anarchistische Denker, die ihn geprägt und beeinflusst haben. Er freut sich, sie wieder zu treffen, muss aber auch schauen, wie er mit ihnen weiter macht. Denn es ist klar, dass es sich um einen Verein weißer Typen handelt, die – wie der Autor ebenfalls – einige Probleme in ihren Leben und in ihrer Geschlechtsrolle haben… Dies gilt es zu reflektieren um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die besagten eigenwilligen Leute auf ihn wirken. Im selben Zuge wird auf einige Aspekte ihres theoretischen und aktivistischen Denkens hingewiesen, die wiederum auf subjektivistische Weise mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Damit wird auch eine Brücke durch Zeit und Raum geschlagen. Ganz schön irre alles. Diese und ganz andere Texte sind bereits auf paradox-a.de erschienen.
Rückfahrt, Umbruch, Übergang
Landauer trifft mich beim Runterkommen (vierte Geschichte)
Auf dem Rückweg sitzt auf dem Zweiersitz im Zug neben mir ein schnöseliger Typ. Er hat Lederschuhe an, einen offensichtlich teuren Mantel in beige neben sich hängen und eine runde Brille auf. Ich neige nicht wirklich dazu, Menschen in Kategorien zu pressen. Weil ich selbst meine, in diverse Kategorien nicht hinein zu passen und sie zu überschreiten. Naja, da kann man natürlich auch die Fiktion der eigenen Besonderheit draus konstruieren… In diesem Fall fällt es mir aber wirklich schwer, meine Vorurteile zurückzustellen. Denn er liest den aktuellen GegenStandpunkt, das Magazin dieser hyper-marxistischen Sekte, einer längst zugrunde gegangenen Unterunterströmung der Neuen Linken.
Das Problem aus marxistischer Perspektive ist nicht er als Person, sondern er als Subjekt. Das Großbürgerkind Karl reflektierte den Standpunkt des Bürgertums ja sehr gut – und ermöglichte deswegen seine radikale Kritik. Daher kann ich von außen nicht beurteilen, ob der Studi vor allem damit beschäftigt ist, seinen bürgerlichen Standpunkt zu rechtfertigen und dementsprechend auch zu verteidigen – wie die antideutschen Intellektuellen.Oder, ob er tatsächlich an seiner Selbstdemontage arbeitet. Beziehungsweise den Verhältnissen, deren Produkt er ist. Oder – was die komplizierteste Variante wäre – ob er den schnösel-bürgerlichen Habitus mimt, um sich in der radikalen Kritik an ihm zu ihm zugehörig zu fühlen, weil er tatsächlich einem Milieu entstammt, dass in der sozialen Hierarchie weiter unten steht. Klingt seltsam, habe ich aber schön öfters mal erlebt… Mit den Studierenden- und Schlaumeierkreisen habe ich jedenfalls nur noch selten zu tun.
Und darum bin ich froh. Warum also kreisen meine Gedanken in solchen absurden Bahnen? Es wird immer irgendwelche Besserwisser-Studies geben, die super klug und super elitär sind und de facto nichts für sozial-revolutionäre Veränderungen beitragen – so wie die Leute bei Platypus und so weiter. Was verändert sich eigentlich wirklich in linken Debatten und Szenen, außer die Aufmachung der Labels? Sind es nicht immer dieselben Irrwege, welche Jahrzehnt für Jahrzehnt wieder gegangen werden? Und während ich dies denke, weiß ich natürlich auch, dass andere das gleiche von meiner Position sagen. Ein Unterschied ist allerdings, dass ich tatsächlich nicht nur dagegen stehe, sondern protestiere, also für etwas einstehe – und weiß, was es ist.
Blühende ostdeutsche Landschaften ziehen an mir vorbei. Die vierundzwanzigstündig brennende Flamme auf dem Turm der Schadstoffverbrennung in Leuna zieht an mir vorbei. Ganze Jahre ziehen mir vorbei… Ich fühle mich, als wäre ich in den letzten zwei Wochen vier Jahre gealtert – um das chronologische Alter zu erreichen, welches ich jetzt habe?! Wie alt bin ich eigentlich? Älter oder jünger als die Zahl klingt? So genau könnte ich das nicht gerade gar nicht sagen… Leider hatten mich vor zwei Tagen noch mal Dämonen der Vergangenheit beschlichen. Hatte nichts mit der Doktorarbeit oder meinen (anti-)politischen Aktivitäten zu tun. Aber gut, vielleicht wird auch das eines Tages ein Ende haben. Wenn ich Glück habe, vor meinem Tod. Das Wetter ist wieder auf kaltgrau umgeschwenkt und ich bin etwas angeschlagen. Normale Menschen würden jetzt chillen. Ich kann nicht chillen, sondern schreibe diesen Text, nachdem ich Emails geschrieben und etwas bürokratisches geklärt habe. Vielleicht morgen dann, vielleicht morgen. Vielleicht auch demnächst, schön wäre es. Denn ich habe mir eine Auszeit verdient.
Zeiten des Umbruchs und Übergangs sind oftmals viel unspektakulärer, als man sie sich vorstellt oder als sie oft gezeichnet werden. Was auf die soziale Revolution zutrifft, stimmt auch für das individuelle Leben, finde ich. Weil mein Verstand und meine Emotionalität gut funktionieren, ist meine Seele krank von der Gesellschaftsform in der ich lebe. Ausgebeutet, unterdrückt, entfremdet … doch auch so sinnentleert führen wir unsere Leben. Von Urlaub zu Urlaub, Silvester zu Geburtstag, Begegnung zu Begegnung, Ereignis zu Ereignis zieht unsere kurze Zeit an uns vorüber – in einem so fremdbestimmten Dasein. So fremdbestimmt, dass es vielen schon als der eigene Wille, die eigene Entscheidung vorkommt. Und ich denke darüber nach, weil ich mich selbst frage, wo mein Platz war, ist und sein soll; wo mein Weg wohl hinführen mag.
Schon einige Stunden bin ich angekommen an dem Ort, wo ich nun bin und lebe. Eigenartig ist es hier. Nun ist es schon abends und ich hole die Tiefkühlpizza aus dem Ofen. Landauer hat sich zu mir gesetzt und wir unterhalten uns über den Nullpunkt, der zu durchschreiten ist, bevor es Frühling werden kann. „Ach, manchmal ist mir so weh“, sage ich verbittert, „da frage ich, ob mir besser wäre, wenn ich einen Kubitschek, Höcke, Sellner oder Dugin erschiessen würde“. Gustav erwidert: „Aber, aber, mein Lieber! Das will ich nicht noch mal hören! Du wirst dich aufraffen und ein neues Beginnen wagen. Sehen wir die neue Welt nicht aller Orten anbrechen und die sozialistischen Formen wachsen?! Sei nicht so kleingläubig!“. Ich schweige. Denn Recht hat er. Auch wenn ich wieder leicht genervt bin, weil er diese väterliche Art an den Tag legt, wie die anderen Dudes. Und ich mich dann wieder frage, ob ich immer noch diese Ausstrahlung eines kleinen Jungen habe oder was da los ist. Bei Landauer kommt dann noch diese phasenweise Schwurbeligkeit hinzu, die mich anstrengt und ermüdet. Nach der letzten Zeit weiß ich definitiv auch, was Erschöpfung bedeutet.
„Was isst du da überhaupt?“, fragt er, auf meine TK-Pizza deutend. Und ich weiß, was er meint. Denn es ist die Nahrung, welche der industriellen und individualisierten Massengesellschaft entspricht, die wir überwinden müssen. Doch ich stehe dazu, Teil des Ladens und nichts Besseres zu sein. Vielleicht auch, weil ich allzu mäkelig und skeptisch gegenüber den Alternativen bin, die hier und dort vorgebracht werden. Wann aber wird dies zur Ausrede, die Mühen der Veränderung nicht auf sich nehmen zu wollen? Denn da ist ja auch der Wunsch nach persönlicher Veränderung, nach einem guten, schönen und erfüllten Leben auch für mich. Bei mir oder niemandem, heute oder nie, jetzt oder niemals beginnt es anderes zu schaffen und zu verwirklichen.
In aller Ruhe unterhalten wir uns noch eine Weile über den Geist und sein Wirken zur Integration von Gesellschaft entgegen dem Kunstprodukt Nation und der Staatsmaschinerie – in der doch so viele mitlaufen. Und immer mehr wollen wieder mit ihr im Gleichschritt marschieren, anstatt selbst ihre Wege zu finden; gemeinsam, in echter Verbundenheit. Ja, auch tiefe Gemeinschaftlichkeit wäre etwas, was ich mir im Übergang wieder zu lernen wünsche. Was ich zurückgestellt habe in den letzten Jahren – aufgrund der Arbeit, sage ich mir. Aber eigentlich wohl auch aufgrund mancher Enttäuschungen. Und weil ich sie selbst nicht so gut leben konnte. Doch das kann wieder anders werden. Fragend schreiten wir voran und entdecken allerorten und allerzeiten Menschen, die auf der Suche nach libertären und sozialistischen Seinsweisen sind. Wir müssen sie nicht im Außen suchen, sondern im Inneren. Denn dort ist alles angelegt. Am Nullpunkt der vielen Einzelnen, die den Abgrund geschaut haben, entfaltet sich zaghaft-explosionsartig eine mannigfaltige Welt in der viele Welten Platz haben.
Gustav richtet sich auf, nimmt bedachtsam seinen Hut und verabschiedet sich herzlich, wie es seine Art ist. „Danke, dass du dir die Zeit genommen hast“, sage ich zu ihm. Denn ich sehe einen Menschen, der weiß, was Zeit und Zeitlichkeit ist. Gleichzeitig existieren gleiche, freie, solidarische Verhältnisse neben den dominierenden der Hierarchie, des Zwangs oder der Konkurrenz. „Gerne, auf bald!“, erwidert er und ich freue mich, dass auch er nicht „Bitte“ sagt. Denn gebeten habe ich ihn um nichts. Sondern nur etwas Zeit mit ihm geteilt. So bin ich gespannt, was mir begegnen und der Frühling bringen mag…