Der Blick in die Welt – Niedergang und Selbsterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft
Im Frühjahr 2024 veröffentlichten wir unter dem Titel “Zum schlechten Zustand der Welt” den ersten Teil eines umfangreicheren Textes, der sich mit der gegenwärtigen Lage der radikalen Linken beschäftigte. Hier folgt nun der zweite Teil, der sich mit dem Scheitern der bürgerlichen Gesellschaft befasst. Für Ende 2024/Anfang 2025 planen wir den dritten Teil, der sich mit dem Klimawandel befassen wird
Niedergang und Selbsterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft
Als es dem Bürgertum in Folge von Aufklärung und bürgerlichen Revolutionen gelang, eine sich selbst angemessene Gesellschaftsform zu etablieren, da dachten ihre Akteur:innen, dass sie es geschafft, dass sie die vollkommene Gesellschaft erreicht hätten. Sicher, es war nicht gleich alles gut, aber von nun an würde es gut werden, und zwar durch Demokratie, Eigentum, Rechtsstaatlichkeit, allgemeine Menschenrechte, und was nicht sonst noch alles. Der Feudalismus war weitestgehend überwunden und die gottgegebene Herrschaft sollte in die Geschichtsbücher verbannt sein.
Gerade der Aspekt der Menschenrechte ist dabei zentral: Alle Menschen sollten mit den gleichen grundsätzlichen Rechten ausgestattet werden, niemand dürfe sie ihnen mehr absprechen. Dieser Gedanke war zu jener Zeit wirklich radikal. Es gab zwar zuvor so etwas wie die Gleichheit aller Menschen in der Liebe Gottes, aber damit war etwas anderes gemeint, es war nichts, was die Gleichheit der Menschen untereinander regelte. Es war nur wichtig in Bezug darauf, dass Gott halt alle Menschen liebt, und zwar auch ungeachtet der Tatsache, ob man sich gegenseitig niedermetzelte.
Diese überkommenen Vorstellungen sollten nun ein Ende haben. Das Bürgertum war von der Idee – und vor allem von der Idee – fasziniert, dass es mit ihm nun möglich sein könnte, der allgemeinen Irrationalität von Klerus und gottgegebener Herrschaft ein Ende zu bereiten, wenn demokratische Prinzipien sich durchsetzen und der fortschrittliche Teil der Gesellschaft mit den Idealen der Aufklärung zur Geltung käme. Das Privateigentum aller, doch zuvorderst das ihres Standes, wäre durch eine weltliche und damit rationale rechtsstaatliche Ordnung mit transparenten Institutionen gesichert.
Dass zugleich den Drohungen der Natur durch die Entfaltung der Technik endgültig der Riegel vorgeschoben werden könne, wurde zum positiven Zukunftsideal, dem praktisch nichts mehr im Wege stünde. Die menschliche Natur würde rational enthüllt werden und damit Krankheiten besiegt, welche nicht mehr aus Unwissenheit als Strafen Gottes mystifiziert werden würden, sondern als erkennbare, biologische Phänomene zu behandeln seien. Ebenso galt es, das menschliche Verhalten abseits von Kategorien wie die der Sünde mit rationalistischer Theorie zu erkennen. Forschung und Technik in Geistes- und Naturwissenschaften, sollten im Zuge einer allgemeinen Naturalisierung von Mensch und Welt jenen mit sich und der Welt versöhnen. Nichts oder zumindest wenig schien noch unmöglich. Der Hunger würde abgeschafft werden, das Unentdeckte entdeckt und enthüllt, der Mensch fliegen, vielleicht sogar bis zum Mond.
Davon waren die bürgerlichen Fortschrittsgeister so begeistert, dass sie über das sich immer weiter treibende Erdenken ihrer Ideale deren Einlösung und Realisierung hinten anstellten. Selbst wenn es noch Elend gab und selbst wenn sich weiterhin unter nun anderer Überschrift bekriegt wurde, sowie die Versklavung kein wirkliches Ende fand, am Ende würde sich verwirklichen, was nicht aufzuhalten war: Das Bürgertum, welches unerschütterlich die Geschichte auf seiner Seite wusste. Und sie dachten dies ja nicht nur aus Eigeninteresse oder weil sie zwar rationale, doch immer noch Spinner waren, sondern weil sie Gründe hatten, die Zukunft fest in Menschenhand zu wissen, da die Entwicklung der Gesellschaft verheißungsvoll war. Weil es sehr viele Fortschritte gab und weil das feudale System, das von seiner Ungerechtigkeit beseelt war und die klerikale Macht, die jeder rationalen Erkenntnis von Mensch und Natur entgegenstand, überwunden, oder doch zumindest auf die hinteren Bänke der neuen Parlamente verbannt war.
Auch wenn das Bürgertum und die mit ihm verbundenen Entwicklungen in der bürgerlichen Gesellschaft Anlass zur Kritik geben, so stellten doch ihre grundlegenden Ideale einen enormen gesellschaftlichen Fortschritt dar, ohne den das heutige Leben nicht denkbar wäre. Die Behauptung und Setzung der Gleichheit aller Menschen im Sinne eines universellen Menschenbildes und die Rationalisierung und Demokratisierung von Herrschaft standen in scharfem Kontrast zu den vorherigen Gesellschaftsordnungen. Die Formulierung der allgemeinen Menschenrechte und das Ende des Feudalismus sind ohne diesen Schritt nicht denkbar.
Trotzdem blieben die bürgerlichen Revolutionen solche eben jener bürgerlichen Klasse, die dementsprechend auch besonders den Interessen dieser Klasse in einer offensichtlichen Klassengesellschaft zu dienen hatte. Das Bürgertum, welches sich maßgeblich nicht mehr der religiösen Macht und gottgegebenen Monarchie unterordnen wollte, strebte vor allem die Wahrung und Ausweitung ihres Eigentums an. In diesem Sinne ist auch die Entwicklung des bürgerlichen Rechts zu sehen: Als Parallelität von allgemeinen Menschenrechten und Besitzstandswahrung.
So verheißungsvoll die Verkündung der bürgerlichen Ideale auch war, so blieb die Verwirklichung stets hinter der bloßen Formulierung zurück. Und eben an dieser Verwirklichung tun sich die grundlegenden Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft auf, welche an zentralen Punkten über die Jahrhunderte mitgeschleppt wurden. Die Behauptung der Gleichheit aller Menschen auf der einen Seite und der Schutz des privaten Eigentums als Wurzel des gesamten bürgerlichen Rechts auf der anderen, ist einer der Widersprüche, welcher das bürgerliche Ideal quält und dem Bürgertum seine Unzulänglichkeit stets vergegenwärtigt.
Die wirtschaftlichen Interessen der besitzenden Klasse führten zu einer sich immer stärker verschärfenden Ausbeutung der nur ideell gleichgestellten Arbeiterklasse, welche real jedoch weder als Gleiche unter Gleichen angesehen wurde, noch sich selbst als gleichgestellt verstand. Die Vorherrschaft rationalistischer Theorien und das Ideal der Naturbeherrschung führten zu einer umfassenden Industrialisierung der gesellschaftlichen Produktion gegen die Natur und den naturalisierten Menschen, der zum bloßen Glied in der Kette ebenjener Prozesse der Naturbeherrschung geworden war.
Mit den allgemeinen Menschenrechten mag es heute formal gesehen keine Sklaverei im eigentlichen Sinne mehr geben, doch bleiben die Ausgebeuteten als Besitzer ihrer eigenen Arbeitskraft weiterhin die Auszubeutenden im Gegensatz zur vermeintlich aufgeklärten, bürgerlichen Klasse der Eigentümer. Diese Grenze vermag die bürgerliche Gesellschaftsordnung nicht zu überwinden, auch wenn es in der Intensität und Ausgestaltung der Ausbeutung offensichtliche Unterschiede gibt zwischen den kapitalistischen Zentren und der Peripherie. Diese resultieren jedoch weniger aus humanistischen, als aus Gründen des Machterhaltes innerhalb ebenjener Zentren. Dass Arbeitskraft ausgebeutet wird, steht nicht zur Frage, sondern nur das „Wie“. Diese vermeintliche Verhandelbarkeit in der Ausbeutung wird als humanistischer Schleier vor sich hergetragen. So sind und bleiben die bürgerlichen Ideale Ideologie, die mit eben jenen Idealen zwar einen wahren Kern enthält, jedoch durch die Verschleierung ihrer steten Nichteinlösung zugunsten der Besitzstandswahrung der herrschenden Klasse eine Lüge bleibt.
Die innerhalb der bürgerlichen Ideologie formulierten humanistischen Ansprüche scheiterten über die Jahrzehnte nicht nur immer wieder, sondern mussten mitunter hinter die grausamsten Auswüchse der Barbarei, welche aus ihr selbst erwuchsen, zurücktreten. Der im Zuge des Imperialismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sich ausweitende Kolonialismus integrierte nicht gegen, sondern mit dem universellen Menschenbild biologisierende Einordnungen der Rassentheorien. Der erstarkende Nationalismus mündete in zwei Weltkriegen, sowie die Negierung des Individuums zugunsten des völkischen Wahns, welcher im deutschen Faschismus seinen effizientesten Vollstrecker fand. Mit dem Holocaust kehrte die als überwunden geglaubte Vorstellung der Hölle nicht nur als Metapher zurück, sondern wurde in der industriellen Vernichtung zur realen Hölle auf Erden und einer nicht zu überwindenden Zäsur. Einer Zäsur, die jedoch entsprechend der bürgerlichen Ideologie nicht in ihrem Ursprung in und ihrer Gleichzeitigkeit mit einem vermeintlich humanistischen Menschenbild aufgeklärt wurde. Auch, weil es sonst nicht hätte weitergehen können mit dem Schleier ebenjener Ideologie, wurden die Ursprünge der Barbarei in der bürgerlichen Ideologie verdrängt. Weite Teile der besitzenden Klasse hatten ihre Existenzgrundlage nicht verloren und sahen keinen Grund für eine Aufklärung ihres Wahns, der mit der Gründung der BRD nun einfach Geschichte sein sollte. Doch wie es eben so ist mit der Verdrängung, deren Begriff die frühe Psychoanalyse am bürgerlichen Individuum, seinem Leiden und der Unfähigkeit der kritischen Reflexion auf seine gesellschaftliche Lage entwickelte, droht stets die Wiederkehr des Verdrängten.
Diese Tendenz, auf der einen Seite Ideale, welche als anerkennenswert, gar unangreifbar gesetzt werden, vor sich herzutragen und dennoch eine Realität zu produzieren, die diesen Idealen teils zutiefst entgegensteht, wenn nicht sogar diese verneint, prägt die bürgerliche Ideologie bis heute. Zentral ist dabei die sich stets aktualisierende Tendenz in der Wissenschaft, dass es mit der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Art Ende der Geschichte gekommen ist. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert waren die geisteswissenschaftlichen Weichen auf Positivismus gestellt, was nicht mehr bedeutet, als dass es nichts mehr zu erreichen gibt, außer das Bestehende zu erhalten. Reflexion und Fragen nach dem Sinn sind konsequent hinter das Ideal der Naturbeherrschung zurückgetreten. Diese bezieht auch alle gesellschaftlichen Ebenen mit ein, welche im Zuge der rationalistischen Naturalisierung des Menschen ebenso zu beherrschen sind wie Naturphänomene. Aussagen, wie: „Der Mensch ist halt so“ oder der Ausspruch eines sozialdemokratischen Kanzlers: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ zeugen von der Bewusstlosigkeit der bürgerlichen Ideologie, welche nicht erst seit den 1990er Jahren keine Zukunft mehr kennt.
Der gesellschaftliche Umgang mit Krisen und verheerenden Entwicklungen wie dem Klimawandel, die im Besonderen durch die bürgerliche, kapitalistische Wirtschaftsordnung bedingt sind, zeigt nur zu deutlich, dass es innerhalb des vermeintlich progressiven Bürgertums, wenn überhaupt nur zu einer konformistischen Kritik kommt, die ihren geistigen Horizont im grünen, technologisch zu erneuernden Kapitalismus hat. Das nahezu uneingeschränkte Recht auf Eigentum aller Besitzenden, von dem die bürgerliche Klasse im Besonderen profitiert, und die bewusstlose, technologische, wie technokratische Naturbeherrschung bilden den minimalen Kern einer zu ihrem eigenen Erhalt als natürlich bestimmten Gesellschaftsvorstellung.
Dies führt jedoch nicht dazu, dass sich der weitreichenderen Ideale entledigt wird. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Welt werden weiterhin vor sich hergetragen, egal wie verheerend die Realität sich auch entwickelt, da sie die ideologische Legitimationsgrundlage der eigenen Ordnung bilden. Ohne diese jedoch einzulösen oder ihre Einlösung auch nur als gesellschaftliches Ziel sinnstiftend werden zu lassen, verkommen die stets hehren Ideale. Sie degradieren sich selbst zu noch bloßem Gefasel einer am Ende doch immer nur auf ihren eigenen Vorteil beschränkten, bewusstlosen, und deshalb schon seit ihrem Aufstieg auch in ihrem Scheitern zu begreifenden, bürgerlichen Klasse.
Aktuelle Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft
Das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell gilt seinen Apologeten trotz der Unfähigkeit, die idealistischen Werbesprüche für sich selbst einzulösen, als unumkehrbar und natürlich. Und dies, obwohl es stets Veränderungen unterworfen ist. Die Geschichte hat gezeigt, dass die bürgerlichen Gesellschaften in hohem Maße anpassungsfähig sind, so wie es auch von den in ihnen lebenden Individuen verlangt wird. Das zum Dogma gewordene Heilsversprechen der absoluten Naturbeherrschung äußert sich in einem enormen Anpassungsdruck, welcher auf den Individuen lastet, die einem sozialdarwinistischen Ideal von individuellem, wie gesellschaftlichem Fortschritt unterworfen sind. Die Individuen sind dabei schon lange zu nichts als einer Zahl im Produktionsprozess geworden, selbst die persönlichsten Bereiche sind monetarisiert und Individualität ist nicht mehr als ein Ausdruck im zu berechnenden Konsumverhalten.
In seiner propagierten Alternativlosigkeit, welche sich im Besonderen auf das der bürgerlichen Ideologie inhärente kapitalistische Wirtschaftssystem bezieht, sind die Gesellschaften durch den hohen Anpassungsdruck in ihren Entwicklungen äußerst dynamisch und stets von Krisen geprägt. Dabei kann sich ihr Erscheinungsbild bis zur Unkenntlichkeit verzerren, wobei ihr idealistischer, auf rigoroser Sicherung des Eigentums beruhender Kern stets erhalten bleibt. Das sich im Deutschland der letzten 150 Jahre in vier äußerst verschiedenen, durch ökonomische, wie gesellschaftliche Krisen und Abgründe geprägten Regierungsformen erhaltende Industriekapital ist dafür beispielhaft.
Um trotz dieser teils verheerenden Entwicklungen stets den Status quo zu erhalten, bringt die bürgerliche Gesellschaft ebenso den Faschismus hervor, wie vermeintlich friedliche Zeiten der sozialen Zugeständnisse, je nachdem, wohin die Bewältigung der aus ihr heraus sich entwickelnden Krisen die Gesellschaft treibt. Im Angesicht ernstzunehmender Krisen radikalisiert sich das Bürgertum. Doch stößt der gesellschaftliche Prozess dabei stets an eine gläserne Decke und bleibt zurück hinter einer Rechnung mit Verlusten und Gewinnen. So entpuppt sich das in der bürgerlichen Gesellschaft immanente dynamische Prinzip jedes Mal als Wiederkehr des gleichen statischen Verlaufs von Krisen, derer sie, so scheint es, immer weniger Handlungsmöglichkeiten gegenüber entwickeln kann. Der Prozess der Anhäufung von Kapital kennt kein Ende. Das Ziel ist die Verwertung des Werts im Konkurrenzkampf aller gegen alle. Die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen ist dabei nur Mittel des eigentlichen Prozesses.
Die Universalität der bürgerlichen Ideale gilt dabei als bloße Verhandlungsmasse. Gleiche Rechte für ein meist völkisch definiertes Seinesgleichen und der Ausschluss eines stets zu verhandelnden Restes bilden den immer wieder eingeschlagenen Kompromiss mit der eigenen idealistischen Legitimationsgrundlage. Der Kontinent der bürgerlichen Aufklärung steht so immer wieder zugleich für das humanistische Ideal und den Abgrund.
Im durch den Neoliberalismus und seine Krisen geprägten 21. Jahrhundert reagiert die bürgerliche Gesellschaft auf die sie erschütternden Krisen zunehmend mit einer Gleichzeitigkeit von Abschottung nach außen und einer vermeintlichen menschenrechtsorientierten Diversifizierung im Sinne der Antidiskriminierung nach innen. Ein versuchtes Kunststück, welches in Anbetracht einer globalisierten Welt und der historischen Verantwortung für die globalen Zustände einmal mehr ein Ausdruck von Selbstverleugnung ist, denn einer von universellen Werturteilen. Es bleibt so ein hilfloser Versuch, den eigenen Niedergang aufzuhalten oder zumindest zu kaschieren, indem die eigenen Fliehkräfte der sich im Angesicht politökonomischer Krisen radikalisierenden bürgerlichen Gesellschaft nach alten Mustern versucht werden einzufangen. Rechtsradikal mit Frontex und co. nach außen und geradezu linksradikal mit der Übernahme von Forderungen nach Diversität und Gleichberechtigung nach innen. Dabei übt sich das Bürgertum in dem Spagat, sowohl den autoritären Forderungen des rechten Nationalismus als auch denen des urbanen, oft intellektuellen Bürgertums zumindest scheinbar gerecht zu werden. Die Ideale als universelle Rechtfertigungsgrundlage des eigenen Bestehens könne so zumindest als Schleier über dem krisenhaften, globalen Elend im Inneren aufrechterhalten werden.
Die protofaschistischen Nationalisten sind sich ihrer Macht in diesen Prozessen bewusst und wahren stets den Anschein, Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, welcher sie am Ende auch sind, denn den Eigentumsverhältnissen standen und stehen sie nicht entgegen.
Die radikale Linke scheint in weiten Teilen jedoch nicht zu merken oder verstehen zu wollen, welche Prozesse sich vollziehen in einer Phase hohen Anpassungsdrucks und gesellschaftlicher Transformation. Zu erkennen ist auf der einen Seite sowohl ein vermehrter Rückfall in auf groben Lügen basierenden, ideologischen Erklärungsmustern, welche sich in der Bezugnahme auf historische Vorstellungen des revolutionären Subjektes und nationaler Befreiungskämpfe äußern, als auch die stete Anrufung des bürgerlichen Rechts auf der anderen Seite. Es ist eine geradezu verstörende Gleichzeitigkeit von revolutionärer Rhetorik und dem Ruf nach Anerkennung durch die bürgerliche Klasse zu beobachten, welche sich die Unfähigkeit zur Kritik und eigenen, autonomen Urteilen teilt. Anstatt der bürgerlichen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, tritt die vermeintlich radikale Linke vermehrt mit revolutionärer Rhetorik bis hin zu Stalinzitaten auf und verkauft diese als historische Erkenntnisse, worin sich gerade ihre Unfähigkeit zur historischen Erkenntnis erweist. Im selben Moment wird jedoch moralisch hochtrabend die Einlösung der bürgerlichen Versprechen gefordert.
Was bleibt, ist ein nostalgischer Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit, sowie eine Unfähigkeit zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen und des bürgerlichen Rechts im Besonderen. All dies im Angesicht eines sich in Reaktion auf seinen steten, jedoch verschärfenden Niedergang radikalisierenden Bürgertums.
alea • antifaschistisch & autonom (Leipzig, September 2024)