The Long Goodbye

Vor einem Jahr ist mein Freund und Genosse Achim Szepanski gestorben. Ich habe anlässlich seines Todestages drei Briefe an ihn geschrieben, die nun zusammengefasst folgen.

Brief No 1

Vielleicht lassen Sie meine Gedanken doch besser meine eigene Sache sein, Mr. Potter. Sie sind nicht sonderlich wichtig, natürlich nicht, aber sie sind alles, was ich habe.

Der lange Abschied, Raymond Chandler

Es ist nun fast ein Jahr her, mein lieber Achim, dass Du uns zurückgelassen hast. Zurückgelassen. Denn all unsere Trauer gilt doch immer auch und vielleicht vor allem uns selber, dem was wir verloren haben, jenem Teil von uns, den wir nicht mehr unser eigen nennen. Ich habe Dir schon direkt nach deinem Tod geschrieben, wie unersetzlich Du bist, wie groß und schmerzhaft die Lücke ist, die deine Abwesenheit in unser Leben webt. Nun also dachte ich, dass ich Dir schreibe und berichte was passiert ist in diesem Jahr, all die Niederlagen und Irrwege, das wenige Licht im Kerker des “Kapitalismus im Zeitalter der Katastrophe” wie Du ihn so treffend benannt hast. Und da einem immer so viel einfällt, nachdem man einen Brief geschrieben und versandt hat, dachte ich, ich schreibe Dir in mehreren Akten. Nicht, dass deshalb alles nur annähernd gesagt wäre, aber immerhin hoffe ich so zumindest ein paar Gedanken zu Ende zu bringen.

Zuallererst will ich Dir von der Gedenkveranstaltung im November letzten Jahres berichten, die wir hier in Berlin organisiert haben. Dellwo war da – und Lain, und Clover hat uns eine Videobotschaft geschickt, kluge, poetische Worte, die Dir bestimmt gefallen hätten. Dellwo und Lain haben lange und klug geredet, bei Lain habe ich die Hälfte nicht verstanden, und da hatte ich ein Déjà-vu, das zum Abend passte, weil ich ja bei Dir auch meistens nur die Hälfte verstanden habe. Ich habe mal wieder den Pausenclown als Moderator gegeben, bei so viel klugen Leuten ist man da auf der sicheren Seite. Anschließend wurde noch deine Musik aufgelegt und ziemlich viel getrunken. Also ein Abend, der zu Dir gepasst hat. In all dem Schmerz war da auch so viel Kluges und Schönes, und all das wäre ohne dich nicht zustande gekommen.

Clover ist dann im April dieses Jahres genauso überraschend wie Du gestorben. Sie haben seinen Namen an den Mauern von Los Angeles während der Riots gegen Trumps Offensive gegen die migrantische Community hinterlassen, aber dazu komme ich noch. Ich habe in den letzten Jahren so viele Nachrufe übersetzt, Negri, Tronti, Quadrelli, so viele Lücken, die nicht zu schließen sind… weißt Du eigentlich, dass Du der Einzige und Letzte warst, der aus diesem Land überhaupt international wahrgenommen wurde, der etwas zu sagen hatte, das einzigartig und wertvoll für all Jene war, die in den letzten 10, 15 Jahren nach einer grundsätzlichen aufständischen Perspektive suchen? Jetzt ist hier nur noch Wüste, eine intellektuelle Provinz, selbst ChatGPT dürfte an der Schlichtheit der Texte aus dem deutschsprachigen Raum verzweifeln und sein Mitwirken verweigern, sofern diese mittlerweile nicht eh von einem KIK-Klon für (geistig) Arme geschrieben werden. (Es gibt wie immer einige wenige Ausnahmen, aber dafür reichen die Finger einer Hand). Also lese ich eigentlich nur noch Texte aus den anderen Teilen dieser Welt, ich meine Deutschland ist seit 3 Jahren Teil des gar nicht mehr so indirekten Krieges mit Russland und es gibt einfach keine Analyse dazu auf der Höhe der Zeit, man muss schon bei italienischen Genossen nachschauen, um was gescheites zu finden.
Da wir gerade bei den italienischen Genossen sind, gestern habe ich ein Text von dort über die Akkumulationskrise und die Tendenz zum Krieg und die Zusammenhänge übersetzt und der hätte dir sicherlich gefallen und deshalb habe ich ihn auf deinen Blog gepackt, um den sich Genossen kümmern. Sie haben ihn ein bisschen umgestaltet, um deine politischen und musikalischen Geschichten zusammenzufassen, aber ich bin mir sicher, das neue Outfit würde Dir gefallen. Und ab und zu posten ein paar Leute neue Geschichten, von denen wir denken, dass sie dir gefallen würden und auf deinen Blog passen.

Aber kommen wir zu den Niederlagen, Irrtümern und wenigen Lichtblicken, wie angekündigt. Denn Du willst ja auf dem Laufenden bleiben, auch wenn ich keine Ahnung habe, wo Du gerade bist, und ob es sowas wie einen Ort überhaupt gibt, an dem Du sein könntest. Aber Du hast mich ja schon lange durchschaut, wie meistens schreibe ich vor allem für mich selber, aber wer macht das nicht… Der Herbst war unendlich traurig und das nicht nur wegen deinem Tod. Nach all den vollen, prallen, teilweise ekstatischen Jahren der Riots, Revolten, Aufstände und unvollendeten Revolutionen, die über den Globus in einer Geschwindigkeit rasten, das einem ganz schwindlig wurde, all den klugen, mitreißenden Texten und Analysen, die dazu verfasst wurden, implodierte nach der heißen Sommerglut, die sich durch Frankreich nach dem Mord an Nahel fraß, alles so urplötzlich das ich immer noch fassungslos davor stehe. Das Schlimmste aber ist, dass sich ein Schweigen über diesen Stillstand gelegt hat, niemand diese plötzliche Agonie thematisiert und versucht, eine Antwort oder zumindest eine Erklärung dafür zu finden. Und wie gerne würde ich mich darüber mit dir austauschen, denn das haben wir ja beide ja all die letzten Jahre getan, uns ständig geschrieben dazu was los ist oder auch nicht, wie wir das sehen und einschätzen, fragmentarisch und unvollständig, sicherlich, aber nun ist das nicht mehr möglich und ich realisiere erst jetzt wirklich, wie wichtig und wertvoll mir das war. Und was mir auch fehlt, ist deine Weigerung, sich dem allgemeinen Determinismus zu unterwerfen, diesem Hang zur selbstzerfleischenen Ohnmachtshaltung, deine Weigerung, sich keinen revolutionären Horizont vorzustellen. Die meisten haben Dich bestimmt für einen geschichtlich depressiven Intellektuellen im Elfenbeinturm gehalten, aber Du hast den Sound der Straße und den ganz eigenen Geruch der Eckpinte geliebt, da wo das Leben dreckig und oftmals auch elendig ist, aber auch immer voller Träume und Sehnsüchte, und seien sie im Rausch. Deshalb das Glühen für die Gilets Jaunes und die Rache des Surplus Proletariats an Silvester in Berlin. Deshalb hast du dafür gesorgt, dass Clovers Riot.Strike.Riot auf deutsch erschien, um diese Leidenschaft analytisch zu untermauern, sich die theoretischen Waffen anzueignen, um auf der Höhe der Zeit eine revolutionäre Theorie zu entwickeln. Ich habe dein „Ekstase der Spekulation” viele mal angefangen und bin immer wieder gescheitert. (was nun wirklich ausschließlich an mir liegt). Aber was man wirklich verstehen muss, ist, dass das nicht nicht die Ergüsse irgendeines Intellektuellen sind, der sicher versorgt an der Uni langweilige Vorträge hält und nebenbei überflüssige Schriften verfasst, sondern die leidenschaftlichen Überlegungen eines Menschen, der nun mal das tat, was er am besten konnte und sich dabei treu blieb und sich immer weigerte, sich in irgendeiner Art und Weise zu arrangieren. Deshalb all dein Schmerz und deine Einsamkeit, denn wer konnte schon auf deinem Niveau mit dir mithalten. Manche Begabungen machen uns ganz schön einsam.

Aber ich wollte Dir ja noch mehr von dem berichten, was seit deinem Tod alles passiert ist, aber damit werde ich im nächsten Brief fortfahren, denn nun muss ich über Dinge nachdenken, die mir gerade beim Schreiben eingefallen sind und dazu werde ich einen auf dich trinken gehen, mein Freund.

Bis bald,

dein Thomas

Brief No 2

„Also muss man dahin gehen, wohin sie einem nicht folgen können.“

Raymond Chandler

Mein lieber Achim, nun also, wie angekündigt, mein zweiter Brief an Dich – ein Jahr nachdem Du uns verlassen hast. Es war ein schlechtes Jahr, denn nicht nur der Herbst war bitter, wie ich Dir schon im ersten Brief geschrieben habe, auch der Winter war lang und grau, und selbst das migrantische Surplus Proletariat ließ zu Silvester in Berlin nur die Sektkorken knallen. Der Frühling war ein gebrochenes Versprechen auf bessere Zeiten und nun, da sich der verregnete Sommer dem Ende zuneigt, haben wir ein ganzes Jahr verloren, ohne dass wir einen Schritt weiter wären. Ich hatte gehofft, Dir heute ein paar aufmunternde Zeilen schreiben zu können, denn für den 10.September hatten sie in Frankreich für ein “Alles blockieren” getrommelt, und es gab einen riesigen Hype, nicht nur auf den einschlägigen Seiten in Frankreich, sogar in der intellektuellen Grundversorgung der anspruchslosen deutschen Denker und Dichter, dem Deutschlandfunk, war das ganze Thema. Aber da sich dem diffusen Aufruf in den sozialen Netzwerken schnell die üblichen Verdächtigen angeschlossen hatten, von “Les Soulèvements de la Terre” bis hin zu “La France insoumise” und in den Versammlungen schnell die Milieus das große Wort führten, hatte ich irgendwie schon befürchtet, dass die ganze Nummer eine Sackgasse sein würde. Und so kam es dann auch. Einige hübsch anzuschauende Materialblockaden am frühen Morgen auf einigen wichtigen Straßen, danach folgten dann aber nur die gleichen Aufmärsche, wie sie die Gewerkschaften seit Jahrzehnten veranstalten. Ein bißchen Tränengasfolklore, jede Menge Prügel durch die Bullen und natürlich kein “unreiner Aufstand”, sondern allerorten “Siamo Tutti Antifascisti” und viel Ohnmacht und Perspektivlosigkeit. Ob es nun eine viertel oder ein halbe Million auf den Straßen waren, spielt da keine Rolle, der “Sieg” der “Volksfront” gegen Le Pen bei den Wahlen, die Mobilisierung gegen das “große Übel”, hat den Diskurs dort auf das Niveau runter gebrochen, wo wir in Deutschland mit “Wir sind mehr” schon länger sind. Also keine Gilets Jaunes 2.0 wie es viele schon herbeischrieben. Keine Bullen, die durch die Straßen gejagt wurden, keine geplünderten Luxusläden, keine maßlose Wut, keine Raserei, kein Excess. Und seitdem Schweigen.

Das Schweigen. Das gleiche Schweigen, das sich überall ausbreitet. Kein Schweigen, das Stille bedeutet, Einkehr und Reflexion, sich sammeln und fokussieren, sondern ein riesiges Vakuum, das alles aufsaugt und über das niemand redet. Denn wenn geredet wird, so über alles außer das Eigentliche. Das war etwas, was ich auch an Dir so geschätzt habe, dass Du immer um Wörter, um eine Begrifflichkeit gerungen hast, selbst in den dunkelsten Stunden unseres politischen Seins. Gegen die Mauer andenken, das Aussprechen, was notwendig ist, scheiß drauf was andere davon halten. Ich glaube, eine neue Generation (im Westen) ist mittlerweile zu großen Teilen so sehr in ihren selbstreferentiellen Gedankengebäuden, Codes und Blasen gefangen, dass sie sich kein Jenseits davon überhaupt vorstellen können. Sofern sie sich nicht eh schon in ihrer ewigen Opferrolle und Ohnmacht eingerichtet haben, ich meine in Deutschland veranstalten die Zero Covid Apologeten bezeichnenderweise “Klima-Kollaps-Camps”, in denen die Kleinbürger sich fest an den Händen halten und vor lauter Empowerment tränenreich ihre Neurosen pflegen. Eine Welt, die als verloren proklamiert wird und nicht als eine Welt, die es zu gewinnen gilt. Wo soll der revolutionäre Horizont auch herkommen, wenn jegliches geschichtliches Erbe des historischen Materialismus entsorgt wird, oder als Pappmache Replikat der neuen K-Gruppen daherkommt. Und wieder dieses Schweigen, über diese Zumutung, über die objektiv konterrevolutionäre Funktion dieser Seelensammler, von den Resten der sich selbst überlebten IL und Ums Ganze über die Letzte Generation bis hin zu dieser Klima-Kollaps-Bewegung, die nun, nebenbei, alles, nur keine Bewegung ist.

In Nepal haben sie bei den jüngsten Protesten der Generation Z (auch so eine Endzeit-Metapher) einfach mal reingehalten und zwei Dutzend Menschen abgeknallt. Am nächsten Tag haben im ganzen Land die Villen der politischen Elite gebrannt, der Sitz des PM gleich mit. Aberdutzende von Bullen wurden gefangengenommen, ihre Wachen zerstört, politische Führer wurden durch die Straßen gejagt, ein paar konnten sich noch per Hubschrauber von den Dächern ihrer belagerten Gebäude evakuieren lassen. Saigon Vibes. Die unmittelbare Reaktion, es brauchte keine Aufrufe, kein Programm, nur die Wahl – Es geschehen zu lassen – Oder zurückzuschlagen. Der Sommer in Frankreich nach dem Mord an Nahel, die Parallelen sind so offentsichtlich. “Die historische Partei agiert selbst auf einer Ebene, die am besten als Unterbewusstsein der Klasse beschrieben werden kann“ schrieb jüngst Phil A. Neel in “Theorie der Partei”. (1) Ein Text, den hierzulande bezeichnenderweise fast niemand wahrnehmen wird, geschweige denn sich darauf beziehen. Ich hätte ihn gerne mit Dir diskutiert. “Die Enteignung, die der Existenz des Proletariats zugrunde liegt und sich in den alltäglichen Existenzkämpfen zeigt, sowie die Möglichkeit der proletarischen Macht, die sich in den politischen Exzessen des ‘Ereignisses’ manifestiert, verbinden sich zu einem potenziellen, virtuellen oder spektralen Bild des Kommunismus, das aufgrund einer Kombination aus Umständen und Temperament für bestimmte Beteiligte sichtbar ist, für andere jedoch nicht.”… “Aus dem gleichen Grund öffnen Ereignisse direkt eine bestimmte Dimension des Absoluten und verbinden Aufstände aus sehr unterschiedlichen Zeiten und Orten zu derselben Ewigkeit, die selbst eine Reflexion der potenziellen kommunistischen Zukunft in der Gegenwart ist.” (ebd.) Wir hätten die Folien übereinander legen können, Neel, Clover, Quadrelli, die ersten Umrisse einer revolutionären Theorie auf der Höhe der Zeit und auf der Grundlage der realen Klassenkämpfe. Vielleicht ein paar Veranstaltungen dazu organisiert. Aber Du bist nicht mehr da. Trauer ist ein komplexer Prozess, so heißt es. Und da wir beide immer getrieben das Leben verstehen mußten (und weiter müssen, in meinem Fall), sei es im Getümmel der Straßenschlacht oder bei der letzten Runde im Eck, schreibe ich auch, um zu verstehen, was ich damit anfangen soll, dass Du nicht mehr da bist. Dass Du ein Stück meiner (uneingestandenen) Hoffnungen und Sehnsüchte mit Dir genommen hast. Dass das alles so endlich ist. Dass dein Tod eine Mauer ist, gegen die ich nicht andenken kann. Kurz gesagt, ich vermisse Dich wie Hölle. Vielleicht besuchst Du mich ja mal in meinen Träumen und hilfst mir diese ganzen Fragmente, die durch meinen Kopf geistern, zu ordnen. Denn Du warst von uns beiden eindeutig der besser Organisierte, was das Denken und Verstehen angeht.

Ich lasse wieder von mir hören,

dein Thomas

Brief No 3

Nichts ist widerlicher, als wenn das Pech in Strähnen kommt

Der lange Abschied, Raymond Chandler

Nun also ein Jahr ohne Dich. Einsam bist Du gestorben, man sagt, wir alle sterben alleine, aber ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Wahrscheinlich hat es einen Trost, wenn jemand unsere Hand hält, wenn wir diese unbekannte Reiseroute in Angriff nehmen. Vielleicht spielt es auch nicht wirklich eine Rolle bei all dem Gewitter an Botenstoffen, die unser Gehirn fluten. Ich hätte es Dir auf jeden Fall gewünscht, dass jemand bei Dir gewesen wäre, auch wenn ich nicht weiß, ob das Deine Wahl gewesen wäre. Ich habe nochmal in unserem Chat geschaut, unser letzter Austausch handelte von der Veranstaltung zur Geschichte des bewaffneten Kampfes in Kreuzberg, bei der Dellwo auch war und Dir wohl hinterher davon erzählt hat. Dann habe ich wochenlang nichts von Dir gehört, was ungewöhnlich war, dann mein letzter Anruf, der Dich nicht erreicht hat. Worüber hätten wir geredet? Keine Ahnung, unsere Kommunikation war immer sehr sprunghaft, das hatte wohl mit uns beiden zu tun. Nun müssen meine einsam zu Papier gebrachten Worte unseren Austausch ersetzen, und das ist nicht annähernd das Gleiche. Häufig ist alleine die Möglichkeit des Austausches das Entscheidende und gar nicht die gewechselten Wörter, die Reflexion, die Spiegelung des Gedachten durch einen Freund, einen Genossen, allein die Vorstellung davon, verleiht unseren Worten erst jene Schärfe, der jegliche revolutionäre Syntax bedarf.

“muss man das noch auswalzen? dass die isolation das politische kernproblem der revolutionären linken ist, überall, auf allen ebenen, in jedem einzelnen, im ganzen und allgemeinen.” Gudrun Ensslin, Kassiber Juni 1973

Schon irre, obwohl sich diese politische und menschliche Nähe zu den ‘brothers and sisters in arms’ durch unser beider Leben zieht, gezogen hat, haben wir ausgerechnet darüber fast nie geredet. Vielleicht weil es für uns beide eine Selbstverständlichkeit war, auch wenn wir andere politische Wege gegangen sind…

Nun, um den Faden der beiden letzten Briefe an Dich aufzugreifen, ich wollte Dir ja berichten, was in dem Jahr so passiert ist, seitdem Du nicht mehr bei uns bist. Daniela hält sich tapfer in dem Mammutprozess gegen sie, auch wenn die anfängliche Unterstützung fast gänzlich eingeschlafen ist. Klar schmücken sich die trotzkistischen Hobby-Revolutionäre des 1. Mai in Berlin mit dem Glanz eines verlesenen Grußwortes von ihr, aber ganz praktisch sieht es sehr mau aus. Ein kleiner Kreis, der regelmäßig Infos streut, ab und zu eine eher überschaubare Veranstaltung, zu der breit beworbenen Demo im Februar in Berlin sind gerade mal 200 Leute gekommen, die dann als Gefangenentransport mit gesenkten Kopf durch die Straßen zogen. Burkhard Garweg hat dann im März eine Reflexion von 70 Seiten zur Geschichte der drei Buchstaben veröffentlicht, aber vom medialen Reflux in den bürgerlichen Medien abgesehen kamen nur einige ganz wenige Stellungnahmen von Genoss*innen dazu. Auch da wieder das Schweigen, dieses verfluchte Schweigen, das so laut in den Ohren nachhallt, dass man direkt einen Tinnitus davon bekommt. Ich frage mich, wie die Leute alle so mit diesem Piepen im Ohr klar kommen, aber wahrscheinlich ballern sich die meisten mit allem möglichen Schrott von Tinder bis TikTok zu, damit sie sich mit diesem Schweigen nicht auseinandersetzen müssen. Meine Briefe an Dich, die ja öffentliche Briefe sind, sind vielleicht auch mein Versuch, mit diesem Schweigen umzugehen, es zur Sprache zu bringen, wer will kann dann ja mal darüber nachdenken, obwohl ich da seit der freiwilligen Unterwerfung der ganzen linken, anarchistischen und sonstwas Blase unter den Corona Ausnahmezustand hierzulande eigentlich nichts erwarte. Es waren wenige, die sich in offener Feindschaft dazu positionierten, und ich weiß, auch du musstest viel an Zumutungen und mit Dreck beworfen werden aushalten in dieser Zeit. Schon irre, dass die alle einfach so weitermachen, als wenn es das alles gar nicht gegeben hätte. Na ja, etwas ist ja dran am spezifisch deutschen, und diesem Hang zur grenzenlosen Generalamnesie.

Doch kommen wir zu erfreulicheren Dingen. Ich hatte Dir ja im letzten Brief von der Tristesse des antagonistischen Lagers in den Metropolen geschrieben, aber man muss das schon differenzieren, es ist vor allem eine Tristesse die sich in den Wohlstandsinseln breit gemacht hat, wenn man von dem wunderbaren Feuer des Aufruhrs in Los Angeles gegen die Razzien von ICE gegen die Latino Community im Juni absieht. Aber diese Revolte ging eben von der Community selbst aus, die brauchten nicht dieses ganze ‘Lass-uns-vernetzen-und organisieren’ Gehabe der Linken und Anarchisten. Die waren einfach schon vernetzt und organisiert. Durch ihren sozialen Alltag und ihre sozialen Beziehungen. Jede Bewegung des Gegners wurde in Echtzeit in den Chats bei Whatsapp und Co geteilt, die Bullen wurden sofort und unmittelbar angegangen, um ihre rassistische Praxis zu verunmöglichen, häufig mussten sie sich dann in einem Hagel von Wurfgeschossen zurückziehen. Als die Linken und Anarchisten dann draufsattelten und einen ‘langen, heißen Sommer’ proklamierten (das wievielte, gebrochene ‘große Versprechen’?) war der Drops eigentlich schon gelutscht. Die alte Geschichte, wirkliche Bündnisse entstehen unmittelbar aus einer geteilten sozialen/militanten Realität und nicht durch Proklamation.

Doch verlassen wir die Tristesse der Metropole. Kommen wir zu den sozialen Explosionen der Peripherie, einem realen ‘heißen Sommer’. Schwerste Unruhen in Indonesien, nachdem die Bullen einen Lieferkurier während einer Demonstration mit einem gepanzerten Wagen tot gefahren hatten. Hunderttausende auf den Straßen, Bullenwachen und die Villen der politischen Elite brennen. Nur eine Woche später explodiert die Situation in Nepal, nach einem Massaker durch Schusswaffeneinsatz der Bullen bei einer Demo werden auch hier die Bullenreviere und Villen der politisch Verantwortlichen geplündert und niedergebrannt, ebenso der Präsidentenpalast. Die nihilistischen Aufstände des 21. Jahrhunderts verweigern sich der Versuchung, Machtzentren zu erstürmen, um diese zu übernehmen, die grundsätzliche Negierung der Repräsentanz lässt nur das Feuer als Perspektive gelten. Wieder eine Woche später: In Ecuador finden landesweiten Blockaden und Demonstrationen statt, es kommt zu massiven Auseinandersetzungen mit den Bullen. Auslöser ist die Abschaffung der Subventionierung von Diesel, was massive Preiserhöhungen für Güter des täglichen Lebens bedeutet. Heute wurde ein sechzigtägiger (!) Ausnahmezustand für acht Provinzen, darunter die Hauptstadtprovinz, verhängt, um die Revolte einzudämmen. Auf dem Malaiischen Archipel springt Mitte September der Funke auf Osttimor über. Dreitägige Proteste und Unruhen, nachdem sich die Parlamentarier neue Dienstwagen und höhere Pensionen gegönnt hatten. Mehr als die Hälfte der Menschen leben in bitterster Armut, jeder zweite hat nicht einmal Zugang zu Elektrizität.

Du siehst – mein alter marxistischer Freund: “Brav gewühlt, alter Maulwurf”. Kommen wir an dieser Stelle und am wohl letzten Sommerabend hier in dieser Stadt also zum Epilog meiner Briefe an Dich.

Vielleicht könnte man die derzeitige weltweite Situation mit Lin Piao begreifen: „Sich auf die Bauern verlassen, Stützpunkte auf dem Lande errichten, die Städte durch die Dörfer einkreisen und schließlich die Städte erobern: das war der Weg zum Sieg, den die chinesische Revolution einschlug.“ Ohne den Maoismus wieder aufleben zu lassen (das tun tatsächlich schon andere, sic) sehe ich eine gewisse geschichtliche Analogie. Während sich in den Metropolen die kapitalistische Krise in der allgemeinen Tendenz zum Krieg und in der faschistischen Option ausdrückt, die Klasse gefangen zwischen Unorganisiertheit und Abwehrkämpfen – und – zunehmend gespalten in Zuge der allgemeinen identitären Polarisierungen, ist, werden Revolten fast ausschließlich von rassistisch ausgegrenzten prekarisierten Minderheiten getragen, was ihre Begrenzungen implementiert – während sich in der Peripherie die Tendenz des Non verstetigt. “Ein wütender Aufstand von Jugendlichen, ausgelöst durch steigende Steuern und ein repressives Militär. Es gibt keine Organisation. Die Anführer der Revolte sind junge Anarchisten, Nihilisten und unkontrollierbare Kräfte.” – So schreiben Gefährten aus Indonesien. Es gibt nur noch Revolution und Konterrevolution, diese kann ebenso als wirtschafts-libertäre Kraft wie in Argentinien oder als reformistisches Projekt wie in Chile auftreten. Im Kern aber können beide Optionen kein langfristiges Projekt zur Befriedung der explodierenden sozialen Widersprüche anbieten. Die Unterdrückten in der Peripherie haben die Aufstände und Niederlagen der letzten 10,15 Jahre sehr genau verstanden, das macht jede Option jenseits des revolutionären Horizonts obsolet. Was als Option bleibt, ist das Militär auf den Straßen, wie jetzt auch in Indonesien und Nepal. Aber das bürgt als Herrschaftsmittel enorme Risiken, in der revolutionären Zuspitzung neigen Truppenteile historisch gesehen zur Fraternisierung mit den Aufständischen, insofern sind die wirklichen Begrenzungen der Aufstände in der Peripherie die Landesgrenzen, die nationalen Begrenzungen. Wenn es gelingt, die Aufstände in wirkliche regionale Bewegungen zu überführen, wird das nächste geschichtliche Kapitel aufgeschlagen, und die “Dörfer fangen an, die Städte einzukreisen”. Von da aus gilt es dann weiter zu denken und zu schauen. Was das für uns hier heißt, wie der revolutionäre Horizont in der Metropole wieder aufgezeichnet werden kann. Gegen den allgemeinen Defätismus, gegen die selbstverordnete Ohnmacht und Machtlosigkeit. Geschichte ist immer ein offener Prozess, selbst im Endgame des Kapitalismus, wem sage ich das, mein Lieber…

So weit für heute mein lieber Achim. Danke im Voraus für deine Geduld für meine mäandernden fragmentarischen Überlegungen. Es gäbe so vieles, was ich Dich gerne fragen würde, wo ich deinen Rat bräuchte, aber nun muss ich schauen, wie ich ohne Dich weiter komme mit unserem nächsten Sturm auf den Himmel. Ich schreibe Dir in einem Jahr wieder, so die Umstände es gestatten.

Dein Thomas

Anmerkung (1)

Theorie der Partei, ursprünglich im englischen Original auf Ill Will Edition:
https://illwill.com/theory-of-the-party

deutsch auf Bonustracks: https://bonustracks2.noblogs.org/post/2025/09/07/theorie-der-partei/