Kurzbericht zur antifaschistische Gedenkkundgebung am 9.11.
Dies ist ein Kurzbericht zur antifaschistischen Gedenkkundgebung am 9.11.2024 im Leipziger Westen. Es kamen circa 150 Antifaschist:innen.
Für den 9. November 2024 hatten wir zu einer antifaschistischen Kundgebung im Leipziger Westen in Erinnerung an das Novemberpogrom 1938 aufgerufen. Dem Aufruf folgten um die 150 Leute. Unser Ziel war es, den 9. November aus unterschiedlichen antifaschistischen Perspektiven zu beleuchten und hatten daher im Vorfeld nach Beiträgen gefragt. Es gab zwei Redebeiträge von uns: zu Herschel Grynszpan, der Geschichte seiner Familie und der Einordnung des von ihm durchgeführten Attentats, auf welches die Pogrome folgten sowie einen weiteren Beitrag von uns über Aspekte des Antisemitismus. Weitere Beiträge kamen von dem Bündnis Antifaschistische Vernetzung Leipzig (AVL) zu der Bedeutung des Erinnerns an die Opfer des NS und die Notwendigkeit, sich auch heute faschistischen Tendenzen entgegenzustellen, sowie von Gehalten von einem Vertreter der Vorbereitungsgruppe für die antifaschistische Gedenkkundgebung „Erinnern heißt kämpfen“ am 10. November, in welchem der Bezug zu Antisemitismus heute und die Notwendigkeit des engagierten Kampfes dagegen thematisiert wurde. Dazwischen wurde ein Audiobeitrag abgespielt von Esther Bejarano über die Bedeutung des Erinnerns. Die Kundgebung endete mit einer Aufnahme von Paul Celan, in welcher er sein Gedicht die „Todesfuge“ vortrug.
Wir waren sehr froh, dass so viele unserem Aufruf folgten und hoffen, dass sich die eine oder der andere in den gehaltenen Redebeiträgen wiederfinden konnte. Während der Kundgebung wurde ein Flugblatt von den Antideutschen Kommunisten verteilt, welches sich kritisch sowohl mit dem Aufruf zu unserer Kundgebung, als auch mit einem weiteren Text von uns auseinandersetzte. Alle Redebeiträge und das Flugblatt werden hier nochmal dokumentiert. Wenn wir auch selbst nicht mit jedem Inhalt einverstanden sind oder diesen teilen, ist uns das insbesondere wichtig, weil wir nicht in der Reinheit von Lehren oder Theorien einen Fortschritt erblicken, sondern in einer inhaltlichen Auseinandersetzung auch und gerade da, wo die offensichtlichsten Widersprüche zutagetreten.
Wenn ihr Kritik oder Zuspruch an der Kundgebung und an den Inhalten loswerden wollt, schreibt uns an: alea_le@riseup.net. Mehr von uns findet ihr auf unserer Website.
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1. Redebeitrag zu Herschel Grynszpan
Die Juden Zindel und Rivka Grynszpan flohen 1911 vor den Pogromen im Zarenreich von Westrussland nach Hannover in Deutschland. Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Polens nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Familie die polnische Staatsbürgerschaft an. Ihr Sohn Herschel wurde am 28. März 1921 geboren. Da in der Weimarer Republik das Abstammungsprinzip galt, wurde Grynszpan nie deutscher Staatsbürger. Im Jahr 1935 – mit 14 Jahren – verließ Herschel die Volksschule. Er besuchte dann eine Talmudschule in Frankfurt am Main und schloss sich der religiös-zionistischen Gruppierung Mizrachi an. Herschel brach die auf fünf Jahre ausgelegte Ausbildung jedoch nach elf Monaten ab und kehrte zu seinen Eltern nach Hannover zurück. Nachdem er sich einen polnischen Pass hatte ausstellen lassen, beantragte er bei den deutschen Behörden eine Wiedereinreisegenehmigung. Zur Begründung gab er an, bei einer Tante in Brüssel die Einreiseerlaubnis nach Palästina abwarten zu wollen, die ihm vorläufig verweigert worden sei. Im Sommer 1936 verließ Herschel Deutschland zunächst Richtung Brüssel, wo er bei seinem Onkel Wolf unterkam. Wenig später reiste er illegal nach Frankreich ein und zog dort zu seinem Onkel Abraham und seiner Tante Chawa nach Paris. Vergeblich bemühte er sich um eine französische Aufenthaltserlaubnis, im April 1937 lief seine Wiedereinreisegenehmigung nach Deutschland und im Februar 1938 sein polnischer Pass ab. Staatenlos und ohne legalen Aufenthalt befand sich der siebzehnjährige Herschel in einer bedrückenden Lage und musste sich ab dem 15. August 1938 vor der französischen Polizei verstecken. Bis zu dieser Frist hatte ihn das französische Innenministerium zur Ausreise aufgefordert.
Kurz nach dem Anschluss Österreichs verabschiedete das polnische Parlament am 31. März 1938 ein Gesetz, das die Möglichkeit vorsah, polnischen Staatsbürgern, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsangehörigkeit zu entziehen. Polen versuchte mit diesem Gesetz möglichen Ausweisungen polnischer Juden aus dem Deutschen Reich zuvorzukommen. Dem Gesetz folgte am 9. Oktober 1938 eine Verordnung des polnischen Innenministeriums. Diese sah vor, dass ab 30. Oktober 1938 die Einreise nach Polen nur noch gestattet war, wenn im Ausland ausgestellte Pässe einen durch ein Konsulat ausgestellten Prüfvermerk enthielten. Auf Veranlassung Himmlers wies Heydrich am 26. Oktober, wenige Tage vor Inkrafttreten der Regelung, die Sicherheitspolizei an, alle polnischen Juden abzuschieben. Reichsweit wurden mindestens 17.000 polnische Juden verhaftet, enteignet und in Zügen Richtung Polen deportiert. Darunter die Familie Grynszpan. 1961 im Prozess gegen Adolf Eichmann sagt Herschels Vater aus. Die Aussage gibt Hanna Arendt wie folgt wieder:
„Am 27. Oktober 1938, es war am Donnerstagabend um 8 Uhr, kam ein Polizist zu uns und sagte, wir sollten zum Polizeirevier 11 kommen. Er sagte, ‚Sie werden gleich wieder nach Hause zurückkehren, nehmen Sie nichts weiter mit als Ihre Pässe.‘“ Grynszpan ging mit seiner Familie, einem Sohn, einer Tochter und seiner Frau, aufs Revier. Als sie dort ankamen, sah er, „viele Leute, manche standen und manche saßen, die Leute weinten, und [die Polizei] schrie auf sie ein: ‚Da, unterschreiben Sie! Unterschreiben! Unterschreiben!‘ … Ich mußte unterschreiben, alle haben unterschrieben. Nur einer hat nicht unterschrieben; ich glaube, er hieß Gerschon Silber, und er mußte 24 Stunden in einer Ecke stehen und durfte sich nicht rühren. Dann wurden wir ins Konzerthaus geführt, am Leineufer, und dort wurden aus der ganzen Stadt Leute zusammengebracht, etwa 600 Menschen im ganzen … Dort blieben wir bis Freitag abend, etwa 24 Stunden, ja, bis Freitag abend… Und dann lud man uns auf Polizeiautos, auf Gefängniswagen, ungefähr zwanzig auf jeden Wagen, und transportierte uns zum Bahnhof. Die Straßen waren schwarz von Menschen, und sie schrien: ‚Juden raus nach Palästina!‘ … Wir wurden mit der Eisenbahn nach Neu-Bentschen transportiert, nach der polnischen Grenze. Als wir dort ankamen war es sechs Uhr morgens am Sabbath. Da kamen Züge aus allen möglichen Orten, aus Leipzig, Köln, Düsseldorf, Essen, Bielefeld, Bremen. Zusammen waren wir ungefähr 12.000 Menschen … Das war am Sabbath, am 29. Oktober … Als wir zur Grenze kamen, wurden wir durchsucht, ob jemand noch irgendwelches Geld hätte. Wer mehr als 10 Mark hatte, mußte den Rest abgeben. Dies war das deutsche Gesetz, man durfte nicht mehr als 10 Mark aus Deutschland ausführen. Die Deutschen sagten zu uns: ‚Ihr habt nicht mehr mitgebracht, als ihr gekommen seid, und mehr dürft ihr auch nicht mit herausnehmen.‘“. Sie mußten fast zwei Kilometer zu Fuß laufen, bis zur polnischen Grenze, denn die Deutschen beabsichtigten, sie auf polnisches Gebiet hinüberzuschmuggeln. „Die SS-Leute trieben uns mit Peitschen an, und denen, die nicht mitkamen, versetzen sie Peitschenhiebe, und Blut floß auf die Straße. Sie rissen uns unsere Koffer weg, sie behandelten uns auf die brutalste Weise, damals sah ich zum erstenmal die wilde Brutalität der Deutschen. Sie schrien uns an: ‚Lauft!, lauft!,‘, ich wurde auch geschlagen und fiel in einen Graben. Mein Sohn half mir auf und sagte zu mir: ‚Lauf schnell, Vater, sonst mußt du sterben!‘“
Am 3. November 1938 erhielt Herschel eine auf den 31. Oktober datierte Postkarte seiner Schwester aus Zbąszyn, in der sie ihm die Geschehnisse schilderte. Am 6. November 1938 verließ Herschel seinen Onkel und seine Tante. Er verbrachte die Nacht unter falschem Namen im Hotel Suez auf dem Boulevard de Strasbourg. Am nächsten Morgen kaufte Herschel einen Revolver und Munition im Waffengeschäft „A la fine lame“. Im Lokal „Tout va bien“ lud er die Waffe und steckte sie in seine Jackentasche. Dann machte er sich auf den Weg zur deutschen Botschaft in die Rue de Lille 78. Gegen 9:30 Uhr betrat Herschel die Botschaft. Er gab an, ein wichtiges Dokument abzugeben zu haben und wurde in das Büro des Diplomaten Ernst vom Rath geführt. Herschel gab fünf Schüsse auf vom Rath ab, zwei davon verletzen diesen schwer. Herschel ließ sich widerstandslos von Botschaftsmitarbeitern festnehmen und wurde der französischen Polizei übergeben. Vom Rath starb zwei Tage später am 9. November gegen 16:30 Uhr im Krankenhaus.
Was folgte, ist bekannt. Die Nationalsozialisten hatten, was sie brauchten: einen willkommenen Anlass, die Verfolgung der Juden auf eine neue Stufe zu heben, von der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Diskriminierung hin zum offenen und körperlichen Angriff, der, schon zuvor in unzähligen Überfällen eingeübt, jetzt gesellschaftliche Dimension annahm. Das Attentat aber war in seiner Rezeption keinesfalls auf Deutschland beschränkt. Vielmehr wurde es international breit rezipiert und auch diskutiert. Auf Verständnis und Unterstützung brauchte Herschel abseits von antifaschistischen Kreisen nicht zu hoffen. Auch in den jüdischen Kreisen Frankreichs etwa war die Ablehnung seiner Tat groß. Man glaubte, dass Herschel mit der Tat schlimmere Repression über die jüdischen Gemeinden bringen würde. Und die folgenden Novemberprogrome schienen ihnen recht zu geben.
Damit aber befanden sie sich im Irrtum. Denn nicht Herschel brachte das Unglück mit sich. Seine Tat richtete sich gegen die Mörder und Menschenhetzer und machte die braven Menschen nicht erst zu diesen. Diese waren bereits versammelt, hatten sich innerlich schon an das Morden gewöhnt, dass es in der Folge noch auszuführen galt. Die Juden standen bereits mit dem Rücken an der Wand, an welcher man sie hinrichten wollte. Und dies nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt; niemand wollte ihnen helfen, niemand war bereit ihnen zur Seite zu springen und in dieser ausweglosen Lage fehlte ihnen auch selbst die Möglichkeit, sich geschlossen so zu organisieren, dass sie ihren Mördern etwas entgegenzusetzen hatten.
Herschels Motive sind heute weniger klar, als es mancher gerne hätte. Er selbst machte unterschiedliche Angaben über seine Motive, und auch dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Wir werden hier heute keinen Befund darüber anstellen, welche davon richtig und welche falsch sind. Aber was wir sagen können, ist dies: Herschel war isoliert und er blieb es; seine Tat fand keine Nachahmer, stattdessen etliche Richter mehr, als die, die ihn in den Tod schickten.
Dies ist nur allzu verständlich. Wenn alles schon zum Schlimmsten steht, will man nicht, dass es noch schlimmer kommt, wenn der Tod schon droht, soll er fern bleiben, so lange es geht. Aber: wenn das Todesurteil schon gefällt ist, dann besteht darin, dem Henker keinen Kummer zu bereiten, keine Hoffnung. Aus heutiger Sicht erscheint demgegenüber Herschels Tat als gerecht und vernünftig, als Tat aus einem starken Motiv, konsequent und weitsichtig. Und als solchen wollen wir sie heute stehenlassen: als antifaschistische Tat eines jungen Mannes, der verstand, was die Zukunft für ihn bereit halten würde, dem das Schicksal seiner Familie Herz und Seele zerriss und der einen von denen mit in den Tod nahm, die Auschwitz schon im Herzen trugen.
Wenn wir am 9.11. gedenken, erinnern wie uns an die konkreten Opfer, dass konkret Passierte. Ihr entsetzliches Leiden muss im Mittelpunkt unserer Gedanken am heutigen Tag stehen. Antisemitismus war in Deutschland schon lange Alltag, zeigte jedoch an diesem Tag seine mörderische Konsequenz überdeutlich und war Vorbote für das später Folgende.
Wir erinnern uns aber auch an die mangelnde Aufarbeitung des Geschehenen und das Fortwirken antisemitischer, rassistischer und rechter Tedenzen in der heutigen Gesellschaft. Die reale „Aufarbeitung“ der Verbrechen des NS, sowohl in der DDR, wie auch in der BRD, führten nicht dazu, dem Fortwirken dieser Tendenzen Einhalt zu gebieten. Rechte sind auf den Vormarsch, auch in die Parlamente und Antisemitismus – auch in der sog. „Mitte der Gesellschaft“ – ist so weit verbreitet, wie lange nicht mehr.
Dabei sollte sollte doch das Geschehene, seine Opfer und auch seine Überlebende uns die Verantwortung abringen, sich ihrer würdig zu erinnern. Mit dem Versterben der letzten Zeitzeug*innen, gehen aber auch jene Verloren, die so viel Geschichte in sich tragen, aber auch durch ihr Leben und Wirken immer wieder verhindert haben, den kompletten Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen. Was ihre Abwesenheit bedeutet, wird sich in den nächsten Jahren noch zeigen. Es ist aber an uns, neue Formen des Gedenkens zu etablieren, die nicht die Anwesenheit von Überlebenden braucht, aber gleichzeitig ihnen gerecht wird.
Wenn wir heute hier zusammenstehen und uns eben nicht mit den staatlichen oder anders zivilgesellschaftlichen Gedenk-Veranstaltung zufrieden geben, hat das wahrscheinlich viele Gründe. Einer davon ist, dass wir nicht glauben, dass das staatliche Gedenken dies tut: Den Opfern, dem Geschehenen gerecht wird.
Aber was bedeutet Gedenken überhaupt? Gedenken ist eine in die Vergangenheit gerichtet Praxis, die sich Vergangenes vergegenwärtigt. Gedenken darf aber nicht in der Vergangenheit verweilen, sonder muss sich an die Gegenwart richten und den Blick in die Zukunft werfen. Wie Alea es in ihrem Aufruf zu der heutigen Veranstaltung ausdrückte: Es geht nicht darum, in diesen Zeiten seinen Kummer über die Vergangenheit zu zelebrieren, sondern darum zu kämpfen, dass sie nicht noch einmal sein wird.
Öffentliches Gedenken, egal ob es sich selbst als politisch bezeichnet oder nicht, verfolgt immer einen Zweck. Wir befinden uns nicht in konkreten Trauerprozessen, wenn wir den Opfern des 9.11. und der, auf diesen Tag folgenden, Barbarei gedenken, wir befinden uns in einem Kampf um Deutungshoheit. Die Deutungshoheit über das Geschehene, die Strukturen und die Kontinuitäten, die in der Vergangenheit und Gegenwart Menschenleben gekosten haben und die auch in der kommenden Zeit Menschenleben kosten werden. Unser Ziel in diesem Kampf ist es, die Bedingungen, den antisemitischen und menschenverachtenden Normalzustand zu kritisieren und anzugreifen, ohne dabei die konkreten Individuen, die unter diesen starben und leiden mussten und immernoch müssen zu negieren.
Wir verbinden also mit dem Gedenken an den Nationalsozialismus in der Gegenwart ein Ziel: dass, das Geschechene sich eben nicht wiederholt. Das muss, auch wenn utopisch, immer „Zweck“ von Gedenken sein.
Innerhalb der radikalen Linken gibt es zu oft kein Verständnis für die absolute Notwendigkeit eines nach vorne gerichteten Blicks in die Vergangenheit. Den Toten können wir nicht mehr gerecht werden, trotzdem schulden wir es ihnen, dass ihr Leid sich nicht wiederholt. Das schulden wir auch den Lebenden und denen, die noch leben werden. Die Bedingungen für das vergangene Leid bestehen bis heute fort, weshalb ihre Kritik sowie der Kampf gegen sie unerlässlich ist und bleib. Diesen führen wir nicht für uns, sondern all die jenigen die heute und in der Zukunft Opfer werden können.
Zu oft schaffen es Linke nicht, sich mit der eigenen gesellschaftlichen Verwobenheit auseinanderzusetzen. Das würde eine Selbstkritik vorraussetzen: Die Probleme nicht nur in den Anderen sehen, sondern sich eben auch selbstkritisch mit dem eigenen Handeln auseinanderzusetzen. Kritisches Gedenken an den Nationalsozialismus würde eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte, dem eigenen Denken und Handeln vorraussetzen.
Gerade diese Selbstkritik sehen wir bei den Rotgruppen nicht, die bedienen sich der nationalsozialistischen Verbrechen um ihren revolutionäre Fantasien ein Stück näher zu kommen. Da wird aus getöteten Juden und Jüdinnen schnell, ein Angriff auf die Arbeiterklasse. Mit dem eigenen Antisemitsmus wird sich nicht auseinandergesetzt.
Durch lange wiederlegte Behauptungen wie der Dimitrov-These, partizipieren sie viel mehr sogar daran, den mörderischen Antisemitismus auf die Position des Nebenwiderspruches zu degradieren und somit jegliche Auseinandersetzung mit aktuellem wie vergangenem Antisemitismus und Kontinuitäten für obsolet zu erklären. Durch diese Verklärung der Hintergründe und Motive wird das Gedenken an die Ermordeten zu einem unehrlichen und das Versprechen „Nie Wieder“ zu einem leeren und nicht einhaltbaren.
Auch staatliche Gedenkpraxen strafen dieses Versprechen Lügen. Die Entpolitisierung und historische Entkontextualisierung, die sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft reicht, sorgt dafür, das vergangene, heutige und künftige Täter*innen nicht als das benannt und erkannt werden, was sie sind.
Durch diese allgemeine Ignoranz gegenüber der eigenen Verwobenheit in antisemitische Vorstellungen und Strukturen, die in ihrer Kontinuität scheinbar immer weiter fortdauern könnnen, wird ermöglicht, dass Morde an Jüdinnen und Juden nicht Teil einer vermeintlich weit entfernten Vergangenheit sind, sondern viel mehr auch in einer viel zu nahen Zukunft verortbar sein können, wie sie es auch schon in der Gegenwart sind.
Gedenken ist deshalb nicht zuletzt Teil antifaschistischer Praxis, führt es uns die Notwendigkeit antifaschistischer Praxis in der Gegenwart vor Augen. Gedenken kann dabei aber nur ein Teil dieser Praxis sein. Es gilt sich eben auch, Antisemitimus, Rassismus und anderen rechten Ideologien in den Weg zu stellen, sie da zu bekämpfen, wo wir sie antreffen. Sei es bei sich selber, im eigenen Freunden und Bekanntenkreis oder eben auf der Straße!
Die Bilder aus Bautzen, bei denen ein Mob aus Neonazis Parolen grölend angereist ist, um den zweiten CSD in der sächsischen Kreisstadt zu stören, ist uns in Erinnerung. Angriffe auf Politiker*innen, Nicht-Rechte, Migrant*innen und Queers finden regelmäßig statt – nicht nur in der Provinz, wirft man einen Blick auf das Monitoring von chronik.LE. Über den Sommer häuften sich z.B. Angriffe im studentisch geprägten Lene-Voigt-Park im Leipziger Osten.
Das Rechte und Neonazis aus rassistischen, sozialdarwinistischen, queerfeindlichen, antisemitischen, antifeministischen u. v. a Motiven physische und psychische Gewalt ausüben, überrascht heutzutage niemanden mehr. Umso wichtiger ist es gemeinsam Strategien zu entwickeln und sich Ihnen und ihren Handlangern entgegenzustellen.
Antifa heißt Gedenken, Antifa heißt kämpfen!
3. Redebeitrag von Erinnern heißt Kämpfen
Liebe Antifaschist:innen,
vor 86 Jahren brannten Leipziger Nazis Synagogen, Kaufhäuser, Schulen und Trauerhallen unter den Augen der Bevölkerung nieder. Sie schlugen, beraubten, demütigten und verschleppten hunderte Menschen.
Dieses öffentliche Verbrechen vom 9. und 10. November 1938 hatte eine Vorgeschichte. Das Pogrom hatte sich schon Ende Oktober 1938 angebahnt, als im ganzen Reich 17.000 Jüdinnen und Juden nach Polen abgeschoben wurden. Viele von ihnen waren staatenlos, und landeten im Niemandsland zwischen dem Deutschen Reich und Polen. Der 17jährige Herschel Grynszpan musste erfahren, dass auch seine Geschwister und seine Eltern in der sogenannten „Polenaktion“ verschleppt wurden. Am 7. November 1938 schoss er mit einem Revolver auf einen Nazi-Diplomaten. Dieses Attentat war der Anlass für die Nazis, um am 9. und 10. November im ganzen Reich gegen die jüdische Bevölkerung loszuschlagen.
Es hätte auch irgendein anderer Anlass sein können. Aber der Gewaltakt von Herschel Grynspan war gut genug, um der deutschen Bevölkerung einen Grund zu geben, nicht einzugreifen. Die Revolverschüsse eines Jugendlichen hatten gereicht, um genug Skrupel in die Köpfe der deutschen Mehrheitsgesellschaft einzupflanzen. Viele fragten sich: „Haben wir den Überblick, um diese Gewalt gegen Juden wirklich klar ablehnen zu können? Welches Recht haben wir, da einzugreifen? Hatten die Juden nicht auch ein bisschen Schuld an ihrer Verfolgung, nach dem, was in Paris passiert ist?“ Auf diese Skrupel und Indifferenz in deutschen Köpfen konnten die Nazis in Leipzig am 9. und 10. November 1938 zählen. Und die Nazis konnten noch auf diese Indifferenz zählen, als der letzte Deportationszug am 14. Februar 1945 vom Leipziger Hauptbahnhof nach Theresienstadt abfuhr. Liebe Antifaschist:innen, diese Indifferenz der Zuschauenden ist nicht einfach ein moralisches Problem. Diese Indifferenz ist Folge von antisemitischem Wissen, das seit zweitausend Jahren tief in der deutschen Gesellschaft verankert ist.
Und dieses antisemitische Wissen kann man bis heute abrufen. Seit der antisemitischen Offensive der Hamas am 7. Oktober 2023 verbreitet sich wieder die Legende, dass nicht allein die Mörder für ihre Taten verantwortlich sind, sondern auch die Opfer. Auch in Leipzig finden sich Hunderte, die auf die Straße gehen und sich hinter der Aussage versammeln, dass der tödlichste Tag für Jüdinnen und Juden seit 1945 ein Tag der Befreiung war. Wir müssen ehrlich zu uns sein: Wir sind nicht mehr. Es ist nicht leicht, gegen dieses antisemitische Wissen anzukommen. Es ist kein Gewinnerthema, sondern bittere Arbeit.
Liebe Antifaschist:innen: Keine israelische Politik rechtfertigt das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, es ist der Antisemitismus, der das tut. Es gibt Israel wegen des Antisemitismus, und nicht umgekehrt. Und doch scheint es oft so, als müssten nicht die Antisemit:innen die Beweislast tragen, sondern ihre Gegner:innen. Es ist schwer, gegen einen Diskurs anzukommen, der auch das antisemitische Pogrom von Amsterdam gegen Israelis verharmlost, es leugnet oder sogar rechtfertigt.
Liebe Antifaschist:innen, der Antisemitismus ernährt sich von der Indifferenz gegenüber seinen Lügen und Verdrehungen. Gegen diese Gleichgültigkeit müssen wir jeden Tag ankämpfen. Wir haben keine andere Wahl.
Im Aufruf zu unserer Gedenkkundgebung morgen, am Leipziger Hauptbahnhof, steht: „Antifaschismus heißt, gegen jeden Antisemitismus zu kämpfen, ganz gleich, ob er von der extremen Rechten oder der bürgerlichen Mitte ausgeht, ob von der autoritären Linken, vom Islamismus oder von der Querdenken-Bewegung.“
Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht nur ein Kampf gegen die, die einem politisch und privat fremd sind. Der Kampf gegen Antisemitismus bedeutet auch, daß Freundschaften und Beziehungen zerbrechen, daß Gruppen und politische Bündnisse sich auflösen.
Das ist bitter, das ist schmerzhaft, aber diese Klarheit bringt auch Neues hervor. Nur dann, wenn wir rote Linien gegen jeden Antisemitismus ziehen, kann es einen Antifaschismus geben, der seinem Namen gerecht wird.
Vielen Dank fürs Zuhören!
4. Audiobeitrag von Esther Bejarano
youtube.com/watch?v=bFS4eCCyvTs
5. Redebeitrag zum Erinnern und zur mangelnden Kenntnis des Antisemitismus
Wir sind heute hier zusammengekommen, weil heute sich zum 86. Mal die Pogromnacht der Nationalsozialisten jährt. Und wir sind am heutigen Tag bei weitem nicht die einzigen, die an das Novemberpogrom erinnern. Wahrscheinlich wird der Bundespräsident oder Bundeskanzler seine salbungsvollen Worte hören lassen und landauf-landab wird man sich zusammenfinden, um zu gedenken und zu erinnern. Und alle werden sicher auch zu der Mahnung anheben: Auch heute ist Antisemitismus wieder ein Problem.
Der Antisemitismus, so scheint es, ist etwas, worüber in der Gesellschaft eine weitreichende Ablehnung besteht. Nur wenige wagen es, sich offen einen Antisemiten zu nennen und Anklagen gegen den Antisemitismus hören wir landauf-landab. Und es ist sicherlich ein Erfolg der Erinnerungskultur, dass das Erinnern am 9. November ein gesellschaftlicher Stolperstein ist, ein Tag, an dem man schwerlich vorbeikommt, ohne zumindest einmal kurz an die Juden zu denken, und an ihre Häscher und Mörder, die Nationalsozialisten. Darin hat dieses Gedenken seine Qualität.
Aber darin liegt zugleich auch seine Schwäche: es ist zur Phrase geworden, zum Ritus, zu etwas, das immer leerer wird, je öfter man es wiederholt. Bedeutungsschwanger werden Schweigeminuten abgehalten, vielleicht wird sogar etwas Klezmer gespielt, als könne man hiermit zumindest für wenige Minuten jüdische Kultur zu sich zurückholen. Allein, dass man sie sich ohne jeden Gefallen anhört, wird zur eigenen guten Tat, nachdem man es geschafft hat, für eine Minute den Mund zu halten. Weiteres ist nicht zu tun: man hat gezeigt, dass man weiß, was die Verbrechen waren, man hat gezeigt, dass man weiß, wie schlimm es war, man hat gezeigt, dass man weiß, das Antisemitismus etwas Schlechtes ist.
Aber gerade im schlichten Aburteilen des Vergangenen liegt ein unbewältigtes Problem: mehr als das man weiß „Antisemitismus ist schlecht“, weiß man nicht. Man weiß nicht, was er ist und das ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem: allem Gedenken und Verurteilen zum Trotz nimmt das Wissen darüber, was Antisemitismus ist, nicht zu, sondern ab. Und immer mehr läuft es darauf hinaus, dass davon ausgegangen wird, Antisemitismus, dass sei eine Form der Diskriminierung, und weil man sich artig mit Diskriminierung befasst, kennt man ihn; er ist zugleich bloß eine Diskriminierungsform unter vielen. Viele Menschen werden in dieser Welt diskriminiert: die Frauen, die Ausländer, die Arbeitslosen, die Behinderten und so eben auch die Juden. Und zumindest der Teil der Gesellschaft, der sich den Humanismus noch nicht hat völlig austreiben lassen, hält daran fest: Diskriminierung ist etwas Schlechtes.
Aber der 9. November war kein Tag der gesteigerten Diskriminierung. Er war kein Tag, der schlimm war, weil man ihnen verbat, ihren Beruf auszuüben oder weil man ihnen verbat, weiter im Sportverein zu sein. Der Tag war nicht schlimm, weil man ihnen „Judensau, Judensau!“ hinterherrief; kein schlimmer Tag, weil man nach ihnen spuckte oder nach ihnen trat. Es war kein schlimmer Tag deswegen, weil man ihnen ein Schild mit Schmähungen umhängte und sie damit durch die Stadt trieb, weil jemand einen Juden ausraubte, durch die Straße jagte, um ihn anschließend totzuschlagen. Das alles war schon vorher der Fall gewesen. Das war der Alltag, oder besser gesagt: das ist nur ein Auszug all dessen, was bereits der Alltag war und was ihre späteren Mörder sich für sie ausgedacht hatten, um sie in der Gesellschaft zu isolieren, sie von den anderen zu scheiden, sie also zu diskriminieren. Aber all das war nicht das Schlimme. Das Schlimme war, dass um den 9. November herum es zu Ende war mit der bloßen Diskriminierung. Worum es jetzt ging war nicht mehr bloß Hohn, Spott, Ausgrenzung, Herabwürdigung oder körperliche Gewalt. Worum es seit dem 9. November ging, war: Die Vernichtung.
„Die Judenvernichtung“, dieser entsetzliche Begriff aber ist gänzlich abgeschliffen. Er löst keinen Schauder aus. Der in ihm aufbewahrte Schrecken ist verdunkelt. Man kann ihn benutzen, als verbürge sich dahinter bloß eine Zahl, eine große Zahl, eine Zahl, die bis heute in ihrer Dimension noch ausgehandelt wird, eine Zahl an Menschen, die ermordet wurden. Und wenn wir in die Welt schauen, dann sehen wir so viele Leichen, dass die Juden gar nicht mehr so ins Gewicht fallen. Und genau so ist es auch.
Denn sie fallen nicht mehr ins Gewicht, weil sie keines mehr haben. Denn ihnen wurde alles genommen. Nicht nur ihr Geld, nicht nur ihre Kleidung, nicht nur ihre Haare, ihre Zähne und ihre Leben nahm man ihnen. Selbst den Tod wollte man ihnen nicht mehr lassen. Als Leichen verließen sie nur noch die Gaskammern, ihre Leichen warf man in die Verbrennungsöfen und erst als Rauch lies man sie ziehen, man gab ihnen „ein Grab in den Lüften“, wie Paul Celan es später schreiben sollte. Denn nichts sollte von ihnen bleiben, was an sie erinnern könnte. Selbst die Asche wurde noch nach Knochenresten durchwühlt und diese dann zerkleinert. Die Asche warf man in Flüsse oder verstreute sie weitläufig. Es sollte nicht nur keine Juden mehr geben, es sollte so sein, als hätte es sie nie gegeben. Das war der Vernichtungsplan, den die Nazis verfolgten.
Wenn wir sagen, dass das Wissen über den Antisemitismus schwindet, dann meinen wir damit aber nicht bloß das Wissen von dem, was sich als anhaltende Drohung in ihm verbirgt, sondern dann meinen wir auch, dass vergessen wird, wie er funktioniert, wie er beschaffen ist, wie er sich entwickelt. Und es wäre zu wenig, hier bloß beim Lamenti stehen zu bleiben. Zugleich ist es ganz aussichtslos, ihn hier umfassend darzustellen. Wir wollen dieses Jahr deshalb einen Aspekt des Antisemitismus herausgreifen, von dem wir denken, dass er in der gegenwärtigen Zeit wichtig ist.
Denn die Nationalsozialisten sahen sich selbst nicht als die Bestien, die sie waren. Sie sahen sich als Heroen in einem Kampf Gut gegen Böse, sahen sich als integre Menschen, die hart und streng, aber gerecht waren, die ihre Familie liebten, die das Beste für ihre Kinder wollten. Und dieses Bild hatten sie von sich nicht davor, nicht bevor sie Millionen von Juden überall aus Europa fingen und in rasender Geschwindigkeit in ihre Vernichtungsapparatur brachten. Sie hatten dieses Bild von sich zu der Zeit, wo sie genau das taten, sie hatten dieses Bild von sich, weil sie es taten. Gerade in der Zeit davor hatten sie dieses Bild nicht von sich. Gerade in der Zeit davor litten sie an ihren inneren Widersprüchen, an ihrer inneren Zerrissenheit. Sie litten daran, dass das, was sie wollten, dass das, wie sie sein wollten, sich nicht realisierte. Sie wollten schon vor der Zeit des Nationalsozialismus gute und integre Menschen sein, aber sie waren es nicht. Denn: sie scheiterten an ihren Widersprüchen.
Damit waren sie nicht allein. Und damit sind sie bis heute nicht allein. Darin unterscheiden sie sich nicht von irgendjemand anderem. Die Welt ist voller Widersprüche und sie zwingt allen, die in ihr leben, diese Widersprüche auf, und zwar ungeachtet der Tatsache, ob wir das wollen oder nicht, ungeachtet der Tatsache, ob wir das verstehen oder nicht. Das, was aber die Nationalsozialisten ausmachte, und wodurch sie ihre Attraktivität für eine zunehmende Anzahl von Anhängern gewannen, war, dass sie zum einen diese Widersprüche greifbar machten, und zum anderen auch als veränderbar erklärten. Und dies taten sie, indem sie die gesellschaftlichen Widersprüche mit den Juden identifizierten. Sie erklärten die Juden als für die Widersprüche verantwortlich und eben damit für alles Schlechte in der Welt. Aber eben nicht nur in der Welt im Allgemeinen, sondern ebenso verantwortlich für das Schlechte in den Menschen selbst. Die negativen und destruktiven Impulse, die ausnahmslos jeder Mensch gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen verspürt, wurden als von den Juden ausgelöst und verursacht betrachtet. Dass man selber schlecht war, das war die große Schuld, für die die Juden verantwortlich gemacht wurden. Die eigenen Widersprüche wurden damit aber nicht nur greifbar, sondern auch angreifbar. Der Kampf gegen die Juden wurde zu einem Kampf gegen die eigene Schlechtigkeit und in der Auslöschung der Juden, so dachten die Nationalsozialisten, wäre auch die Ursache für die eigene Schlechtigkeit ausgelöscht. Deswegen musste die Auslöschung so allumfassend sein, denn selbst ein einziger Jude konnte diese Macht ausüben, konnte durch sein geheimes Fädenziehen einen dazu bringen, wider der eigenen Art zu handeln. Und diese Art, dies war und ist bis heute die Vorstellung eines edlen und guten Menschen, der sich durch seine Makellosigkeit und Reinheit gegenüber dem Schlechten in der Welt auszeichnet. Und der Jude ist bis heute in der Vorstellung der Antisemiten verantwortlich für Unreinheit.
und Schmutz. Damit war auch der Grundstein gelegt dafür, sich nicht mehr mit der eigenen Widersprüchlichkeit und dem eigenen Mangel gegenüber dem Bild des guten Menschen abzugeben. Sobald die Schuld dafür externalisiert ist, ist man zwar selber noch nicht ein Deut besser, aber die Verantwortung für den eigenen Mangel ist man los. Er kann erst verschwinden, wenn die Schuldigen verschwinden. Und das ist der Grund, warum bis heute Faschisten aller Art sich mit ihrer eigenen Reudigkeit arrangieren können.
Es gibt wohl in der Gesellschaft keine Gruppe, in der der Widerstand dagegen, andere gesellschaftliche Gruppen für die Widersprüche und Probleme in der Welt verantwortlich zu machen, so hoch ist, wie in der radikalen Linken. Und das ist etwas, was sie sich immer noch hoch anrechnen kann, zumindest da, wo sie diesem Anspruch noch gerecht wird. Aber zum einen finden wir auch in der radikalen Linken anhaltende Versuche, Ansätze und Theorien, die genau dies doch wieder versuchen. Die versuchen, gesellschaftliche Widersprüche zu personalisieren, die verbreiten wollen, dass es doch bestimmte Personen oder Gruppen sind, die die gesellschaftlichen Widersprüche erzeugen. Zum anderen halten weite Teile der radikalen Linken am Gedanken der Reinheit fest, an dem Gedanken, dass es möglich wäre, die Widersprüche aus sich selbst irgendwie herauszubekommen, dass es möglich wäre, sich aus der eigenen Verstricktheit in den falschen Zustand zu befreien.
Ersteres ist daran zu sehen, dass die Möglichkeit der Veränderung immer stärker bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zugeschrieben wird, während andererseits anderen gesellschaftlichen Gruppen die Schuld und Verantwortung am Zustand der Welt zugeschrieben wird. Kurz also: die Menschen eingeteilt werden in Löser und Verursacher der gesellschaftlichen Widersprüche.
Zweiteres zeigt sich darin, dass die Linke sich – genau wie der Rest der bürgerlichen Gesellschaft – immer weiter in moralischen Forderungen, also Forderungen nach dem richtigen und guten Verhalten verstrickt hat, anstatt zu versuchen, die Ursache für die gesellschaftlichen Probleme zu begreifen. Gesellschaftliche Probleme werden universell zu einem Problem der Diskriminierung erklärt und als solche dann versucht, durch Antidiskriminierung zu beheben.
Die Absichten dahinter mögen gut und verständlich sein. Aber gerade in der Aussichtslosigkeit liegt ihre Gefahr. Denn wenn alles nichts hilft – und machen wir uns nichts vor, es hilft alles nichts – dann wird sich am Ende eine Frage auftun, die Frage danach, wieso es nicht gelingt. Und wenn hier die Antwort nicht die Reflexion auf den falschen Zustand ist, dann wird es darauf hinauslaufen, dass irgendjemand Verantwortliches gesucht wird für das Scheitern des Versuches die gute Welt herbeizuführen. Und hierin liegt eine der Gefahren, die in jedem Einzelnen schlummert, am Ende selbst zu dem zu werden, den man heute noch bekämpft.
Politik im Allgemeinen verdichtet sich heute dazu, darum zu ringen, wer der wahre Schuldige an der aktuellen Misere ist. Der Schutz davor, dass dies zu einer faschistischen Gesellschaft führt, liegt darin, dass es niemanden gibt, der eine massentaugliche Vision davon entfalten kann, wer zur Verantwortung zu ziehen ist. Die Hemmung gegen die Gewalt ist noch zu groß. Aber die Kraft der bürgerlichen Gesellschaft zu einem Mindestmaß an innerer Friedfertigkeit ist dabei, zu erlöschen. Die gesellschaftliche Mitte tendiert mehr und mehr dazu, für die Lösung der Probleme die Hemmung vor der offenen Gewalt zu verlieren. Antifaschist:innen heute müssen sich also mit allem Nachdruck gegen diese Gewalt als Lösung für gesellschaftliche Widersprüche und Probleme stellen, insbesondere da, wo es schon zur offenen Gewalt kommt. Zugleich darf aber nicht der Fehler gemacht werden, zu denken, dass die Probleme von denen verursacht werden, die diese gewalttätigen Lösungen voranbringen wollen. Denn diese sind nicht einfach in eins zu setzen mit den Problemen, und sie erzeugen die Widersprüche nicht. Vielmehr sind sie der unreflektierte Ausdruck der Widersprüche. Antifaschist:innen müssen also vielmehr damit aufwarten, dass sie die gesellschaftlichen Widersprüche und Probleme erfassen und in der Folge auch erklären können.
Noch immer wird in den Ruinen der Vernichtungslager nach kleinsten Spuren und Resten der europäischen Juden geschart. Durch die akribische Rekonstruktion der Historiker:innen, die alle Unterlagen zusammentragen, die sie finden können, wird versucht, die vernichteten Juden aus der Luft zurückzuholen und ihnen eine Repräsentation anstelle ihrer zu Staub verbrannten Leiber zukommen zu lassen. Es ist einer der verzweifelten Versuche, die Wunde, die der Nationalsozialismus mit seinem Vernichtungsplan riss, zu heilen. Aber eine Heilung dieser Wunde gibt es nicht. Dies zu begreifen, dass wir heute weniger Mensch sind als davor, wir nicht die Menschen werden können, die wir gerne werden würden, dass die Vernichtung auch dem Humanismus überhaupt eine tödliche Wunde zugefügt hat, lässt den Ermordeten mehr Gerechtigkeit zukommen, als so zu tun, als wäre man den Toten eine gute Gesellschaft und ein wahrer Freund.
youtube.com/watch?v=gVwLqEHDCQE
7. Flugblatt der Antideutschen Kommunisten
Anmerkung der Moderation: Wir haben den Artikel um ein Flugblatt gekürzt, das nicht mit unserem Selbstverständnis vereinbar ist. Das Flugblatt ist jedoch bereits auf de.indymedia.org dokumentiert.