Exotische Materie – Vom sozialen zum politischen Antagonismus [Part I]

“Dabei ist davon auszugehen, dass die transnationalen Konzerne in Konkurrenz zueinander stehen, aber es eben auch Überschneidungen ihrer Strategien gibt, insofern sie kein Interesse an Staaten haben, die ihnen den Zugang zu ihren Märkten erschweren oder gar verwehren.”
Achim Szepanski: Die Ekstase der Spekulation
Friss oder stirb (selbst)
Nur kurze Zeit nachdem Trump die neuen Strafzölle für Importe verkündet hatte, deren Effekte für die US Wirtschaft den New Deal in den Schatten in den Schatten stellen sollen, brach an den US Börsen die Hölle aus. Beim S&P 500 Index, der die 500 wichtigsten börsennotierten US Unternehmen zusammenfasst, brachen in der Nacht zu Freitag die Kurse auf breiter Front ein und es kam zu Verlusten in Höhe von 2,8 Billionen Dollar. Die berühmten 1% traf es besonders hart, die 500 reichsten Menschen der Welt verloren an einem einzigen Tag über 200 Milliarden Dollar. Ironischerweise gehörten die Tech-Milliardäre Zuckerberg, Bezos und Musk zu den ganz großen Verlierern, allein Zuckerberg, der sich ebenso wie die anderen “jungen Wilden” zur Amtseinführung von Trump eingefunden hatte, verlor an seinem persönlichen “schwarzen Freitag” an die 18 Milliarden Dollar an Vermögenswerten. Die gesamte US Technologiebranche, die eigentlich der Motor zur Bewältigung der Kapitalverwertungskrise sein sollte und deren Kurse in den letzten Jahren durch die Erwartungen an die “KI-Revolution” unglaublich gehypt worden waren, hatte schon jüngst den Einbruch der Kurse durch die Präsentation des chinesischen Mosquito DeepSeek wegstecken müssen. Daniel Ives, Managing Director und Senior Equity Research Analyst für den Technologiesektor bei Wedbush Securities, einer der gefragtesten strategischen Analystengrößen sprach angesichts von Trumps Ankündigungen von Strafzöllen von einem “drohenden ökonomischen Armageddon”. Auch in Europa kam es als Reaktion auf den von Trump erklärten “Handelskrieg” (sowie der Reaktion der chinesischen Regierung, mit gleicher Münze heimzuzahlen) zu massiven Kurseinbrüchen an den wichtigsten Börsenplätzen. Der Dax gab um die 5% nach, auf gleicher Höhe bewegten sich die Kurseinbrüche des Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50. In der Wochenbilanz gaben die Dax Werte um 8% nach, der größte Absturz seit dem Beginn des Ukraine-Krieges.
Wie schon in der Frage des Ukraine-Krieges geht Trump erneut All in. Und erneut verbindet er seine Drohungen mit der Aufforderung, sich mit ihm an den Verhandlungstisch zu setzen, um neue Modalitäten mit ihm auszuhandeln (Die Strafzölle für mexikanische und kanadische Produkte hatte er wieder “ausgesetzt”, nachdem ihm die Regierungen der beiden Länder in den Fragen der “Grenzsicherung” und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit entgegen gekommen waren.). Doch diesmal könnte er sich verspekuliert haben. Nicht nur, dass ihm die treue Gefolgschaft der Technologiebranche entfolgen könnte, auch die Big Player der weltweit agierenden Investmentfonds von BlackRock und Co werden eine dauerhafte Vernichtung ihrer Vermögenswerte nicht tatenlos hinnehmen und Trump zu einer Kurskorrektur zwingen, bzw. verstärkt in den westeuropäischen Markt investieren, auf dem sie stabilere und berechenbarere Rahmenbedingungen vorfinden. Wie schon in “Wurmlöcher des Antagonismus” ausgeführt, wird Trumps Strategie die geopolitische, wirtschaftliche und militärische Ordnung grundlegend umgestalten, insofern vollzieht der neue Kurs der US Regierung nur die überfällige Korrektur, die aus der Verwertungskrise und dem Konflikt um die Hegemonie mit China folgt, ob diese Korrekturmaßnahmen allerdings von Erfolg gekrönt sein werden, oder die Figuren auf dem Schachbrett ganz anders und entgegen der Vorstellungen von Trump neu aufgestellt werden, steht auf einem anderen Blatt. Trump wird also entweder seine Anpassungsfähigkeit an die Gesetze des Marktes auch in der Rolle des politischen Leaders beweisen müssen (was ihm in seiner ersten Amtsperiode mit wesentlich bescheideneren Ambitionen gelungen ist) oder er wird nur eine Randnotiz der Geschichte bleiben, gezügelt und gekränkt kastriert von den Gesetzen des Marktes. So oder so, die Tendenz zum Krieg, der Übergang vom „permanenten Ausnahmezustand” zum “permanenten (latenten) Kriegszustand” ist in die Gesetzmäßigkeiten der Verwertungskrise des Kapitals eingeschrieben und nicht das Ergebnis der Boshaftigkeit “alter, weißer Männer”. Jegliche gesellschaftliche antagonistische Option sollte sich auf das dringlichste von solchen moralisierenden Weltbildern verabschieden und sich auf der Grundlage einer materialistischen Analyse konstituieren.
Der Hunger der Massen nach Politik
Vor gut 20 Jahren haben neuseeländische Wissenschaftler die (bisher nicht bezweifelte These) aufgestellt, dass “exotische Materie” in der Lage ist, stabile Wurmlöcher im Universum zu kreieren. Das Problem besteht aber darin, dass diese exotische Materie im Gegensatz zu “normaler Materie” nicht aus Atomen besteht, nicht künstlich erzeugt werden kann und die durch die “exotische Materie” erzeugten Wurmlöcher schon durch ein einzelnes Atom zum Einsturz gebracht werden können, wie Hawking herausgearbeitet hat. Ein weiterer Grund, “Zeitreisen” von Objekten nach dem derzeitigen Kenntnisstand auszuschließen…
Um an die Ausführungen von ‘Wurmlöcher des Antagonismus’ anzuschließen, geht es in der derzeitigen historischen Zuspitzung nicht nur um die Rückbesinnung auf eine materialistische Gesellschaftsanalyse und den notwendigen radikalen Bruch mit allen Linien der (linken) Identitätspolitik sondern auch um den Bruch mit der defätistischen apokalyptischen Erzählung, die keine Handlungsspielräume ermöglicht und sich völlig losgelöst von dem konkreten Niveau des Klassenantagonismus im diskursiven Raum bewegt. Geht es darum, sich den neuen Blick auf die Welt, den sich die Aufständischen und Rebellen in den letzten 15 Jahren erkämpft haben, nicht wieder durch die immer auf Partizipation ausgerichtete Erzählung der ‘historischen Linken’ verstellen zu lassen. Das ganze Gerede vom “faschistischen Monster”, gegen das es scheinbar kein Gegengewicht gibt als vage Hoffnungen (und Bündnisse mit der ‚gesellschaftlichen Mitte’) verneint diese Erfahrungen der letzten 15 Jahre, versucht sie auszulöschen. Nicht, dass es die Faschisierungstendenzen nicht geben würde, aber es gilt diese einzuordnen im Kontext von Markt und Klassengegensatz. Die vorherrschende Erzählung vom “Kampf gegen den Faschismus” produziert nicht nur (bürgerliche) Bündnispolitik, sondern erschafft zugleich eine Handlungsunfähigkeit eines ‘realen Antifaschismus’, der sich immer im grundsätzlichen Antagonismus zum Kapital konstituieren muss. So wie die Gesetzmäßigkeiten der Verwertungslogik die politischen Optionen der extremen und populistischen Rechten begrenzen (siehe u.a.die Entwicklung in Italien nach dem Wahlsieg von Meloni), ist realer Antifaschismus nur denkbar auf der Grundlage einer Analyse der derzeitigen realen Klassengegensätze. Alles andere ist im Zweifel lobenswert, aber nicht mehr als Symbolpolitik und identitäre Traditionspflege.
“In diesem Sinne macht Emilio mit der Chronik [1] einen weiteren Schritt: Er skizziert nicht nur die Merkmale des neuen Großstadtproletariats, d.h. die Klassenzusammensetzung nicht in ihrer soziologischen Abstraktheit, sondern in ihrer politischen Konkretheit, sondern versucht auch, die Konturen einer möglichen politischen Projektualität für die Subalternen nachzuzeichnen, da ‘der Hunger der Massen nach Politik’ dringend Organisations- und Selbstorganisationsformen benötigt, die in der Lage sind, eine Weltsicht und die Ausübung von Gewalt zu konstruieren, d.h. die historische Zeit zu erfassen und mit ihr Schritt zu halten.”
Atanasio Bugliari Goggia: Von der Unterwelt in Manchester zur Unterwelt in der Banlieue [2]
So beginnt Goggias Abhandlung über die ‘militante Untersuchung’ von Emilio Quadrelli über die Entwicklung in Frankreich von den Unruhen von 2005 nach dem Tod von Ziad Benna und Bouna Traoré bis hin zu den landesweiten Riots 2024 nach dem Tod von Nahel Merzouk. Während eine ‘historische Linke” sich immer noch völlig unfähig zeigt, sich mit der gegenwärtigen Klassenkonfliktualität anders als soziologisch oder sozialarbeiterisch, also konterrevolutionär, zu befassen, reisst Emilio Quadrelli für uns den aufständischen Horizont auf. Zu den Aufständen und Revolten der letzten 15 Jahre ist so vieles Richtiges und Wichtiges gesagt und geschrieben worden, häufig auch von den Protagonisten selbst. Wenig in diesem Land, aber wer will, wird auch wichtige und gute Texte in deutsch (nicht wenige davon Übersetzungen aus anderen Ländern) dazu finden. Die zentrale Konfliktlinie, die sich von Kairo 2008 über Athen 2011 bis hin zu jenem heißen Sommer im vergangenen Jahr in Frankreich durchzieht, ist ausreichend beschrieben und analysiert worden. An dieser Stelle nicht (noch) mehr davon. Wer es bisher nicht zur Kenntnis genommen hat, dem wird auch an dieser Stelle nicht zu helfen sein. Nun geht es um den nächsten Schritt. Aus der sozialen Konfliktualität eine politische zu realisieren. Dem “Hunger der Massen nach Politik” Futter zu geben. Die Partei, die imaginäre, wie die französischen Gefährten schreiben, oder die künftige revolutionäre, wie die italienischen Genossen sagen, steht auf der Tagesordnung. Wobei sie absolut nichts zu tun hat mit den zahllosen Sekten, die überall am Entstehen sind und ihre Überflüssigkeit wie ihre praktische wie intellektuelle Sinnlosigkeit wahlweise mit Sozialistische oder Kommunistische Was-Auch-Immer bemänteln.
Hier nun finden wir unsere Aufgabe wie unser historisches Erbe. Hier finden wir auch den Bezug zu dem Versuch, im “Zentrum der Bestie”, sich im aufständischen Prozeß intellektuell wie praktisch zu bewaffnen. Mit allen Irrtümern, die diesem Versuch angehaftet sind. Nicht zufällig kamen fast alle Gründungsmitglieder der Bewegung 2. Juni selbst aus dem Proletariat und nicht aus dem akademischen Milieu der 68er, reichen die Wurzeln der RAF zurück auf die Stadtteilarbeit mit den Menschen im proletarischen Neubaughetto Märkisches Viertel und die Arbeit mit jugendlichen Trebegängern und Heimflüchlingen.
“konsumentenpolitik ist warenpolitik. die ware ist der konsument. mit dieser zuspitzung der geschichte, die von den global organisierten und global kollaborierenden bourgeoisen gemacht wird, erklärt sich buchstäblich alles. ihre werte sind die ware und der markt, müll und müllhaufen..”
Gudrun Ensslin: Kassiber aus dem Knast von Anfang 1973
Der Sound klingt so unglaublich aktuell. Über die Begrenzungen des Subjektivismus ist einiges in “Wurmlöcher des Antagonismus” gesagt worden. Jenseits der Begrenzungen steht die Notwendigkeit, den gescheiterten Versuch des bewaffneten Antagonismus im konkreten Klassenantagonismus der weltweiten Prozesse im historischen Kontext zu begreifen und einzuordnen. “Dem Volk dienen – RAF” würde heutzutage niemand mehr schreiben, aus guten Gründen – im Kern aber enthielt diese Aussage genau das Bemühen dem “Hunger des Massen nach Politik” eben jene “Organisations- und Selbstorganisationsformen” an die Seite zu stellen um dem Transformationsprozeß von der sozialen zur politischen Frage “Partei” zu sein. Aus dieser Erfahrung, mit allen Fehlern, Erfolgen und Irrtümern, zu lernen und einen Antagonismus auf der Höhe der Zeit theoretisch und praktisch, neu auf die Beine zu stellen, ist nun unser aller Aufgabe. Darunter geht es nicht. Wenn wir es ernst meinen.
Wird fortgesetzt…
Fußnoten
[1] ‘Chronik von Marseille’, eine Textsammlung von Emilio Quadrelli, die bisher weitgehend nur im italienischen Original vorliegt, ein auszugsweise Übersetzung fand sich auf Bonustracks.https://bonustracks.blackblogs.org/2023/04/04/die-chroniken-von-marseille-es-ist-nicht-alles-gold-was-glaenzt/ [2] In der deutschen Übersetzung auf non milleplateaux
Von der Unterwelt in Manchester zur Unterwelt in der Banlieue