Aktueller Stand der Repression im Zusammenhang mit Tag-X am 03.06.23 in Leipzig

Ungefähr 1,5 Jahre nach dem sogenannten Tag-X am 03.06.2023 in Leipzig, dem größten und längsten Kessel seit Jahrzehnten und ca. 1312 eingeleitete Ermittlungsverfahren, wollen wir, der Ermittlungsausschuss Leipzig und die Rote Hilfe Leipzig, über den aktuellen Stand der Repression im Zusammenhang mit dem Protest und dem möglichen Umgang damit berichten.

Wir haben versucht in diesem Text die uns vorliegenden Informationen und Verfahrensstände zur Repression im Zusammenhang mit Tag-X zu bündeln. Da die Informationslage nicht immer klar ist, kann es sein, dass sich Fehler eingeschlichen haben oder die Auflistung nicht vollständig ist. Falls euch etwas auffällt, könnt ihr uns das gerne per Mail rückmelden: ea-leipzig@riseup.net oder leipzig@rote.hilfe.de (Key für EA und für RH).

 

Laut Recherchen des MDR und FragdenStaat ergab sich im Nachhinein, dass viele Cops in Zivil und zivile Tatbeobachter*innen in der Demo und im Kessel am Tag-X anwesend waren und ermittelt haben. Außerdem war mindestens ein Leipziger Staatsanwalt vermummt im Kessel tätig [1].

 

10 Haftbefehle

Bereits am Freitag den 02.06.23, dem Vorabend von Tag-X, kam es im Kontext von Riots in Connewitz zumehreren Verhaftungen die für  fünf Betroffene mit Untersuchungshaft endeten. Am 03.06.23 wurden fünf weitere Personen in Untersuchungshaft genommen. Zwischen dem 02. und 04.06.2023 wurden 13 Haftanträge gestellt, wovon 10 in Vollzug gesetzt wurden [2]. Innerhalb der nächsten zwei Wochen wurden diese alle außer Vollzug gesetzt. Zum Großteil sind die Haftbefehle mittlerweileaufgehoben.

Weitere Infos dazu hier.

Eine weitere Untersuchungshaft wurde einige Monate später gegen Benni verhängt, dazu weiter unten mehr.

 

Leipziger Kessel

Im Kessel befanden sich laut Polizei circa 1324 Personen.

Es wurden 383 Telefone beschlagnahmt, von denen 318ausgelesen wurden (Stand Dezember 2024). Unklar ist, wie viele von diesen ausgelesenen Telefonen z.B. Tastenhandys oder unverschlüsselte, aber nur einmalig genutzte „Demohandys“ waren.

75 Personen haben (durch Herausgabe der PIN) den Zugang zu ihren Telefonen erleichtert, was sie nicht hätten tun müssen. Die Cops haben teilweise massiven Druck auf vor allem junge Menschen ausgeübt und mit erlogenen Drohungen Menschen dazu gedrängt, ihre PIN zur Verfügung zu stellen. 208 Mobiltelefone wurden bisher wieder herausgegeben.

Für beschlagnahmte Telefone die bisher nicht zurückgegeben wurden, ist ein Beschluss des Landgericht Leipzig relevant, der feststellt, dass die weitere Beschlagnahme der Handys rechtswidrig ist, wenn mehr als 14 Monate verstrichen sind und die Auswertung der Handys noch nicht begonnen hat.

Da davon auszugehen ist, dass die Polizei noch nicht bei allen Telefonen mit der Auswertung begonnen hat, kann eine Rückgabe des Telefons beantragt werden. Mehr Infos dazu, wie das geht und was dabei zu beachten ist, erfahrt ihr hier.

Wir raten dringend von der weiteren Nutzung derzurück erhaltenen Telefone ab! Weitere allgemeine Infos dazu hier.

Von einigen Betroffenen wurden Anträge auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung (Kessel) gestellt, die meisten unbegründet. Diese wurden bisher alle vom Amtsgericht Leipzig abgelehnt. Eine Beschwerde dagegen ist zwar möglich, macht aber nur mit einer juristischen Begründung durch eine*n Anwält*in Sinn. Dabei haben eher Fälle von Betroffenen Aussicht auf Erfolg, die besonders schwer misshandelt wurden (z.B. Minderjährige, Menschen denen Medikamente verwehrt wurden oder die ärztlich behandelt werden mussten) [3].

Es bleibt noch immer offen, ob der Kessel verwaltungsrechtlich angegriffen werden kann. Hierzu gibt es anwaltliche Bemühungen.

 

Repression infolge des Tag-X

In der Antwort auf eine große Anfrage der Linken im sächsischen Landtag, in der alle Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Tag-X aufgelistet wurden, wurde u.a. ein Ermittlungsverfahren nach §129 StGB aufgeführt, bei dem die Anzahl der Tatverdächtigen unklar ist [4].

In der Antwort auf eine weitere Anfrage über aktuell geführte Ermittlungsverfahren nach §129 StGB im April 2024 taucht dieses Verfahren nicht mehr auf [5].

Gegen die Betroffenen des Kessels, wurden Ermittlungen wegen besonders schweren Landfriedensbruchs eingeleitet (und gegen Einzelne auch noch wegen weiterer Vorwürfe).

Einige dieser Verfahren wurden bereits eingestellt. Laut einer kleinen Anfrage im Sächs. Landtag vom 02.01.25 sind es 36 Einstellungen [6].

In den Briefen, die über die Einstellung informieren, ist auch von einem Entschädigungsanspruch die Rede. Über diesen wird bei einer solchen Einstellung (§ 170 II StPO) immer belehrt.
Die Chancen einer tatsächlichen Entschädigung sind aber sehr gering, wenn keine Haft oder längere Ingewahrsamnahme vorlag. Bei einer Beschlagnahmung von Gegenständen wie Telefon oder Kleidung, könnte ein Antrag auf Entschädigung gestellt werden und dadurch die Staatsanwaltschaft zumindest beschäftigt werden. Mehr dazu hier.

Es gab außerdem mindestenseinen Strafbefehl im Zusammenhang mit Tag-X.  Ansonsten wissen wir von einer Anklageschrift am Amtsgericht Leipzig unter anderem wegen des Vorwurfs schwerer Landfriedensbruch.

 

Prozess wegen Beleidigung am Rande des Kessels

Ein Aktivist soll sich am Tag-X in der Nähe des Kessels gegenüber den Cops über ihre Maßnahme aufgeregt und diese dabei beleidigt haben. Der Gefährte hat sich nicht mit einem Strafbefehl zufrieden geben wollen und die erste Gerichtsverhandlung im Zusammenhang mit dem Tag-X im September 2024 zur politischen Auseinandersetzung genutzt. Der Angeklagte hat nichts zur Sache ausgesagt und eine kämpferische Prozesserklärung vorgetragen. Er wurde letztendlich zu einer Verwarnung unter Strafvorbehalt („Geldstrafe zur Bewährung“) mit 30 Tagessätzen zu 40€ auf 1 Jahr Bewährungszeit verurteilt. Gegen das Urteil wurden Rechtsmittel eingelegt.

Den ausführlichen Prozessbericht und die Prozesserkärung könnt ihr hier nachlesen.

 

DNA-Beschluss Bremen

Bei einer Person aus dem Kessel, die wie viele andere auf der Wache ED (erkennungsdienstlich, also Fotos, Körpermessungen, etc.) behandelt wurde, wurde bereits in der selben Nacht eine DNA-Entnahme angeordnet. Diese wurde durch Beschwerde aufgehoben. Später wurde nochmals eine DNA-Entnahme und Untersuchung zum Abgleich mit gesicherten Spuren (z.B. geworfene Steine) angeordnet und diese im Juni 2024 vollzogen.

Die Begründung für die DNA-Entnahme ist so allgemein geschrieben, dass sie theoretisch auf alle anwesenden Menschen angewandt werden könnte.

Mehr Infos dazu gibt es hier und hier.

 

Hausdurchsuchung

Am 23.09.24 fand in Leipzig bei einer Person, die nicht im Kessel war und auch nicht vor Ort von der Polizei festgestellt wurde eine Hausdurchsuchung statt. Vorgeworfen wurde besonders schwerer Landfriedensbruch und „tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“ am Tag-X, was allein mit einer Identifikation auf Video-Aufnahmen begründet wurde [7].

 

Speicherung in Datenbanken

Mindestens alle in Sachsen lebenden Personen haben Einträge beim Verfassungsschutz (VS) Sachsen (oder möglicherweise Landesbehörden für Verfassungsschutz anderer Länder) über ihre Beteiligung an der Demo am Tag-X und daraus abgeleitet, deren „Zugehörigkeit zur linksextremistischen Szene“.

Laut einer Anfrage von FragDenStaat an den VS Sachsen sind außerdem die personenbezogenen Daten aller Eingekesselten, die in Sachsen wohnen (589) im gemeinsamen Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) der deutschen Geheimdienste eingetragen und werden dort für fünf Jahre gespeichert. Laut des VS Sachsen hätten alle erfassten Personen „die linksextremistische Gewalt der autonomen Szene“ unterstützt, indem sie sich „nicht sofort und nachhaltig“ von der Menge distanziert“ hätten [8].

Manche Personen haben im Zusammenhang mit Tag-X auch in den Datenbanken des BKA oder eines LKA einen Eintrag mit dem “personengebundenen Hinweis”‚ PMK Links‘ (pmk = politisch motivierte Kriminalität). Es ist eventuell möglich den Eintrag löschen zu lassen. Vor Abschluss des Verfahrens und der üblichen Löschfrist von 5 Jahren sind die Erfolgschancen dafür allerdings sehr gering. Daher würden wir nicht dazu raten. Außerdem solltet ihr dies nur von einer*m Anwält*in machen lassen [9].

 

6 Monate U-Haft für Benni

Im November 2023 kamen vermummte Cops in eine Gerichtsverhandlung gegen zwei Aktivist*innen (einer davon Benni) um ihnen DNA zu entnehmen und führten im direkten Anschluss Hausdurchsuchungen bei beiden Angeklagten durch. Benni war weder in der Verhandlung noch in seiner Wohnung anwesend. Anfang Januar 2024 wurde ein Haftbefehl gegen Benni vollzogen. Ihm wurde zwei-facher versuchter Mord und 18-fache versuchte Körperverletzung vorgeworfen, weil er am 03.06.23 u.a. einen Brandsatz auf Einsatzkräfte geworfen haben soll. Im Juni 2024 wurde Benni dann überraschend aus der Untersuchungshaft entlassen. Eine Schwurkammer des Landgerichts entschied, dass die U-Haft unbegründet war. Im August 2024 wurde die Anklage wegen versuchtem Mord und Körperverletzungen vom Landgericht zurückgewiesen, da die Indizien dafür nicht ausreichten. Bestehen bleibt nur noch die Anklage wegen Landfriedensbruch. Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat dagegen Beschwerde beim Oberlandesgericht (OLG) eingelegt. Die Entscheidung darüber erfolgt vermutlich in den kommenden Monaten. Weitere Infos dazu hier.

 


 

Quellen:

[1] https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2024/02/chaos-und-widerspruche-zum-leipziger-polizeikessel/

[2] https://tagxantifaost.noblogs.org/post/2023/07/19/auswertung-zur-geplanten-demo-in-leipzig-nach-dem-urteil-im-antifa-ost-verfahren/

[3] https://antirepression.noblogs.org/post/2024/03/14/news-kessel-tagx-beschluesse-ag-zur-feststellung-rechtswidrigkeit-d-freiheitsentziehung/

[4] https://edas.landtag.sachsen.de/redas/download?datei_id=31360

[5] https://edas.landtag.sachsen.de/redas/download?datei_id=33724

[6] https://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=593&dok_art=Drs&leg_per=8&pos_dok=1&dok_id=undefined

[7] https://de.indymedia.org/node/461067

[8] https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2024/09/wir-haben-sachsens-verfassungsschutz-verklagt-und-gewonnen/

[9] https://antirepression.noblogs.org/post/2024/12/08/update-zu-ruecklaeufen-der-auskunftsersuchen-eintrag-aufgrund-des-tag-x-kessels-beim-verfassungsschutz/