Schutzräume fehlen – Leipziger Frauenhäuser können nicht mehr allen in Not helfen

Seit 2020 hat sich die Zahl der Frauen und Kinder, die im Großraum Leipzig vor häuslicher Gewalt flüchten, mehr als verdreifacht. Zufluchtsorte und Beratungsstellen schaffen nicht mehr, den Bedarf zu decken.

In der schlechten Nachricht steckt auch eine positive Entwicklung. Aber zuerst die erschreckende Botschaft: Die Schutzhäuser in Leipzig und Umgebung schaffen es bei Weitem nicht mehr, die Frauen und Kinder aufzunehmen, die vor häuslicher Gewalt flüchten. Auch die Beratungsstellen kommen nicht hinterher. „Der Bedarf ist viel größer als das, was wir mit den bestehenden Hilfsstrukturen leisten können“, sagt Madeleine Burkowsky. Sie ist die Vorsitzende des Fördervereins sozialer Projekte Leipzig, der neben zwei Frauenschutzhäusern für längere Aufenthalte auch die Zentrale Sofortaufnahme betreibt.

Bei den Opferschutzbeauftragten der Polizeidirektion Leipzig sind im vergangenen Jahr 2544 Fälle häuslicher Gewalt aus Leipzig, Nordsachsen und dem Landkreis Leipzig aufgelaufen. Es ist mehr als eine Verdreifachung seit Beginn der Corona-Pandemie: 2020 waren es 690 gewesen, im Jahr darauf 938, 2022 dann 1714. „Ein massiver Zuwachs“, sagt die Opferschutzbeauftragte Carmen Wendt. „Wir haben große Schwierigkeiten, dagegen zu steuern – und die Beratungsstellen erst recht.“

Erhellung des Dunkelfelds

Die Kommissarin nennt aber auch die gute Nachricht, die in dem dramatischen Engpass versteckt ist: „Wir erleben, wie sich das Dunkelfeld drastisch erhellt.“ Viele Fachleute gehen von einer parallelen Entwicklung aus. Die Zahl der familiären Übergriffe mag zugenommen haben. Aber vor allem wissen offenbar auch mehr betroffene Frauen, wie und wo sie Hilfe erhalten.

„Häusliche Gewalt ist in der Öffentlichkeit zu einem weitaus größeren Thema geworden“, erklärt Wendt. Auch Migrantinnen würden ihre Rechte mittlerweile besser kennen. Darüber hinaus seien die Polizistinnen und Polizisten, die im Einsatz auf mögliche Opfer und Täter stoßen, ausgiebig sensibilisiert und geschult worden.

Standorte der Schutzräume in Leipzig sind geheim

In Leipzig stehen insgesamt 57 Familienzimmer für Frauen und Kinder in fünf Einrichtungen zur Verfügung. Neben dem Förderverein sozialer Projekte ist der Verein „Frauen für Frauen“ Träger zweier autonomer Frauenhäuser, eines davon speziell für geflüchtete Kinder und Frauen. Sieben weitere Plätze bietet der Wegweiser-Verein Böhlen in einem Frauenhaus im Landkreis Leipzig. In Nordsachsen hat der Kinderschutzbund Torgau acht Plätze auf mehrere Gemeinden verteilt. Der Verein Lemann hält in Leipzig zudem eine Schutzwohnung für drei Männer und deren Kinder bereit. Die genauen Standorte sind allesamt geheim.

Die Zentrale Sofortaufnahme in Leipzig ist täglich rund um die Uhr erreichbar. Wer in einer Notsituation in einem der sechs Zimmer Zuflucht findet, soll möglichst nicht länger als eine Woche dort bleiben. In der Zeitspanne beraten die Fachkräfte die Frauen zu möglichen Anschlusshilfen.

Lässt sich ein freier Platz in einem regulären Leipziger Schutzhaus finden? Kommt es für eine Übergangszeit infrage, bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf zu erhalten? Oder ist es aus Schutzgründen ohnehin notwendig, die Stadt zu wechseln? Aber was, wenn die Frau in Leipzig arbeitet und die Kinder hier in die Kita oder die Schule gehen?

Generell tauschen sich die Schutzhäuser bundesweit über ihre Kapazitäten aus. Die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) hält eine Online-Plattform mit einer Deutschland-Karte zur Auslastung auf aktuellem Stand. „Allerdings ist die Karte meistens fast komplett rot“, beklagt Burkowsky vom Förderverein. Soll heißen: kaum freie Plätze.

Haushaltssperre verhindert Aufstockung – Leipziger Mietmarkt angespannt

Wegen des zunehmenden Bedarfs wollte der Förderverein dieses Jahr zwei zusätzliche Schutzplätze schaffen. Der Verein „Frauen für Frauen“ hatte beim Freistaat zudem einen weiteren Platz im Frauenhaus für Geflüchtete beantragt. Wie berichtet, verhindert jedoch eine sächsische Haushaltssperre seit Ende Mai die Umsetzung der Pläne. Und das, obwohl in Leipzig oftmals ein angespannter Mietmarkt die Verweildauer in einer Schutzwohnung noch verlängert.

Der Böhlener Wegweiser-Verein plant für kommendes Jahr eine Aufstockung um drei auf zehn Plätze. Damit ist der geplante Umzug in ein anderes Schutzhaus verbunden. „Wir nehmen alle Frauen auf, egal, woher sie kommen“, betont Kerstin Kupfer, stellvertretende Vorsitzende des Vereins. „Vor sechs, sieben Jahren stammten noch etwa 70 Prozent aus dem Landkreis, jetzt vielleicht noch ein Viertel.“ Sobald ein Platz frei gemeldet wird, ist dieser häufig noch am selben Tag neu belegt. Opfer häuslicher Gewalt zu schützen, ist eine bundesweite Aufgabe. In einer aktuellen Kampagne fordert die ZIF daher eine Erhöhung der Bundesmittel.

Der schlimmste Fall tritt ein, wenn Frauen länger in Gewaltbeziehungen bleiben müssen, obwohl sie diese verlassen wollen. Opferschutzbeauftragte Carmen Wendt: „Für uns als Polizei besteht dann die Herausforderung darin, die Frau auf andere Weise zu schützen.“ Wenn möglich, würden das Familiengericht und das Jugendamt einbezogen. Annäherungsverbote müssten konsequent durchgesetzt werden.

Durch frühzeitige Beratung betroffener Frauen lasse sich die letzte Eskalation manchmal verhindern, sagt sie. „Wie müssen sie sich verhalten, wenn der Täter ständig anruft oder sie über die sozialen Medien kontaktiert?“ Das zu besprechen, könne helfen. Doch die Beratungsstellen sind stark überlastet.

Anders als in einigen anderen Bundesländern oder etwa in Österreich, kann in Sachsen nur ein Gericht einen Täter zu einer Beratung verpflichten. Die Polizisten drückten den Männern zwar eine Info-Broschüre der Täterberatung in die Hand, so Wendt. „Aber nur zur freiwilligen Teilnahme.“ Anja Friedemann vom Kinderschutzbund Torgau sprich von einem „Systemfehler“: „Die Frauen und die Kinder sind die Opfer – aber sie sind es auch, die im Zweifelsfall alles aufgeben müssen.“

Hilfe bei häuslicher Gewalt finden betroffene Frauen rund um die Uhr in der Zentralen Sofortaufnahme: 0341 55010420.