Rezension: „Beyond Molotovs“ – ein umfassender Einblick in globale Strategien gegen Autoritarismus
„Beyond Molotovs“ – ein umfassender Einblick in globale Strategien gegen Autoritarismus
Das Kollektiv orangotango hat in Zusammenarbeit mit einem Forschungsteam die Frage gestellt, was man gegen Autoritarismus unternehmen kann und das Ergebnis in einem aufwändigen Band veröffentlicht
Die Idee zu diesem Werk entstand aus einer Diskussion unter Freund*innen, in der sie feststellen mussten, dass sie zwar ganz viel darüber wissen, wie Autoritarismus arbeitet, welche Mechanismen immer wieder von autoritären Kräften genutzt werden und weshalb es leider immer wieder überall auf der Welt funktioniert, aber nur ganz wenig über – bestenfalls wirksame – Gegenstrategien. Wie arbeiten die? Was bewegt die Leute dazu, an antifaschistischen Aktionen teilzunehmen? Wie schaffen es Menschen, selbst unter den schlimmsten Bedingungen dagegenzuhalten?
Als editorales und forschendes Kollektiv (orangotango) formten die Autor·innen dieses „visuelle Handbuch der Anti-Autoritäten Strategien“ mit zahlreichen Beiträgen über Künstler*innen, Aktivist*innen und Kollektive, die mit ihrem Tun und Schaffen Widerstand leisten, autoritäre Strukturen unterwandern, bloßstellen oder sogar aushebeln. Die Autoren hoffen, dass „Beyond Molotovs – A Visual Handbook of Anti-Authoritarian Strategies“ „ein Tool wird für den internationalen Antifaschismus, den unsere Zeit verlangt und eine Bekenntnis zur Emanzipation.“
Etwas Theorie, umfangreiche Feldforschung und ein Hauch schockierende Praxis
In der Einleitung erläutern die Autor·innen zunächst noch einmal ausführlich, mit welchen Strategien der Autoritarismus arbeitet – nämlich nicht mit Rationalität, Argumenten oder Fakten, sondern emotional und instinktiv. Genau deshalb braucht es gute und durchdachte Gegenstrategien, die, wie der Titel bereits sagt, über Molotovs hinaus gehen. Nicht nur deshalb, weil Molotovs und die Zerstörung, die sie anrichten, nicht sinnvoll sind, sondern vor allem, weil man gegen die unterschwellige und manipulative Politik der autoritären Regierungen und Parteien damit nicht ankommt.
Schon hier gehen die Autor·innen darauf ein, wie der Neoliberalismus und der Kapitalismus immer wieder dem Autoritarismus in die Hände spielen und gehen sogar so weit zu sagen, dass der globale Kapitalismus selbst autoritäre Strukturen angenommen hat. Nach dieser akribischen Analyse des Status quo und wie es zu diesem kam, nehmen die Autor·innen die Leser·innen mit auf eine mehr oder weniger globale Reise durch die Welt des Widerstandes gegen autoritäre Regime, die sie immer mal wieder für solche theoretischen Abschnitte unterbrechen, um den Leser*innen tiefere, wissenschaftliche Betrachtungen näher zu bringen.
Das Buch ist in einer Reihenfolge aufgebaut, die der intuitiven Wahrnehmung einer scheinbaren Verbindung zwischen den einzelnen Beiträgen über die jeweilgen Projekte folgt. Die Vielfalt der Möglichkeiten des künstlerischen und gesellschaftlichen Widerstandes zu sehen, mit ihren Gemeinsamkeiten und Überlappungen, gab dem Forschungsteam eine Idee davon, was es braucht, damit Gegenstrategien erfolgreich sein können. In Schlagwörtern aufgegriffen bilden diese Eigenschaften und Handlungsweisen die Kategorien für die jeweiligen Kapitel.
Als schließlich ein mit der Post aus Südamerika verschicktes Werkstück offensichtlich mutwillig zerstört bei einem der Autoren in Berlin ankommt, erfährt das Kollektiv live und aus erster Hand, wie seitens der Regierungen gegen solche Strategien vorgegangen wird. Was zunächst schockierend sein mag, ist auch ein Indiz dafür, dass selbst autoritäre Regime Angst vor der Wirkung ebendieser Gegenstrategien haben und alles dafür tun, um sie zu sabotieren, zu zerschlagen und zu stoppen.
„Autoritarismus will nichts mehr, als dass du auf deinem Sofa sitzt und dir alles egal ist.“
Und genau deshalb kommen die Aktivist·innen, Künstler·innen und Bürger·innen, deren kreativen Projekten und Aktionen dieses umfangreiche Werk gewidmet ist, raus aus der Resignation ins Handeln. Die antiautoritären Künstler·innen und Aktivist·innen brechen aus der Hilf- und Wehrlosigkeit aus und machen sichtbar, was unterdrückt wird.
Die Effekte der einzelnen Projekte sind ebenso vielfältig, wie die Kunst und die Aktionen selbst. Sie stellen bloß, klagen an und erinnern an schreckliche Ereignisse. Sie unterwandern, übernehmen und leiten um. Sie holen Sich Symbole zurück, die die Regime sich angeeignet haben. Sie machen Utopien zur Realität. Sie konservieren die Wahrheit, erinnern und dokumentieren. Sie geben denen eine Stimme, die sonst niemand hört – wie beispielsweise in den grausamen poetischen Tagebüchern mit Bildern und Texten von und über Geflüchtete auf der Balkanroute.
Die Künstler·innen und Aktivist·innen wagen es außerdem an vielen Stellen, neue Ideen in die Köpfe der Menschen zu pflanzen. Es entwickeln sich zum Beispiel Kommunen, Lebensgemeinschaften, sogar ganze Dörfer aus der Community heraus, die aus der Mischung aus Kunst und sozialem Zusammenhalt entsteht.
Auch wenn die Projekte nicht unmittelbar und vielleicht auch nicht langfristig erfolgreich sind, schaffen sie kleine, stetige Veränderungen und halten den Widerstand aufrecht. Leider sind diese Künstler·innen und Aktivist·innen auch gefährdet und so gibt es immer wieder nicht nur Festnahmen, sondern auch Tote.
“Consequently, one crucial aspect that binds all the contributions in this book together is that they celebrate life over death, connection over individualization, multiplicity over reduction, and chaos over order.”
Das vielleicht wichtigste Handbuch unserer Zeit
„Beyond Molotovs – a visual handbook of anti-authoritarian strategies” ist schon optisch ein echtes Meisterwerk. Es kommt in aufwendiger Fadenbindung und einem rundum bedruckten Schutzumschlag daher, auf dessen Innenseite man schon einen Überblick über die im Buch behandelten Projekte bekommt. Die Buchseiten im Inneren sind in Farbe auf hochwertigem Papier gedruckt und mit zahlreichen Fotos, Bildern und übersichtlichem Layout ansprechend gestaltet, sodass man das Buch immer wieder gerne in die Hand nehmen, darin blättern und versinken wird.
Noch viel wichtiger ist jedoch die Qualität des Inhaltes und auch die ist wirklich großartig. Alle Beiträge, Zusammenhänge und Erläuterungen sind umfangreich recherchiert und aufbereitet, sodass sie für die Leser*innen schlüssig und nachvollziehbar sind und in der bunten Vielfalt der einzelnen Projekte, deren einende Gemeinsamkeiten, die sie zu erfolgreichen Gegenstrategien macht, sichtbar werden.
Immer wieder interessant ist hierbei der Blick von außen auf Europa, den man als hier Lebende·r viel zu selten hat.
Die Autor·innen wünschen sich, dass dieses Werk tatsächlich zum Handbuch wird für den Widerstand gegen alle Formen von Unterdrückung und Ungerechtigkeit und nach der Lektüre teile ich diesen Wunsch von Herzen. In diesem Werk wird sichtbar gemacht, was getan werden kann, um sich gegen Autoritarismus in jeglicher Form aufzulehnen. Es inspiriert, macht Mut und Hoffnung. Ja, man wird beim Lesen immer wieder von Emotionen überwältigt, aber das ist genau das, was es braucht und was wir alle wieder lernen sollten, bewusst zuzulassen, um diese Energie für Ideen und (kreative) Projekte gegen die Missstände in unserer Gesellschaft und in unserer Politik zu verwenden. Denn auch, wenn wir hier das Glück haben, gerade keinem autoritären Regime unterworfen zu sein, gerät unsere Demokratie im Moment mehr und mehr in Bedrängnis und ist keineswegs garantiert.
Was mir persönlich besonders gut gefällt, ist, dass sich die Kapitalismuskritik/die Kritik am Neoliberalismus wie ein roter Faden im „Nebenbei“ mit durch das Buch zieht, denn ohne deren enge Verknüpfung mit autoritären Strukturen klar anzusprechen, wird es auch mit der besten Strategie schwerfallen, den Autoritarismus ein für alle Mal zu zerschlagen.
Wir alle sind gefragt, denn um uns alle geht es!
Am Ende des Buches heißt es „Support your global Antifa“ – am Ende dieses Artikels heißt es „Support your local political artists and activists“, die uns alle unermüdlich aufmerksam machen, wachrütteln und in uns das Feuer entfachen, das wir brauchen um uns zu wehren, die uns vereinen und inspirieren im gemeinsamen, globalen Kampf für eine bessere Zukunft für alle.
Die kleine Liste, die ihr hier im Folgenden findet, ist beliebig erweiterbar. Wenn ihr also findet, dass euer local hero hier mit seinem/ihrem/* Projekt unbedingt dazu gehört, dann lasst es uns wissen. Schreibt uns auf Instagram und wir fügen euere Lieblings-Künstler·innen und deren Projekte gerne noch mit dazu!
The Witches of Westend – feministischer Frauenchor (Instagram: @the_witches_of_westend_choir)
Inan Ercik – Graffiti Künstler und Rapper mit kurdischen Wurzeln (Instagram: @guerillasystem)
We Won`t Shut Up München – feministisches, internationales Kollektiv (Instagram: @wewontshutup_munich)
Etaja – feministische Künstlerin aus Hannover (Instagram: @etaja___)
Der Verlag hat mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
Beyond Molotov
Aurel Eschmann, Börries Nehe, Nico Baumgarten, Paul Schweizer, Severin Halder, Ailynn Torres Santa, Inés Durán Matute, Julieta Mira
Transcript, 356 Seiten
39,00 Euro