Bericht vom 20. Prozesstag – 16.12.2021

Am 20. Verhandlungstag wurde der Zeuge Marcel A. zum Tatkomplex Wurzen II angehört. Die Vernehmung Patrick Heidlers, Ermittler der Soxo LinX, wurde fortgesetzt, da das Verfahren gegen ihn wegen Herausgabe von Ermittlungsinterna an das faschistische Compact Magazin eingestellt wurde. Als dritter Zeuge wurde der Kollege Heidlers, Dustin Schlieker, vernommen.

Die Sitzung begann etwas verspätet um 09.45 Uhr mit der Vernehmung des Zeugen Marcel A. Dieser war am 15. Februar 2020 unter anderem zusammen mit Ben Heller und Karl-Jonas Kaden zum sogenannten „Trauermarsch“ nach Dresden gefahren. Direkt zu Beginn der Befragung wurde klar, dass der Zeuge wenig motiviert war, dem Gericht über seine Erlebnisse vom 15.2. und dessen Zusammenhänge Auskunft zu geben. Auf die allermeisten Fragen antwortete der Zeuge gar nicht oder sehr ausweichend und betonte seine nicht vorhandenen Erinnerungen, welche er an einer Stelle mit dem Umstand begründete, dass er wohl auch nicht immer nüchtern gewesen sei.

Zunächst versuchte Schlüter-Staats herauszufinden in wie weit der Zeuge Teil der rechten Netzwerke und Strukturen in Wurzen und Umgebung ist, beziehungsweise war. Dieser lässt sich zwar darauf ein, dass Teile seines – wie er heute sagte – „damaligen Freundeskreises“ organisierte Nazis sind, ordnet sich selbst jedoch diesen nicht zu und stellt die Strukturen und seine eigene Position darin als eher der kleinstädtischen Dynamik geschuldet und eher zufällig als ideologisch motiviert dar.

Schlüter-Staats befragte den Zeugen detailliert zu den Ereignissen am 15.2.2020, der Planung und Koordination von An-und Abreise, dem Verlauf der Demonatration und dazu, welche Personen teilgenommen hatten. A. konnte sich auch nach mehreren Vorhaltungen und der Vorlage von Lichtbildern aus dem Zug nur an die Anwesenheit von Karl-Jonas Kaden und Ben Heller erinnern. Lucas Zahner und Matthias Leder will der Zeuge nur peripher gekannt haben und über das Mitführen der Fahne durch Zahner nicht begeistert gewesen sein. Dies begründete er damit, dass seine Familie nichts von seiner Teilnahme an der Demonstration und seinem Kontakt in die rechten Strukturen wusste, und er es gerne dabei belassen hätte. Schlüter-Staats formuliert, dass er verstehen könne, dass dem Zeugen heute peinlich sei, dass er damals rechts war und fragt, ob er denn jetzt links sei, wie andere Zeugen zuvor behauptet haben – das kann der Zeuge „nicht bestätigen“.

Die Befragung des Zeugen über den konkreten Hergang des Angriffs blieb ohne größere Erkenntnisse. Im Gegensatz zu seiner polizeilichen Vernehmung konnte er sich nicht mehr daran erinnern, ob die Angreifenden bewaffnet gewesen wären, auch über die Vermummung war er sich nun unsicher.

Die Befragung der Verteidigung zielte vornehmlich darauf ab, wie A. den Vorfall politisch einordnet und welche Konsequenzen dieser für ihn hatte. Er berichtete von gängigen Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken in Wurzen, hätte diesen jedoch nie beigewohnt und könne auch keine konkreten Ereignisse benennen. Am Rande ging es noch um Theresa (Tessa) Z., mit welcher der Zeuge am Bahnhof verabredet gewesen sei. In der polizeilichen Vernehmung hatte der Zeuge wohl ausgesagt, dass Theresa Z. ihm per WhatsApp eine Nachricht geschrieben hätte, dass sich am Bahnhof vermummte Personen aufgehalten hätten. Bei der Vernehmung konnte sich der Zeuge das nicht mehr vorstellen, insbesondere weil er es für unwahrscheinlich hielt, dass er und seine Gruppe dann am Bahnhof Wurzen ausgestiegen wären oder sie hätten sich dann „anders vorbereitet“. Am Ende der Vernehmung A.’s wurden dessen Social Media Präsenz und der wohl vom Zeugen an die Polizei gegebene Hinweis eines Facebook-Profil namens „Robert Robsen Rose“ diskutiert. Auch daran wollte sich der Zeuge jedoch nicht mehr erinnern können.

Nach der Mittagspause wurde der Prozess gegen 12.50 Uhr mit der Vernehmung des Polizeibeamten Patrick Heidler fortgesetzt. Dieser erschien – was bereits bei seiner ersten Zeugenvernehmung im Prozess für Diskussionen sorgte – in Begleitung seines Zeugenbeistands, RA Hirschmann.

Heidler wurde bereits am 30. September vor Gericht vernommen, da er als Beamter der Soko LinX mit den Ermittlungen im Fall Enrico Böhm, sowie des Kanalarbeiters in Connewitz betraut war. Als die Verteidigung ihn damals fragte, wer im LKA Informationen an Enrico Böhm oder andere Faschisten weitergegeben habe, berief er sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO, da ein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses gegen ihn lief.

Das Verfahren der StA Chemnitz gegen ihn wurde mittlerweile eingestellt.

RAin Belter begann die Zeugenvernehmung dort, wo beim letzten Mal unterbrochen wurde: mit der Frage, ob Heidler Kenntnis davon habe, dass Kollegen der Soko LinX Infos an die Presse durchgestochen hätten. Er antwortete „nein“, woraufhin Belter fragte, wieso er sich dann letztes Mal zu dieser Frage auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berief. Der Beamte wollte diese Frage nicht beantworten. Belter warf ein, dass er sich nun nicht mehr auf § 55 StPO berufen kann, da das Verfahren gegen ihn bereits eingestellt wurde.

Heidler musste den Saal verlassen, damit im Raum die Zulässigkeit der Frage besprochen werden konnte. Es begann eine Diskussion zwischen dem vorsitzenden Richter, der Bundesanwaltschaft und der Verteidigung bezüglich des Anwendungsbreiches des § 55 StPO. Belter erläuterte, dass er sich bezüglich derselben Frage, die er in der aktuellen Vernehmung mit „nein“ beantwortete, am 30. September noch auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berief.

RA Hirschmann warf ein, dass er sich hätte strafbar machen können, hätte er Kenntnis zu Durchstechereien seitens seiner Kollegen gehabt, ohne dies gemeldet zu haben; Schlüter-Staats stimmte zu. Belter entgegnete, dass Heidler dann auch damals entsprechend hätte antworten müssen, und zwar mit „nein“, hätte er keine Kenntnis gehabt – anstatt die Auskunft zu verweigern.

Hirschmann erklärte, dass er seinem Mandanten dies so geraten habe, und dass dieser nicht beantworten werde, wieso er sich im Gegensatz zu heute damals auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berief.

Belter führte an, dass die Frage nach den Kollegen doch einigermaßen interessant ist, denn es ist immer noch unklar, wer interne Informationen aus Ermittlungen durchgestochen hat. Schlüter-Staats verteidigte die Soko LinX – es sei unklar, ob jemand aus dem LKA dafür verantwortlich sei, es könnten auch die Anwälte gewesen sein.

Belter fuhr fort, dass neben dem eingestellten Verfahren gegen Heidler wegen der Weitergabe von Dienstgeheimnissen noch weiter gegen Unbekannt ermittelt wird. In diesem Verfahren gibt es einen Vermerk der zuständigen Soko LinX-Beamtin. Dort steht, es habe so viele Durchstechereien gegeben, dass unklar sei, an welche Journalist:innen Informationen weitergegeben wurden.

Darüber hinaus entgegnete sie dem Vorsitzenden, dass die Ermittlungsinterna ohne Wasserzeichen weitergegeben wurden, zudem lagen die Akten den Anwälten erst viel später und unvollständiger vor. Es ist also eindeutig, dass die Weitergabe über Polizeibeamte stattgefunden hat.

RA Werner betonte, es ist wichtig zu erwähnen, dass zwei Verfahren wegen der Weitergabe von Informationen an das Compact Magazin eingeleitet wurden. Das eine Verfahren wurde zwar eingestellt, zu dem anderen Sachverhaltsabschnitt ist noch nichts geklärt. Es ist wichtig, dass dazu Fragen gestellt werden können, um zu ermitteln, wie die Durchstechereien passieren konnten. Es kam ihm so vor, als erwarte Schlüter-Staats, dass die Verteidigung das herausfinden und ihm dann stichhaltige Beweise liefern muss. „Wir haben diese Akten nicht angelegt. Die Leute die diese Akten angelegt haben, sollten doch auch Interesse an Aufklärung haben, wenn Teile davon an die Öffentlichkeit gelangen“, so Werner. Die Bundesanwaltschaft hält sich in Sachen Aufklärung ebenfalls sehr zurück.

Es folgte ein Rechtsgespräch zwischen dem Richter und der Verteidigung, in dem erörtert werden sollte, wann ein Auskunftsverweigerungsrecht bei einem Verfahren gegen Unbekannt in Betracht kommen könne und ob sich der Zeuge dazu äußern müsse, weshalb er sich in der früheren Vernehmung auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berief. Während der Diskussion zwischen dem vorsitzenden Richter und RAin Belter fragte der Vorsitzende RA von Klinggräff nach seiner Rechtsauffassung. Sichtlich irritiert wollte von Klinggräff die Diskussion wieder an die Kollegin Belter zurückgeben und nicht stellvertretend für alle Kolleg:innen sprechen. Als RAin Belter wieder das Wort ergriff, entgegnete Schlüter-Staats in scharfem Ton: „Ich rede hier gerade mit Herrn von Klinggräff“. Hirschmann hatte zuvor argumentiert, dass sein Mandant sich aufgrund des laufenden Verfahrens gegen Unbekannt auf § 55 StPO berufen könne.

Heidler wurde sodann wieder in den Saal gerufen, RAin Belter stellte ihm die Frage erneut, auf die der Beamte wiederholt ausweichend antwortete. Nach einer weiteren Besprechungspause richtete diesmal der Vositzende das Wort an Heidler – formulierte die Frage jedoch so suggestiv, dass dieser erneut um eine ernsthafte Beantwortung herumkam.

In der weiteren Vernehmung des Zeugen versuchte die Verteidigung herauszufinden, inwieweit Heidler Kenntnisse von der Weitergabe von Akteninhalten gehabt haben könnte, beispielsweise über seine Rolle und Verantwortlichkeit anderen Soko LinX-Mitarbeiter:innen gegenüber oder zu seinem Zugang zu verschiedenen relevanten Akten, insbesondere im Fall Böhm. Mit geflissentlicher Unterstützung von StAin Geilhorn manövrierte sich der Zeuge immer wieder um Antworten herum, insbesondere indem er sich auf die Grenzen seiner Aussagegenehmigung berief, welche Informationen zu Struktur, Personal und innerdienstlichen Abläufen explizit deckelte. Heidler gab auf Nachfrage der Verteidigung lediglich zu, dass er Dienstvorgesetzter innerhalb der Soko LinX gewesen sei. Die Bewertung der Relevanz der Auklärung besagter Weitergabe von Dienstgeheimnissen für das Verfahren fiel indes seitens des Gerichts und der Verteidigung unterschiedlich aus. Ersteres stellte hier wiedermal ihren haltlosen Vertrauensvorschuss der Polizei gegenüber unter Beweis, während letztere die grundrechtliche Relevanz für die Angeklagten und die zweifelhafte Objektivität der Ermittelnden herausstellte.

Im Anschluss wurde ein Kollege Heidlers vernommen: Dustin Schlieker, Kriminalkommissar beim LKA Sachsen und Teil der Soko LinX. Dieser war ebenfalls mit den Ermittlungen im Fall Böhm betraut und hatte vor Gericht bereits als Zeuge ausgesagt. Damals gab er an, dass er über eine Kopie der Ermittlungsakte verfüge und diese trotz Abschluss der Ermittlungen in seinem Büro aufbewahre. Nach längerem Hin und Her erklärte er am 13.09.21, als einziger Beamter Zugang zu dieser Akte zu haben.

Ob er von dem Verfahren gegen Unbekannt wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses wisse, fragte RA Nießing zu Beginn und verweist auf eine Frau Kästner. Schlieker bejahte dies und antwortete auf die Frage, wie er davon erfahren habe knapp mit „Buschfunk“ und betonte, dass er dazu nicht mehr sagen könne, er wisse nur, dass es diese Tatsache gebe. Frau Kästner sei eine Kollegin von ihm, ob sie aber selbst ermittle, wisse er nicht. Das Verfahren gegen Unbekannt habe ihn aber auch nicht weiter interessiert. Mit seinem Kollegen Patrick Heidler habe er auch nie über das Verfahren gesprochen – obwohl beide im Fall Böhm zusammengearbeitet haben. Zu Enrico Böhm und Cedric Scholz habe er nach Ende des Ermittlungsverfahren keinen Kontakt mehr gehabt.

RA Aufurth befragte ihn anschließend noch zu einem Aktenvermerk bezüglich des mutmaßlichen Fluchtfahrzeugs. Doch Schlieker will sich auch nach Vorhalt des Vermerks nicht mehr an diese Orte/Route erinnern können.

Im Anschluss an die Zeugenvernehmungen folgte die in Augenscheinnahme eines Videos (Bodycam) vom Leipziger Hauptbahnhof vom 15.02.2020. Zu sehen sind dutzende Menschen, die aus einem ankommenden Zug vom Bahngleis aus in Richtung Bahnhofsgebäude laufen. Nachdem das Video zunächst kommentarlos gezeigt wurde, erklärte RA von Klinggräff, dass im Video eine Person erkennbar ist, die auch im Zug von Dresden nach Wurzen war. Das Verhalten der Person am Bahnhof deuteten die Ermittler:innen der Soko LinX als konspirativ, da sie telefonierte und sich von der Kamera weg drehte – um abzubiegen und die Menschenmassen zu umgehen. Ein konspiratives Verhalten kann er darin nicht erkennen, schloss von Klinggräff seine Bemerkung ab.

Danach wurde ein Aktenvermerk der Kriminalkommissarin Möller vom 22.09.2021 aus der Akte der StA Leipzig in Augenschein genommen. Darin enthalten waren zwei Bilder von Überwachungsaufnahmen aus dem Zug von Dresden nach Leipzig am 15.02.2020, die eine telefonierende Person zeigten.

Zuletzt wurden Bilder der Hausdurchsuchung bei Lina vom 05.11.2020 gezeigt. Darauf waren eine Regenjacke, sowie ein kleiner Metallstab, den die Ermittler:innen für den Sicherungsstift eines Pfeffersprays halten, zu sehen. Als Vergleichsbild wird in der Akte ein aus dem Internet stammendes Bild eines Pfeffersprays angeführt, auf dem ein Sicherungsstift zu erkennen ist. RA Zünbül hatte zunächst Widerspruch gegen die Einführung dieses Bildes eingelegt, da der Schluss, der aus diesem Bild gezogen wird, falsch ist. Dem Widerspruch wurde nicht stattgegeben.

Gegen 16.00 Uhr endete der Prozesstag. Der Vositzende gab bekannt, dass weitere Verhandlungstermine über den März 2022 hinaus, bis Juni angesetzt wurden. Für die nächste Verhandlung sei der Zeuge und Geschädigte Lucas Zahner geladen, im neuen Jahr Benjamin Schwelnus und der Sachverständige Lippold. Danach wolle man sich dann an den Tatkomplex Eisenach ranarbeiten.

Der nächste Prozesstag ist der 22.12.2021, terminiert für 9.30h.

gefunden am 23.12.2012 auf https://www.soli-antifa-ost.org/bericht-vom-20-prozesstag-16-12-2021/