Athena kündigt sich an [Berlin, Silvester]

“Ihr Völker der Welt: Schaut auf diese Stadt”

In der Zwischenzeit schnappen die entrechteten Menschen nach Luft. Im Namen von Ordnung und Fortschritt werden die natürlichen Gleichgewichte zerstört. Die Ratten von Camus kommen aus den Abwasserkanälen von Oran, um in der Sonne zu sterben; aus den Höhlen vertrieben, fliehen die Fledermäuse von Wuhan auf der Suche nach dem Licht. Und die Kriege explodieren weiter, der Süden des Planeten ist verwüstet, der faschistische Rassismus ist wieder in Mode. Viren werden im Herzen der Gleichgültigkeit geboren. Und eines Tages, ganz plötzlich, sind wir allein.

Die Pest- Cesare Battisti

Als im Frühjahr 2020 der Corona-Ausnahmezustand über Europa und weite Teile der Welt verhängt wurde, war die Antwort der ‘Überflüssigen’ unmittelbar und unvermittelt. Als einziges Segment der Klasse war das Surplus Proletariat zumindestens in Teilen in der Lage den eigentlichen strategischen Gehalt dieser Offensive der kapitalistischen Ordnung zu realisieren und reagierte mit wütenden Attacken. Vom ersten Tag der ‘Einschließung’ an wurden die Bullen in den französischen Banlieues massiv angegriffen, in den Knästen von Italien breitete sich eine Welle der Aufstände aus, die brutal niedergeschlagen wurden, wobei Dutzende Gefangene getötet wurden. Die Wanderarbeiter auf dem indischen Subkontinent versuchten zu Hunderttausenden in ihre Heimatorte zu gelangen, weil ihre Existenzgrundlage als Tagelöhner von einem Tag auf den anderen weg brach und lieferten sich schweren Kämpfe mit den “Sicherheitskräften”, die sich den endlosen Karawanen in den Weg stellten. Die zentralen Konfrontationsorte in diesem Abschnitt der imperialistischen Kriegsführung nach innen, in denen der Corona-Ausnahmezustand einen Sprung auf ein neue Konfrontationsniveu bedeutete, waren die Nicht-Orte. Die Knäste, die Neubaughettos, das Niemandsland, das die Karawanen der Wanderarbeiter durchqueren mussten.

Während sich die allermeisten Linken und Lifestyle-Anarchisten bedingungslos den staatlichen, repressiven Corona-Ausnahmezustandsmaßnahmen unterordneten oder sogar in einen Überbietungswettbewerb mit ihrem Zero-Covid Projekt traten (die alte verräterische Traditionslinie – am Ende – selbst Staat zu werden) und an vielen Orten die letzten Berührungspunkte mit dem Knastsystem – das (fast) immer und ausschließlich auf die proletarische Segmente abzielt – die Demos, Kundgebungen und unangemeldeten Versammlungen vor den Gefängnissen der Metropole zu Silvester umstandslos entfielen, die Nacht der Nächte, die Nacht der Exzesse, die Nacht der traurigen Abschiede und der hoffnungsvollen Illumination des Winterhimmels kampflos dem Feind in die Hände fiel, leistete eine kleine Straße in Berlin Neukölln heldenhaft Widerstand.

Obwohl stadtweit annähernd 3000 Bullen in ganz Berlin das allgemeine An -und – Versammlungsverbot überwachten, jegliche Art von Party, Feuerwerk verboten, sämtliche Gaststätten und Spätis zwangsweise geschlossen blieben, versammelte sich in der Sanderstraße kurz vor Mitternacht des letztes Tages des Jahres 2020 eine größere Gruppe, die Hindernisse auf der Fahrbahn verbrachte und unter Beifall der Anwohner ein fulminantes Feuerwerk, zum großen Teil vertikal in Richtung herbei eilenden Bullen, abbrennt. Über eine Stunde dauert das Spektakel in der ansonsten weitgehend ausgestorbenen Stadt an, auf deren Straßen die Ordnungsmacht Jagd macht auf noch die allerkleinste Ansammlung von Jugendlichen, die sich trotz allem aus dem Haus wagen. Alle polizeilichen Versuche, die Sanderstraße einzunehmen und die umliegenden Straßen völlig unter Kontrolle zu bekommen, waren erst dann vom Erfolg gekrönt, als den ‘Überflüssigen’ der Nachschub an Feuerwerk ausging. In den folgenden Polizeiberichten ist von aufgefundenen Molotow-Cocktails die Rede, die an anderer Stelle, der Neuköllner Urbanstraße, auch zum Einsatz gegen durchfahrende Polizeifahrzeuge gekommen sein sollen.

Ein Jahr später. “Geimpfte” dürfen sich immerhin zu zehnt zu privaten Silvesterpartys treffen, nehmen “Ungeimpfte” an dem Treffen teil, dürfen sich nur noch “Personen aus zwei Haushalten treffen”. In den Medien überschlagen sich die Diskussionen darüber, wie das Ganze kontrolliert werden soll, die Ernennung von “Blockwarten” wird dann aus geschichtlichen Gründen doch noch verworfen. Dafür erlässt der Berliner Senat ein Ver- und – Ansammlungsverbot, das 50 innerstädtische Bereiche umfasst. Mehr oder weniger die gesamte Stadt, wenn man die rein bürgerlichen Viertel im Südwesten und Nordosten der Stadt außen vor lässt. Die Neuköllner Sanderstraße sowie die umliegenden Straßen sind von mehreren Hundertschaften besetzt, trotzdem gelingt es fluiden Gruppen immer wieder sich zu sammeln, Hindernisse auf den Fahrbahnen zu errichten, Feuerwerk abzubrennen. Ähnliche Vorkommnisse werden aus verschiedenen “Verbotszonen” gemeldet, u.a. aus dem Wedding, der Gropiusstadt und anderen Großraumsiedlungen.

Der Jahreswechsel 2022/23 wirft dann schon Tage vorher seine Schatten. Nach fast 3 Jahren permanenten Ausnahmezustand, der ständigen Hetzjagd auf das vorwiegend migrantische jugendliche Surplusproletariat, prägen lange Warteschlangen vor den Verkaufsstellen für Silvesterfeuerwerk das Stadtbild. Schon am 29. Dezember kommt es vor allem in Neukölln zu zahlreichen Attacken auf Einsatzfahrzeuge der Bullen, teilweise werden die mit brennenden Mülltonnen gezielt in Hinterhalte gelockt und dann überraschend attackiert. In Teilen der Stadt liegt ein permanenter Nebel aus Feinstaub der pausenlos abgebrannten Pyrotechnik in den Straßen.
In der Sanderstraße explodiert zu Silvester die Lage mit Ansage. Wie in den sozialen Netzwerken angekündigt, erleuchtet ein gigantisches Feuerwerk auf die Minute pünktlich eine halbe Stunde vor Mitternacht den Himmel. Eine Hundertschaft der Bullen versucht eine Stunde lang vor die Lage zu kommen, Unterstützung ist nicht in Sicht, weil zeitgleich an Dutzenden von Orten quer über die Stadt verteilt Mülltonnen angesteckt und die Bullen mit Feuerwerk angegriffen werden. Schwerpunkte sind proletarische Quartiere wie die Sonnenallee, Gesundbrunnen oder Huttenstraße, besonders heftig sind aber die Attacken in den Großraumsiedlungen wie Gropiusstadt, Siemensstadt, Thermometersiedlung, Gropiusstadt und High-Deck-Siedlung. Die Berliner Polizei erleidet den größten Kontrollverlust seit dem Ende der autonomen Bewegung Mitte der 90er, erstmalig seit dieser Zeit werden sie auch wiederholt mit Molotows angegriffen.

Nach dem Kontrollverlust zum Jahreswechsel 2022/23 werden zu Silvester 2023 Bullen aus allen Ecken der Republik nach Berlin gekarrt, am Ende werden über 5.000 von ihnen in der Bundeshauptstadt im Einsatz sein. Schon an den Abenden vor dem Jahreswechsel kreisen ständig Hubschrauber über der Stadt, zu Jahreswechsel selber wird der westliche Teil der Neuköllner Sonnenallee komplett mit Sperrgittern abgeriegelt, mobile Flutlichtmasten machen die Nacht zum Tag. Trotzdem kommt es stadtweit zu Barrikadenbau und Angriffen auf die Bullen, wenn auch nicht in dem Ausmaß des letzten Jahres. Die Bullen nehmen hunderte von Menschen fest, in den allermeisten Fällen allerdings völlig willkürlich, sodass es nur zu wenigen Prozessen und Verurteilungen kommt. Trotzdem ist das Siegesgetöse in den bürgerlichen Medien riesig, der permanente Ausnahmezustand wird Berlin nun in den nächsten Jahren zum Jahreswechsel begleiten, das völlig zahnlose Ritual zum Tag der Arbeit, das mittlerweile nur noch von diversen K-Grüppchen organisiert wird ist nun endgültig vom neuem Feiertag des Surplus Proletariats abgelöst worden.

No War but Class War

“Wir sind keine Soziologen, aber es ist klar, dass sich ein Teil des so genannten desintegrierten Proletariats bewegt hat, das Proletariat ohne Reserven, das nur Ketten zu zerstören hat. Angesichts dieser Explosion proletarischer Gewalt ist es sinnlos zu sagen, dass die Polizei scheiße ist, oder zu sagen, dass die Jugend der Vorstädte der hauptsächliche Teil des neuen Arbeitersubjekts und des Proletariats ist… jeder weiß das sehr gut, aber das Problem ist nicht das, sondern die ganze Macht, die im neuen Arbeitersubjekt liegt, in eine politisch-militärische Kraft zu verwandeln!”

Athena auf Erden – Emilio Quadrelli und Lidia Triossi

Während sich die diversen geopolitischen und lokalen Konflikte, immer miteinander verzahnt und immer mit der Tendenz zum Krieg zu mutieren, derzeit wie ein Krebsgeschwür durch die Welt, wie wir sie kennen, oder zu kennen glaubten, fressen, die “schwarzen Geländewagen”, von denen im Kontext der damaligen Diskussion über den “Kommenden Aufstand” immer die Rede war, derzeit auf der syrischen Ackerbauebene in Richtung Hama vorstossen, stellt sich in höchster Dringlichkeit die Frage nach einem neuem, auf der Höhe der Zeit und der Konfrontation sich bewegenden Antagonismus. Wie in zahlreichen Texten der italienischen Gefährt*innen in den letzten Jahren herausgearbeitet, stehen wir, jenseits aller kleinbürgerlichen Apokalyptik, am Vorabend des “großen innerimperialistischen Krieges”. Im Kontext der allgegenwärtigen Verwertungskrise, der Endlichkeit der Energieressourcen, dem Wettlauf um seltene Erden, Lithium und und und, wird die Kriegsertüchtigung der bundesdeutschen Gesellschaft mit einer Selbstverständlichkeit eingefordert, als handele es sich um eine unbedeutende Reform der Straßenverkehrsordnung.

Im Gestrüpp der puren ideologischen Verblendung verfangen, ohne jegliche materialistische Analyse, hechelt weltweit eine historisch überholte Restlinke den Gespenstern eines (längst) gescheiterten Befreiungsnationalismus hinterher, zimmert die krudesten postkolonialistischen Theorieversatzstücke zusammen (immer an der Grenze zu absoluten Verblödung wie in der Heroisierung von islamistischer Märtyrisierung), zerfleischt sich in Grabenkämpfe an der Frage der Positionierungen zum Ukraine Konflikt (eine Entwicklung, die auch vor großen Teilen der anarchistischen Galaxy nicht Halt macht), jeglicher gesellschaftlichen Sprengkraft beraubt, ihre Subkulturalität nur noch warenförmige Welt in der Welt, ihre Sprache nur noch Identitätspolitik, die kein Subjekt mehr kennt, das sich in grundsätzlichen Bruch mit dem Bestehenden findet, ist sie nur noch in der Lage, tagtäglich ihre eigene Bedeutungslosigkeit betroffen zur Schau zu stellen und im Zweifel im Bündnis mit den Eliten die herrschende Ordnung vor dem (vermeintlichen) Abschaum zu verteidigen.

“Die Finanzialisierung der Wirtschaft verlagert die Widersprüche des Systems nach vorne, indem sie sie vergrößert, und wenn sie ausbrechen, wirken sie sich auf die sogenannte Realwirtschaft aus. Bis heute hat die kapitalistische Welt ihre Performanz nicht verbessert; im Gegenteil, die Einkommensunterschiede haben sich vergrößert, während sämtliche “Wirtschaftsrezepte” angewendet wurden” [ …] “Der Kapitalismus verschärft die wirtschaftliche und soziale Polarisierung, so dass die neuen kämpfenden Kräfte nichts mehr fordern und sich in der Tat kollektiv als Alternativen zum Kapitalismus präsentieren (das in den USA und im Vereinigten Königreich aufgetretene Phänomen, dass Hunderte von jungen Menschen Geschäfte stürmen und sich auf TikTok organisieren, ist kurios). Sie sagen einfach noch nicht, was sie anstelle der gegenwärtigen Produktionsweise wollen, aber wenn sie es täten, würden ihre Forderungen zur Macht der Partei der Revolution avancieren.”

Unruhen, soziales Chaos und Krieg – Quinterna Lab

Die “soziale Frage neu zu erfinden” ist eigentlich eine Dichotomie, weil sie sich schon die ganze Zeit aus den Verhältnissen des Kapitalismus selbst stellt, in welcher ideologischen Verbrämung der verschiedenen Schulen er auch daher kommt. Was verloren gegangen ist, was “neu erfunden werden” muss, ist die Frage des politischen Antagonismus, der dem sozialen Antagonismus die Reife zur Revolution verleiht. Jeglicher Aufstand, der sich ausweitet, entgrenzt, trägt in sich irgendwann die Fragestellung der grundsätzlichen Umwälzung des Bestehenden, wenn er sich dem verweigert, wird er an sich selbst ersticken, wie das Feuer, das das 3. Polizeirevier von Minneapolis verzehrte, in dem die Bullen ihren Stützpunkt hatten, die George Floyd umbrachten, wie die Unruhen in Frankreich nach dem Tod von Nahel Merzouk, die endeten, “als es nichts mehr zu plündern gab”, wie einige Beteiligten konstatierten.

Die Revolten der “Nicht-Orte, der ‘Nicht-mehr-zu-Verwertenden’, die “keine” Forderungen mehr stellen, selbst wenn sie wie die Revoltierenden auf Sri Lanka in der Lage sind, den “Winterpalast zu stürmen” ist die Gegenwärtigkeit des Klassenantagonismus (der sich auch mit anderen Widersprüchen von Gender und unterdrückten Ethnien verschränkt, siehe den mehrmonatigen Aufstand im Iran), der sich jedem reformistischen Zugriff verweigert, sich angewidert abgewandt hat von der historischen Rolle immer wieder das System zu erneuern, das ihn befeuert, immer neue kleine revolutionäre Anführer und Eliten zu produzieren, die stets “das Beste” wollen um dann alles zu verraten und zu beerben. Diese Verweigerung ist der notwendige historische Sprung, der in sich die Reife trägt, auf ein neues Niveau der Klassenauseinandersetzung zu gelangen. Die Frage ist, wie es möglich ist, von diesem Tableau aus, das im Kern eine vorrevolutionäre Situation darstellt, den nächsten historischen “Sturm auf den Himmel” in Angriff zu nehmen. Eine Frage, die sich sowohl weltweit als auch in den konkreten lokalen Kontexten stellt.

Aus welcher Sicht man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ohne Ausweg

“Primäre Zirkulation ist heute primärer Aufstand, der das Surplus-Leben – wie kurzfristig auch immer – selbst ist; Letzteres ist das Subjekt der Politik und damit zugleich das Objekt staatlicher Gewalt.”

Die Ekstase der Spekulation – Achim Szepanski

Berlin hat eine lange Geschichte der lokalen Konfliktualität, von dem qualitativen Sprung, den “die Schlacht am Tegeler Weg” darstellte, über die Westberliner Hausbesetzerbewegung, den 1. Mai Ende der 80er, den “3 Tagen der Mainzer Straße” bis hin zu dem neuen Typus der Revolte der “Überflüssigen”, von dem die Geschehnisse zum Jahreswechsel der letzten Jahre ein Ausdruck sind, wenn man die üblichen analytischen Verkürzungen oder rassistischen Zuschreibungen außen vorlässt. Sich innerhalb dieser Konfliktualität zu bewegen, analytisch wie auch ganz praktisch, erfordert den Abschied von liebgewordenen Sichtweisen und Ritualen. Erfordert, sich überhaupt in die Lage zu versetzen, wieder den Blick über das Ganze, der gegenwärtig ebenso verstellt, wie verzerrt daherkommt, schweifen zu lassen. Sich nicht länger blind machen zu lassen, von all den Berichten aus dritter Hand, den vorschnellen Verurteilungen und Zuschreibungen, sich weder Idealisierungen noch Projektionen hinzugeben. Erfordert, mit ruhiger Hand das Skalpell zu führen, um das eigentliche Material freizulegen, das ohne Zweifel von höchster Konfliktualität durchzogen ist. Um nicht weniger muss es gehen. Mit höchsten Ansprüchen an das eigene neue Denken die kleinsten Verästelungen des Rhizom freizulegen, das in sich die Möglichkeit trägt, das Bestehende für alle Zeit seinem historisch unvermeidlichen Ende zuzuführen. Eine Nacht für uns alle, um sich zu erinnern, wer wir sind, wer wir sein könnten.

She rises like Athena
on a night of victory dancing
She rises like the blood moon
in a sky of a thousand nebulae bursting

Einige Unbekannte – Berlin, 3.12.2024