Bericht vom 18. Prozesstag – 9.12.2021

Am 18. Verhandlungstag wurden zwei Zeug:innen zum Tatkomplex Wurzen II angehört. In einer Randbemerkung wies der vorsitzende Richter Schlüter-Staats darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft Chemnitz ihre Ermittlungen gegen den Polizisten Heidler wegen Durchstechen von Akten im Verfahren gegen Henry A. aus Leipzig eingestellt hat. Dies sei ein „Freispruch 1. Klasse“ so Schlüter-Staats.

Der Prozesstag begann mit etwas Verspätung um 9.40 Uhr, da der vorsitzende Richter Schlüter-Staats vor Verhandlungsbeginn mit der minderjährigen Zeugin Zoé B. gesprochen hat. Neben dieser war der Zeuge Marcel T.Die Zeugin Zoé B. schilderte zunächst, wie sie sich am 15. Februar 2020, damals 12-jährig, mit einem anderen Mädchen im Garten derer Eltern aufhielt, welcher in unmittelbarer Nähe zum Wurzener Bahnhof und dem Ausgang der Unterführung liegt. Währenddessen hörten die beiden Gebrüll aus Richtung des Bahnhofes und der Unterführung und wendeten sich diesem zu. Kurz darauf sahen sie zwei Personen aus Richtung der Unterführung rennen. Daraufhin seien sie und ihre jüngere Bekannte, durch das gehörte Gebrüll in Angst versetzt, zunächst im Affekt in die Laube im Garten und dann zu ihren Eltern gelaufen, um diesen von ihrer Beobachtung zu berichten. Gut erinnerlich war der Zeugin am Verhandlungstag nur noch ein Windbreaker der Marke Ellesse, den eine der beiden von ihr männlich gelesenen Personen getragen habe. Die Eltern der Mädchen schätzten die Situation diesen gegenüber als nicht bedrohlich oder bemerkenswert ein. Erst nachdem die Zeugin auf dem späteren Nachhauseweg mit ihrer Mutter eine auffällige Polizeipräsenz am Bahnhof bemerkt habe, sei sie mit ihrer Mutter in den folgenden Tagen zur Polizei gegangen, um ihre Beobachtungen dort auszusagen. Dieses Verhalten wurde von den Richtern Schlüter-Staats und Andreae lobend herausgestellt. Entgegen ihrer in der polizeilichen Vernehmung getätigten Aussage über fünf bis sechs weitere aus der Unterführung kommende Männer erinnerte sich die Zeugin heute lediglich an zwei Personen. Bei diesen ist sie sich jedoch heute sicher, dass diese nicht vermummt gewesen seien. Gesichter der vorbeilaufenden Personen seien ihr dennoch nicht erinnerlich. Auch konnte sich die Zeugin an eventuell abfahrende Fahrzeuge an der Straße oder auf dem gegenüberliegenden Parkplatz im Zusammenhang mit den Personen nicht erinnern. Abschließend verlas Schlüter-Staats die entsprechenden Passagen aus der polizeilichen Vernehmung vom 19. Februar 2020. Die Zeuginnenvernehmung endete kurz vor 11.00 Uhr.

Vor der Pause wies Richter Schlüter-Staats auf die Entscheidung der Chemnitzer Staatsanwaltschaft bezüglich der Ermittlungen gegen den bei der Soko LinX tätigen LKA-Beamten Heidler hin, welcher bereits am 8. Prozesstag mit seiner Zeugnisverweigerung für Furore sorgte. Die Staatsanwaltschaft habe die Ermittlungen gegen Heidler wegen Herausgabe von Akten und persönlichen Daten an das rechte Compact-Magazin eingestellt. Es handele sich hierbei – so der vorsitzende Richter – um einen Freispruch „1. Klasse“. Ironischerweise betonte Schlüter-Staats in Richtung der Verteidigung daraufhin noch, dass Verdächtigungen, auch wenn diese nicht unbegründet sein müssten, schnell zu „Vorverurteilungen führen“ könnten.
Brisant an der Stelle: Dem Nebenklagevertreter Tripp wurde, wie der Verteidigung, ein Exemplar der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Chemnitz weitergegeben. Nach Intervention der Verteidigung zog der Vorsitzende dieses wieder ein, da Tripp kein Akteneinsichtsrecht habe. Reagierend auf den Einwand, dass die ausgeteilten Unterlagen ungeschwärzt seien, betont Schlüter-Staats, dass er hier auf den Grundsatz der Vertraulichkeit baue.

Vor der nächsten Zeugenvernehmung des Marcel T. bestand die Verteidigung darauf, Einsicht in das Video einer Überwachungskamera des Kiosks am Bahnhof Wurzen zu bekommen. Dieses war bisher nicht in den Aktenteilen der Verteidigung zu finden gewesen. Daraufhin wurde die Öffentlichkeit aus dem Saal gebeten, damit die Verteidigung über die Saalbildschirme das Video sichten konnte.

Um 11.19 Uhr begann die Vernehmung von Marcel T.. Dieser war am Abend des 15. Februar 2020 mit dem Regionalexpress gefahren, wie auch die Gruppe Nazis um Zahner und Leder. Der Zeuge sei in Oschatz oder Dahlem zugestiegen und anscheinend vor der Nazigruppe am Bahnhof in Wurzen ausgestiegen. Der Zeuge sei am Bahnhofsgebäude entlang und am Bahnhofskiosk vorbei gegangen. Dort habe er eine Gruppe von 10-15 Vermummten bemerkt, sei aber weiter an diesen vorbeigelaufen. Zunächst habe er sich nichts gedacht, sei dann aber auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof stehen geblieben, um zu schauen, was passieren würde. Von dort aus habe der Zeuge den Angriff der vermummt und schwarz gekleideten Gruppe auf die von ihm als Nazis identifizierten Personen beobachten können. Auch nach mehreren Vorhaltungen seiner polizeilichen Aussage vom 16.02.2020 konnte Marcel T. sich nicht mehr an zwei Personen erinnern, die sich auf der anderen Seite des Bahnhofs in der Nähe von Containern aufgehalten, von dort aus den Laufweg der Nazigruppe beobachtet und dann den Befehl „Los!“ gegeben hätten. Auch erinnerte sich T. nicht mehr daran, ob die Gruppe sich gezielt platziert hätte, um die Nazis aus dem Hinterhalt anzugreifen. Im Folgenden wurde erörtert, ob der am Kopf blutende Mann, welchem der Zeuge nach dem Angriff half und Wasser anbot, derjenige war, der im Zug und beim Aussteigen eine schwarz-weiß-rote Fahne mit sich getragen hatte. Dies konnte durch den Zeugen nicht geklärt werden. Er erinnerte sich noch, beobachtet zu haben, wie die Gruppe vermummter Personen sich durch die Unterführung entfernte. Auf Nachfrage und nach Vorhalt durch Richter Schlüter-Staats meinte er, noch ein Motorengeräusch vom Parkplatz auf der anderen Seite der Unterführung gehört zu haben und spekulierte, dass dieses eventuell zu einem mit Diesel betriebenen Transporter gehört habe, mit dem die Gruppe abgefahren sein könnte. Gesehen habe er dies jedoch nicht. Abschließend lobte der vorsitzende Richter noch die Zivilcourage des Zeugen, die dieser an dem betreffenden Tag gezeigt habe. Es folgte eine halbstündige Pause bis 12.40 Uhr.

Nach ein paar weiteren kurzen Fragen durch die Verteidigung, fasste Schlüter-Staats im Abgleich mit dem Protokoll der polizeilichen Vernehmung zusammen, was der Zeuge heute nicht mehr erinnerte: Die Anwesenheit von zwei ebenfalls vermummten und schwarz gekleidete Personen an den Containern welche den Angiff koordiniert hätten, die Frage danach, ob die angreifende Gruppe Gegenstände wie Bierflaschen und Teleskopschlagstöcke mit sich führten, wie genau sich die angreifende Gruppe am Bahnhof bewegte und ob es noch weitere Rufe aus der Gruppe gegeben hat. Im Anschluss an die Vernehmung wurden diesbezügliche Aussagen aus der polizeilichen Vernehmung ins Protokoll aufgenommen.

Die Verhandlung endete um 13.00 Uhr.

Einen dann doch noch unerwartet verspäteten Abschluss des Tages verursachte der vorsitzenden Richter selbst: Dieser hatte bereits am Vortag für heute einen verkürzten Prozesstag angekündigt. Grund sei eine anderweitige „dienstliche Veranstaltung“, durch die die Justizbeamt:innen des Gerichts verhindert seien. Nur die Beamt:innen, die Lina im Gefangenentransport zurück in die JVA Chemnitz fahren sollten, hatte er hierüber allerdings nicht informiert. So warteten die Unterstützer:innen vor Ort, bis die Wannen aus Chemnitz eingetrudelt waren, um wie nach jedem Prozesstag die abfahrende Lina zu verabschieden.

Der nächste Verhandlungtermin findet am Mittwoch, den 15.12.2021 statt.

gefunden am 15. 12. 2021 auf https://www.soli-antifa-ost.org/bericht-vom-18-prozesstag-9-12-2021/