„Fast geheult“, weil plötzlich Impfstoff fehlt
Ärztinnen wie Eva Klatte fallen Impfdosen weg, seit der Gesundheitsminister sie drosseln will. Es hagelt Kritik, auch von Sachsens Gesundheitsministerin.
Fast musste Eva Klatte weinen. Statt 48 versprochenen Impfdosen soll die Gynäkologin aus Leipzig nächste Woche nur noch 18 erhalten. „Ich bin ein sehr nüchterner und strukturierter Mensch, aber das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt sie. „Ich hätte fast geheult. Meine Termine sind bis Jahresende vergeben. Da sind viele Menschen über 70 dabei. Wen soll ich abbestellen?“
Wie Eva Klatte geht es vielen, die mit neuem Stoff gegen das Corona-Virus gerechnet haben. Rund 8,57 Millionen Impfdosen haben deutsche Praxen nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) für kommende Woche bestellt, gut die Hälfte davon Biontech. Bis Dienstag dieser Woche haben sie ihre Bestellungen aufgegeben, Termine für die entsprechenden Mengen längst vereinbart. Donnerstag und Freitag der Schock: Apotheken kündigen an, dass sie oft nur einen Bruchteil liefern können. Millionen Dosen fehlen. Dabei erreicht die Anzahl der Neuinfizierten in Sachsen derzeit täglich einen neuen Rekord. Die Situation auf Intensivstationen spitzt sich zu.
Seit Booster-Impfungen freigegeben sind und immer häufiger 2G gilt, stürmen Menschen ohnehin alle Angebote für Impfungen. Eine Forderung von Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn vergangenen Freitag löste endgültig Chaos aus. Der CDU-Politiker hat angekündigt, künftig nur noch 30 Dosen Biontech-Impfstoff wöchentlich pro Praxis liefern zu wollen, sie sollen häufiger Moderna impfen, damit dieser Impfstoff nicht verfällt. Kurz später hieß es, dass Praxen doch unbegrenzt bestellen dürften. Jetzt erhalten sich plötzlich nicht einmal die ursprünglich versprochenen 30 Dosen.
Der Bund, der über die Impfstoffe verfügt, kann nur etwa die Hälfte der bestellten Biontech-Ampullen liefern, sodass viele Praxen weniger Impfstoff erhalten als sie bestellt haben. Bundesweit fehlen rund 2 Millionen Dosen. Rund 100.000 Ärztinnen und Ärzte haben für nächste Woche bestellt – ein Rekord. Auch bei Moderna ist die Menge hochgegangen, beträgt rund vier Millionen Booster-Dosen. Nicht einmal diese kann der Bund vollumfänglich ausliefern. Mit völligem Unverständnis, großem Ärger und ernster Sorge um den weiteren Erfolg der laufenden Impfkampagne“ reagiert darauf der Deutsche Hausärzteverband.
Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping und ihr Kollegium aus anderen Ländern kritisieren das Vorgehen. „Der fehlende Impfstoff in den Praxen ist ein katastrophales Signal“, so die Sozialdemokratin. „Die Gesundheitsministerkonferenz hat den Bund bereits dringlich aufgefordert, die Kontingentierung schnellstmöglich zu beenden. Ich werde weiter Druck beim Bund machen. Die aktuelle Situation behindert ein zügiges Vorangehen der Impfkampagne. Das ist inakzeptabel.“
Die Kassenärtzliche Vereinigung Sachsen kritisiert am Freitagnachmittag „eine untragbare Situation“, ein „verantwortungsloses Verhalten der Bundespolitik“.
Moderna ist nicht schlecht, aber oft weniger geeignet
Der Impfstoff Moderna ist qualitativ keineswegs minderwertig, soll aber erst bei Menschen ab 30 Jahren geimpft werden und genießt – unberechtigterweise – einen schlechteren Ruf als der Stoff, der in Deutschland entwickelt worden ist. Einige Menschen lehnen eine Moderna-Impfung aus Image-Gründen ab, andere sind schlicht zu jung dafür.
Viele Ärztinnen und Ärzte äußern Verzweiflung und Frustration. „Ich nehme im Moment alles, was ich kriegen kann“, sagt die Leipziger Gynäkologin Eva Klatte. Moderna ist in ihrem Fall nur weniger geeignet als Biontech. „Es ist ein toller Impfstoff, den kann man ohne weiteres verimpfen. Aber meine meisten Patientinnen sind schwangere Frauen und sind jünger als 30 Jahre, sie kann ich nicht mit Moderna impfen.“
„Unsere Schwestern sind halb tot“
Außerdem müsste es ihr mit Moderna gelingen, 20 Boosterungen binnen fünf Stunden vorzunehmen – während des normalen Sprechstunden-Alltags. „Das kriege ich nicht weg.“ Eine Ampulle Moderna gibt 20 Booster-Impfungen her, weil für die Boosterung eine halbe Dosis genügt. Bei Biontech ist das anders. Bei den Erstimpfungen wie auch bei der Boosterung genügt eine Ampulle für sechs Spritzen. „Ich ziehe in der Regel um 13 Uhr auf, dann geht es bis 18 Uhr. Freitags mache ich einen Kraftakt, ziehe um 11 auf und impfe parallel 18 Menschen. Aber fragen sie nicht, wie es uns geht. Unsere Schwestern sind halb tot.“
Eva Klatte hat aus freien Stücken entschieden, dass sie impfen will. Alle Fachärztinnen und -Ärzte können das. „Wir sind in einer Ausnahmesituation. Ich bin Ärztin und behandle alle Menschen. Ich hab mich gut informiert, habe abgewogen, mache ganz ausführliche Befragungen vorm Impfen. Die sitzen zehn Minuten drin und ich erzähl alles. Das ist anstrengend, aber was ist die Alternative? Wenn es einen Flugzeugabsturz gibt, müssen ja auch alle helfen.“ Für Beratung, Impfung, 20 Minuten Beobachtung, Eintrag in den Impfpass und das Zertifikat erhält die Praxis 20 Euro – netto rund die Hälfte.
Forderung nach Rücktritt von Gesundheitsminister Spahn
Klaus Heckemann, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung in Sachsen, fordert den sofortigen Rücktritt des scheidenden Gesundheitsministers Jens Spahn. „Es ist total irre. Wir haben in dieser Woche in Sachsen mehr als 100.000 Impfungen geschafft und jetzt kriegen wir schon wieder einen Knüppel zwischen die Beine“, sagt der Allgemeinmediziner mit Praxis in Dresden.
Klaus Heckemann impft auch samstags und sonntags – pro Wochenende 288 Patienten. Vergangenen Samstag lehnte ein 84-jähriger Patient Moderna ab, obwohl es so geplant war. „Den verfallenen Dreck will ich nicht“, habe er geschimpft. Biontech wurde vorher genau abgezählt und war nicht mehr vorhanden. „Welcher Dauerschaden da bei der Impfbereitschaft bleibt, weiß ich nicht“, kommentiert Heckemann.
Das Bundesgesundheitsministerium antwortet auf eine Anfrage von Sächsische.de zum Impfstoff-Chaos knapp, dass einige Praxen und Impfzentren zu spät bestellt hätten. Nächste Woche würden 11 Millionen Impfdosen an Praxen und Zentren geliefert. In dieser Woche seien bislang 2,7 Millionen Menschen geimpft worden. Ob verspätete Bestellungen tatsächlich massenweise hinter den Problemen stecken, ist fraglich.
Eva Klatte hat ihre Bestellung am Montag abgegeben. „Ich möchte all meine Patientinnen nächsten Woche impfen. Inzwischen habe ich auch beschlossen, dass ich sonnabends die Praxis aufmachen und impfen werde.“ Ihr Vermieter habe Extra-Räume angeboten. „Wenn man in so einer Ausnahmesituation ist, kann es doch nicht möglich sein, dass bürokratische Hürden und starre Bestellsysteme existieren. Es heißt immer, die Hausärzte impfen nicht genug und jetzt werden uns die Dosen gestrichen – was ist denn das?“
Die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen fordert den Bund auf, genug Dosen bereitzustellen. Außerdem würde es Praxen helfen, wenn Kommune, Land oder Bund Personen bereitstellen, die Termine für Praxen vereinbaren und koordinieren. Die Flut an Anrufen in Praxen waren bei einigen das Hauptproblem, das sie kaum mehr bewältigen konnten – bevor dann noch die Impfstoff-Knappheit dazu gekommen ist.