Nicht alles strafbar – Catcalling, Upskirting, Sextortion: Hinter diesen Begriffen steckt sexuelle Belästigung

Ein Vergewaltigungsvorwurf überschattet das begonnene Oktoberfest. Nicht nur dort sind Frauen (und Männer) Übergriffen ausgesetzt. Sieben Spielarten der sexuellen Belästigung, die Sie kennen sollten – und was das Gesetz dazu sagt.

Erst seit ein paar Tagen läuft das Oktoberfest in München. Schon jetzt überschattet sexuelle Gewalt das ausschweifende Fest: Einem Sicherheitsmitarbeiter wird vorgeworfen, eine 22-jährige Besucherin vergewaltigt zu haben. Die junge Frau aus Großbritannien sei zuvor gestürzt, was der Mann ausgenutzt habe.

Welches Verhalten die sexuelle Selbstbestimmung einer Person verletzt und damit strafbar ist, ist im Strafgesetzbuch (StGB) im Abschnitt 13 festgehalten. Vergewaltigungen und sexuelle Nötigung werden mit Gefängnisstrafen geahndet, intime Berührungen ohne die Zustimmung einer Person fallen unter sexuelle Belästigung – doch schon weit bevor ein Körperkontakt stattfindet, gibt es Grenzen, die von Tätern überschritten werden.

„Catcalling“, „Upskirting“, „Stealthing“: Viele übergriffige Verhaltensweisen, unter denen in der Öffentlichkeit und im Privaten vor allem Frauen leiden, sind erst in den vergangenen Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, und tragen daher englische Neologismen als Namen. Im Folgenden ein Ausschnitt der Spielarten sexueller Belästigung – und ein Überblick, inwiefern Betroffene rechtlich dagegen vorgehen können.

Das steckt hinter den vielen Namen für übergriffiges Verhalten

Keine Chance gegen „Catcalling“

Eine Form der sexuellen Belästigung, die beinahe jede Frau kennt, ist das sogenannte Catcalling: Der Begriff steht für anzüglich gemeintes Hinterherrufen in der Öffentlichkeit. Auch Pfiffe, Schnalzen, Hupen oder obszöne Gesten werden üblicherweise in diese Kategorie gezählt.

Seit den frühen 2010er-Jahren wird über Catcalls breit diskutiert. Mit dem Video „Ten hours of walking in NYC as a woman“ („Zehn Stunden als Frau durch New York City laufen“) machte 2014 eine Aktivistin auf das Problem aufmerksam, indem sie in ganz gewöhnlicher Kleidung durch New York lief und sich dabei von einer versteckten Kamera filmen ließ – mehr als 100 Mal riefen Männer ihr in diesen zehn Stunden hinterher, einige verfolgten sie sogar mehrere Minuten.

In Deutschland gibt es unter dem Dachverband Chalk Back Deutschland mehrere Instagramkanäle, die die Sprüche, die Frauen sich in der Öffentlichkeit gefallen lassen müssen, an der jeweiligen Stelle mit Kreide auf den Asphalt schreiben und Bilder veröffentlichen.

Catcalling ist bisher weder eine Straftat noch eine Ordnungswidrigkeit und kann daher auch nicht angezeigt werden.

Fotos ohne Erlaubnis: „Upskirting“ und „Downblousing“

Eine weitere Form der Belästigung, bei der es zwar nicht notgedrungenermaßen zu Körperkontakt kommt, die aber die sexuelle Selbstbestimmung und Würde der betroffenen Frauen verletzt, ist das „Upskirting“. Ein „Skirt“ ist im Englischen ein Rock, „up“, also nach oben, zeigt die Handykamera, die Täter Frauen unter den Rock halten, um ihren Intimbereich zu fotografieren. Beim „Downblousing“ (von eng. „down“, „unter“, sowie „blouse“, „Bluse“) wird die Kamera dagegen von oben in den Ausschnitt der Frau gehalten.

In Japan ist das Problem so verbreitet, dass der Gesetzgeber durchgegriffen hat: Um potenzielle Täter abzuschrecken und Opfer zu warnen, lässt sich der Kameraton bei in Japan produzierten Handys nicht ausstellen. Auch in Bezug auf das diesjährige Oktoberfest ist „Upskirting“ Thema.

Ohne Erlaubnis Nahaufnahmen von Menschen zu machen, ist ohnehin strafbar. Seit 2021 sind „Upskirting“ und „Downblousing“ aber auch in Paragraph 184k StGB als eigener Straftatbestand abgedeckt. Die Tat wird mit einer Geldstrafe oder Haftstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet.

Bloßgestellt: Rache mittels „Revenge Porn“

„Revenge Porn“, also „Rache-Pornos“, sind pornographische Inhalte, die mit dem Zweck veröffentlicht werden, der abgebildeten Person zu schaden. Etwa, wenn ein Mann Videos oder Bilder von seiner Ex-Partnerin im Internet verbreitet, nachdem die Beziehung zu Ende gegangen ist.

Die Verbreitung solchen Materials – auch, wenn es ursprünglich im Einvernehmen entstanden ist – ist laut Gesetzgeber eine „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs“ der Betroffenen und kann mit Haftstrafen bis zwei Jahre oder Geldstrafen geahndet werden. Doch selbst wenn sich die Tat nachweisen und bestrafen lässt, kämpfen die Opfer oft jahrelang darum, das Material vollständig aus dem Internet zu entfernen, wo es sich teils rasant verbreitet und von verschiedenen Personen immer wieder hochgeladen wird.

Heutzutage können Täter mittels Deepfake-Technologie Pornos von Menschen erstellen, von denen sie nur ein Foto besitzen. Ein eigener Straftatbestand ist das noch nicht – ein entsprechender Paragraph wird allerdings von vielen Seiten gefordert. Bisher lässt sich der Übergriff über die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verfolgen.

Ausgenutztes Vertrauen: Das ist „Sextortion“

Wer empfindliche Aufnahmen von einer Person besitzt, befindet sich in einer Machtposition. Das nutzt aus, wer „Sextortion“ betreibt – ein Kofferwort aus „Sex“ und „extortion“, Englisch für Erpressung. Dabei erpressen die Täter ihre Opfer mit der Drohung, Nacktbilder oder pornografisches Material von ihnen im Internet zu veröffentlichen.

Oft handelt es sich um eine Masche – der Täter hat das Opfer zuvor unter falscher Identität im Internet kennengelernt und sein Vertrauen gewonnen. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Prostituierte ihre Freier mit Videomaterial erpressten.

Um sich zu schützen, rät die Polizei unter anderem, keine Freundschaftsanfragen von fremden Personen anzunehmen, nicht zu viel Persönliches im Internet preiszugeben, bei Fremden nicht vorschnell Videotelefonaten zuzustimmen. Opfer sollten das geforderte Geld nicht zahlen, den Kontakt abbrechen, alle Chatverläufe speichern und Anzeige erstatten.

Denn auch, wenn keine Veröffentlichung stattfindet, ist Sextortion selbstverständlich strafbar und fällt unter den Tatbestand Erpressung. Wer die gewerbsmäßig oder als Teil einer Organisation ausführt, wird mit Freiheitsentzug „nicht unter einem Jahr“ bestraft.

Lästig und offiziell Belästigung: „Dickpics“

„Dick“ ist im Englischen ein vulgäres Wort für Penis, „Pic“ ist kurz für „Picture“ – ein „Dickpic“ ist eine Fotografie des männlichen Geschlechtsteils. Natürlich ist es, siehe oben, verboten, ohne seine Erlaubnis ein Bild vom Intimbereich eines Mannes zu machen oder zu verbreiten. Die viel häufigere Assoziation mit sogenannten Dickpics ist allerdings das ungefragte Versenden dieser Bilder – oft durch den Penisbesitzer selbst, etwa auf Datingapps, Instagram oder in Messengern wie WhatsApp.

Wenn die Person, die das Bild empfängt, nicht darum gebeten hat und sich belästigt fühlt, kann sie rechtlich gegen die ungefragten „Dickpics“ vorgehen. Geldstrafe oder Freiheitsentzug bis zu einem Jahr drohen dem Absender.

Eine Form von Vergewaltigung: „Stealthing“

Dass es für „Stealthing“ einen eigenen Begriff gibt, lässt tief blicken. „Stealth“ bedeutet im Englischen soviel wie „Heimlichkeit“. Bei diesem Übergriff zieht der Mann beim Geschlechtsverkehr heimlich das Kondom ab – oder täuscht nur vor, eines zu benutzen. Stealthing ist keine sexuelle Belästigung, sondern wird als Vergewaltigung nach Paragraph 177 gewertet und entsprechend bestraft.

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Carolin Burchardt 24.09.2024

„Ich bin vergewaltigt worden“: Wie schwer es ist, diesen Satz laut auszusprechen

Von wegen im dunklen Park: In 80 Prozent aller Fälle finden Vergewaltigungen im persönlichen Umfeld statt. Jana Baumann wurde Opfer von Machtmissbrauch im eigenen Unternehmen. Warum über diese Fälle mehr gesprochen werden muss, wie das gelingen kann und welche Rolle Vergewaltigungsmythen dabei spielen, darüber spricht Baumann im RND-Interview.

Unternehmensberaterin Jana Baumann wurde nach einem gemeinsamen Workshop von einer Führungskraft vergewaltigt. Die Tat, so Baumann, sei aus heiterem Himmel passiert. Niemals habe sie zuvor gedacht, dass sie Opfer von sexualisierter Gewalt werden könnte.

Erst einige Zeit später hat sie gekündigt. Dem Täter ist sie nach der Tat nie wieder begegnet. Bis heute hat Baumann die Tat nicht angezeigt. Noch nicht.

Ein Gespräch über Vergewaltigungsmythen, Kontrollverlust, Machtstrukturen und die Frage danach, wie sich das Rechtssystem ändern muss, damit mehr Frauen Anzeige erstatten.

Die Tat liegt jetzt etwa zehn Jahre zurück. Sie haben sich in dieser Zeit vom Opfer zur Aktivistin entwickelt. Was gibt Ihnen heute die Stabilität und Kraft, sich hinzustellen und zu sagen: „Ich bin vergewaltigt worden.“

Es gibt eine Collage von mir, die bei der Kunsttherapie in der Traumaklinik entstanden ist. Auf der einen Seite ist ein ganz verängstigtes Kind zu sehen und auf der anderen Seite eine kämpfende Frau. Diese Anteile gab es also von Anfang an in mir.

Wofür stand das verängstigte Kind?

Die Tat hat unsagbare, existenzielle Ängste in mir ausgelöst. Angst und Panik in der Form kannte ich so aus meinem Erwachsenenleben nicht. Als Kind kennt man diese Ängste mehr, weil man den Überblick über manche Situationen noch nicht hat.

Nach der Tat hatte ich das Gefühl, dass ich einen Teil in mir beschützen und versorgen muss. Das sind Assoziationen, die man mit einem Kind hat. Da war etwas in mir sehr klein, zerbrechlich und sehr verängstigt. Die wütende Frau wurde hingegen kognitiv erst mal durch Wissen gefüttert.

Dann war es die wütende Frau, die schließlich ein Buch geschrieben hat?

Ja. Zunehmend. Im Gegensatz zu einem Gerichtsprozess, habe ich beim Sprechen und Schreiben die Kontrolle über die Situation. Außerdem das dringende Gefühl, dass wir als Gesellschaft mehr über dieses Thema wissen und sprechen müssen. Daher habe ich erst einmal diesen Weg mit dem Buch gewählt.

Sie haben den Täter noch nicht angezeigt. Es klingt an, als wäre das Thema noch in Ihrem Hinterkopf? Immerhin haben Sie 20 Jahre dafür Zeit.

Das ist sicher eine der härtesten Auseinandersetzungen, die ich mit mir selber habe. Ich bin nicht zufrieden damit, dass der Täter keine Strafe erfährt. Aber über allem stand immer das Gefühl, dass ich mich entscheiden muss, ob ich mich erst einmal um mich selbst kümmere oder ob ich diesen Prozess führen will. Das Thema bleibt präsent.

Die Kontrolle behalten

Ihr Buch trägt den Titel „Unsagbar“. Wieso haben Sie diesen Titel gewählt, obwohl Sie so viel zu sagen haben?

Dieser Titel war mir unheimlich wichtig. Ich wollte, dass das Thema Sprechen darin vorkommt. Ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich über das, was mir passiert ist, sprechen muss, erst einmal nur mit einem kleinen Kreis, den habe ich nach und nach erweitert, bis hin zu diesem Buch. Meine Herausforderung war, sprechen zu wollen und gleichzeitig zu merken, wie schwer das ist, diesen einen Satz „Ich bin vergewaltigt worden“ auszusprechen. Ich musste das selbst erst einmal begreifen, und gleichzeitig war da das Gefühl, meinem Gegenüber mit dieser Information zu viel aufzuladen. Das hatte eine spürbare Schwere.

Hinzu kommt, dass sexualisierte Gewalt in unserer Gesellschaft ein sehr tabuisiertes Thema ist, sodass es unsagbar erscheint.

Ähnlich stark tabuisiert, wie das Thema Tod …

Ja, das ist so. Es gibt Themen, die sind bei uns gesellschaftlich sehr schwer zu besprechen. Das hilft uns aber nicht. Was MeToo auch gezeigt hat ist, in dem Moment wo man Räume öffnet, um darüber zu sprechen, werden ganz viele Stimmen laut. Viele, die sich sonst nicht getraut hätten, darüber zu sprechen.

Wie sah für Sie der Weg vom Unsagbaren zum Sagbaren aus? Gab es den einen Moment, in dem Sie gemerkt haben ‚Jetzt bin ich bereit‘, oder war das ein Prozess?

Das war ein Prozess. Ich habe zwar schon in der Nacht, in der es passiert ist, entschieden, mich einem Kollegen anzuvertrauen, der mit mir bei dem Workshop war. Der Impuls, damit nicht alleine zu sein, der war schnell da. Und gleichermaßen hatte ich eine ganz große Sorge um das Thema und den Umgang damit. Ich habe es beschützt. Mir war wichtig, dass ich entscheide, wer wann davon erfährt. Ich wollte die Kontrolle über das Wissen und die Geschichte behalten. Diese Kontrolle nach und nach abzugeben, das war ein Prozess. Je mehr innere Stabilität ich wiedererlangt hatte, desto mehr konnte ich die Kontrolle über das Wissen wieder abgeben.

Hatten Sie auch Angst oder Sorge, dass man Ihnen nicht glauben könnte?

Das Gefühl war bei mir auch ganz schnell da, insbesondere bezogen auf die Institutionen.

Im Freundeskreis war es also anders?

Da habe ich von Anfang an erfahren, dass man mir geglaubt hat. Das war auch wichtig, um den Prozess des Sprechens immer weiter gehen zu können. Das geht anderen Frauen, denen nicht geglaubt wird, anders.

Als Opfer auf der Anklagebank

Was oder wer hat noch zu Ihrer inneren Stabilität beigetragen?

Ganz sicher waren das auch die Beratungsinstitutionen bei denen ich war, insbesondere die Beratung bei Lara e.V., meine Therapeutin und der Aufenthalt in der Traumaklinik. Das waren verschiedene Stationen, die mir ganz viel Halt gegeben haben. Und die mir außerdem ermöglicht haben, erst einmal zu verstehen, was da überhaupt passiert ist. Wie wirkt sich so eine traumatische Erfahrung aus, und wie kann ein Umgang damit sein.

Was waren die dominierenden Gefühle nach der Tat?

Erst einmal der Schock. Dann Angst. Angst vor dem Täter, Angst vor Reaktionen, Angst davor, was das jetzt für meinen Job, mein Leben und meine Partnerschaft bedeutet. Scham, weil es eben auch so intim ist und sich jemand diesen Raum einfach genommen hat.

Sie haben bereits angedeutet, dass Sie vor allem Sorge hatten, dass man Ihnen in den Institutionen nicht glauben würde. Was waren rückblickend die niederschmetterndsten Momente auf Ihrem Weg zum Sagbaren?

Die gab es auf verschiedenen Ebenen. Zunächst einmal bei der juristischen Beratung, allein die Sprache. Da ging es nicht mehr um mich als Person oder was mir da widerfahren ist. Da wurde es schnell sehr faktisch. Fakten sind in diesem Bereich aber sehr schwierig, Beweise zu erbringen noch viel schwieriger. Da war das Gefühl, dass ich eher auf der Anklagebank sitze, dass ich mein Leben erklären und mich rechtfertigen muss. Das macht mich heute noch zum Teil sprachlos. In diesen Momenten habe ich die Symptome der Nacht gespürt. Ich hatte das Gefühl, dass ich keine Luft bekomme. Der Täter hat mir in der Nacht auch die Luft genommen. Rückblickend weiß ich, dass das klare Alarmsignale sind.

Das klingt so, als seien diese Momente für Sie retraumatisierend gewesen.

Das würde ich auch sagen. Ich habe das körperlich sehr massiv gespürt. So sehr, dass ich das Gefühl hatte, zum Fenster gehen und es öffnen zu müssen, um atmen zu können. Das hat etwas mit Kontrollverlust zu tun, es hat etwas mit einem unglaublichen Ungerechtigkeitsgefühl zu tun. Was diese Nacht ja auch innehat, wie Menschen anderen Menschen so etwas zufügen können.

Problematische Machtstrukturen in Unternehmen

Das bewegt sich für viele sicher weit jenseits der Vorstellungskraft.

Da gab es auch gesellschaftliche Reaktionen, die insbesondere mit MeToo lauter wurden. In der Bewegung gab es sehr viele Stimmen, die sich zum Thema positioniert und mich teilweise sehr erschreckt haben.

Welche waren das?

Da ging es um die Täter-Opfer-Umkehr, die Frage danach, was die Frau gemacht hat, um in so eine Situation zu kommen. Das bezog sich damals auf eine WDR-Praktikantin, die von einem Vorgesetzten sexuell belästigt wurde. Da wurden Äußerungen laut, wie sie denn auch so naiv sein könne, am Abend zu so einem Treffen zu gehen. Ich dachte dann so bei mir: Was bedeutet das jetzt? Bedeutet das, dass wir als Frau­­­­­en damit rechnen müssen, sexuelle Übergriffe zu erleben?

Da schwingt der Vorwurf mit, dass die Frau die Situation durch ihr Verhalten provoziert hat …

Das ist spannend. Andersherum könnte man ja genauso denken, was es für Machtstrukturen in einem Unternehmen geben muss, dass eine Praktikantin denkt, nachts zu so einem Treffen gehen zu müssen, weil sie sonst am nächsten Tag Ärger bekommt. Was bringt eine Führungskraft dazu, nachts eine Praktikantin zu belästigen. Darüber müssten wir sprechen und nicht über ihre vermeintliche Naivität.

… als hätten Frauen die alleinige Verantwortung, verbunden mit der Annahme, dass sie die Kontrolle über die Situation haben.

Wer sich etwas mehr mit Trauma und der Funktion des Gehirns beschäftigt, dem ist schnell klar, dass man in so einer Situation auch in eine Starre verfallen kann. Das war für mich eine beruhigende Erkenntnis, weil ich mir natürlich auch die Frage gestellt habe, warum ich mich nicht mehr gewehrt habe. Ich war nicht erfahren in so einer Situation, ich hatte dafür kein Konzept. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was da passiert ist, außerdem hatte ich wahnsinnige Angst. Der Täter hat mich bedroht. Ich konnte in diesem Moment keine Entscheidungen mehr treffen, stattdessen haben Kopf und Körper entschieden, dass ich in eine Starre verfalle. Eben weil Flucht und Angriff nicht mehr möglich waren. Die Frau trägt da also keine Schuld!
Die Sache mit dem Pumuckl-Dasein

Der Täter war eine Führungskraft aus Ihrem ehemaligen Unternehmen. Wir sprechen also auch von Machtmissbrauch. Inwiefern spielt das bei dem Geschehenen noch mal ein gesonderte Rolle?

Grundsätzlich muss man erst einmal schauen, was eine Vergewaltigung für eine Tat ist. In den allermeisten Fällen passiert sie in einem Kontext, in dem Macht eine Rolle spielt. Es geht nicht um Sex. Eine Vergewaltigung hat mit Sex nichts zu tun. Deswegen spricht man auch von sexualisierter Gewalt. Sex wird nur als Mittel benutzt, um Macht zu demonstrieren. Das ist in allen Strukturen, in denen Macht sehr manifest und patriarchal ist, besonders stark ausgeprägt. Betroffene können sich nur sehr schwer wehren. Diese Strukturen auszunutzen, ist ganz häufig Motiv. Daher spielt es eine sehr große Rolle, auch für mich, weil ich sofort dachte, ich verliere jetzt meinen Job und ich kann nichts machen.

Sie haben nach der Tat noch eine ganze Weile gemeinsam mit dem Täter in dem Unternehmen gearbeitet, ehe Sie entschieden haben, die Firma zu verlassen.

Ich hätte mich in den ersten Tagen nach der Tat auch krankschreiben lassen können für eine längere Zeit. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte dieser Angst gar nicht so viel Platz geben und stattdessen ein Stück weit Normalität zurückhaben. Ich wollte in meinem Beruf meine Kraft spüren, um die Kontrolle zu behalten. Tatsächlich habe ich aber so eine Art Pumuckl-Dasein geführt. Ich musste immer viel reisen und an vielen unterschiedlichen Orten sein. Ich habe die Orte gescannt, die Bahnhöfe. Ich musste immer vorher an Informationen kommen, wer noch alles vor Ort ist, um herauszufinden, ob es zu einer Begegnung mit dem Täter kommen könnte. Das war sehr aufwändig. Obendrein musste ich Geld verdienen.

Was hat Ihnen aus dem Pumuckl-Dasein herausgeholfen?

Ich habe Geld für ein Sabbatical angespart, um mir Freiräume zu schaffen und mich nach einer Klinik erkundigt, um da Klarheit zu bekommen, um so weit wie möglich arbeiten zu können. Gleichwohl wurde mir in allen therapeutischen Kontexten gesagt, dass die permanente Gefahr einer möglichen Begegnung mit dem Täter nicht gut ist und nicht zur Heilung beiträgt.

Dann sind Sie mit einer guten Freundin ans andere Ende der Welt gereist.

Ich habe mit ihr zusammen aufs Meer geschaut und schließlich die Entscheidung getroffen, das Unternehmen zu verlassen. Aber ich wollte nicht einfach so gehen, sondern ich wollte den Grund für meinen Abschied aussprechen.

Jede siebte Frau ist von sexualisierter Gewalt betroffen

Wie ging das vonstatten?

Ich wollte es aussprechen, wohlwissend, dass ich nicht die frohe Botschaft habe, dass der Täter angezeigt und für seine Tat bestraft wurde. Es gab auch Stimmen, die gesagt haben „Das kannst du nicht machen, du bringst damit alle in Gefahr, du traumatisierst deine Kolleginnen und Kollegen“. Am Ende des Tages auch da wieder: Unsagbar! Jeder, der Statistiken auswerten kann, weiß dass diese Übergriffe und Taten in jeder Organisation passieren. Nicht darüber zu sprechen, macht es ja nicht weniger wahr. Als es schließlich so weit war, haben aber auch da wieder alle Kolleginnen und Kollegen ganz toll und mitfühlend reagiert. Sie haben sich dafür ausgesprochen, dass in der Organsiation etwas passieren muss. Im Nachgang sind einige Initiativen entstanden.

Welche denn?

Es gibt ein Training dazu, wie man mit derartigen Situationen umgeht. Außerdem wurden die Strukturen überdacht, etwa wer wen in so einem Fall ansprechen kann. Mit diesen Fragen sollten sich alle Unternehmen beschäftigen. Das ist auch meine Hoffnung, dass ich derartige Prozesse mit meinem Buch anschieben kann. Immerhin ist jede siebte Frau von sexualisierter Gewalt betroffen. Und diese Taten finden häufig in Unternehmen oder im familiären Umfeld statt und eben nicht nur im dunklen Park, wie wir so oft irrtümlich annehmen.

Das Thema Aufklärung über Vergewaltigungsmythen ist Ihnen sehr wichtig: Was würden Sie mit dem Abstand von heute sagen, welche Mythen gehören ein für allemal verbannt?

Weder die Bilder, die wir von vermeintlichen Opfern im Kopf haben, noch die Bilder von vermeintlichen Tätern und Tatorten stimmen mit der Realitiät überein. Also das Bild: Junges Mädchen, leicht bekleidet, eventuell noch angetrunken und der Täter springt aus dem Busch, eventuell noch mit rassistischen Stereotypen verknüpft. Die Zahlen sprechen eine ganz andere Sprache.

Nämlich?

Der Großteil der Taten findet im privaten Nahbereich statt. 80 Prozent der Betroffenen kennen den Täter oder die Täterin bereits. Ja, es gibt auch die anderen 20 Prozent. Und genau auf diese fokussieren wir uns. Es ist aber wichtig, dass wir auch auf diese 80 Prozent schauen. Das sind ganz oft Bereiche, in denen Machtstrukturen ein ganz maßgeblicher Faktor dafür sind, diese Gewalt ausüben zu können, weil sich Betroffene in Abhängigkeitsverhältnissen befinden.

Wann „lohnt“ sich ein Prozess?

Da wird auch klar, warum so wenige am Ende die Straftat anzeigen.

10 Prozent der Frauen, die vergewaltigt werden, zeigen an. Das muss man mal auf sich wirken lassen und sich fragen, warum? Nicht etwa, weil die Frauen feige sind oder sie nicht wollen oder es plötzlich doch nicht stimmt. Da liegen auch so viele Mythen drin.

Woran liegt es?

Das hat ganz viel damit zu tun, wie Gerichtsprozesse ablaufen. Wenn es denn überhaupt zu einem Prozess kommt. Die Frauen müssen sehr früh die Kontrolle abgeben. Von dem Moment an, in dem sie bei der Kripo Anzeige erstatten, geben sie die Verantwortung ab. Und zwar, weil nicht sie anklagen, sondern weil der Staat anklagt. Zumindest dann, wenn die Staatsanwaltschaft nach allen Ermittlungen und Aktenlage nach etwa ein bis drei Jahren entscheidet, dass sich der Prozess „lohnt“.

Nach all Ihren Erfahrungen: Was muss sich in der Gesellschaft und im Rechtssystem ändern, damit Sexualstraftäter, in den meisten Fällen sind es Männer, häufiger für ihre Taten bestraft werden?

Es muss sagbar werden. Wir als Gesellschaft müssen den Raum schaffen und uns überwinden, über derartige Taten zu sprechen. Das ist mit das Wichtigste, dass Frauen das Gefühl haben, sie können sich anvertrauen und zumuten mit dem, was ihnen widerfahren ist.

Von der Politik erwarte ich, dass sie umsetzt, was sie schon lange versprochen hat. Mehr Sicherheit für Frauen zu schaffen, durch ausreichend Frauenhausplätze, mehr Beratungsstellen, die nicht immer unter finanziellem Druck stehen. Frauen müssen Orte haben, an die sie sich wenden können, wo sie Sicherheit erfahren und wo Leute arbeiten, die speziell dafür geschult und sensibilisiert worden sind.

Und was muss in der Justiz passieren?

Zunächst einmal: Warum gibt es bei uns nicht, wie in anderen europäischen Ländern, eine „Ja-heißt-Ja-Regelung? „Nein-heißt-Nein“ war zwar schon ein richtiger Schritt, auch wenn er vermutlich nicht aus innerer Überzeugung, sondern durch medialen Druck nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht entstanden ist. Frauenrechtsorganistionen kämpften seit Jahrzehnten dafür. Das Thema Gewalt gegen Frauen hat einfach keine Lobby, es ist nicht im Fokus. Es müssten viel mehr Gelder in die Justizentwicklung und -verbesserung fließen. Da ist viel Potenzial, vor allem, wenn man sich mit Betroffenenverbänden und Anwält*innen mit Erfahrung in dem Bereich zusammensetzt und sich fragt: „Wie können wir es hinbekommen, dass mehr Frauen anzeigen?“