Sachsen zwischen Wut, Widerstand und Corona-Katastrophe: Im Land der vielen Ungeimpften
Sachsen ist Corona-Weltmeister. Wie konnte es dazu kommen? Während die einen mit unterschiedlichem Erfolg zum Impfen aufrufen, scheinen die Gegner der Coronamaßnahmen zunehmend den öffentlichen Diskurs und die Straße zu beherrschen. Wer kann, fährt zum Boostern nach Bayern. Über eine Reise durch Erzgebirge und Vogtland.
Diese Reise beginnt 500 Kilometer vom Erzgebirge entfernt, tief im Westen der Republik. Der Weihnachtsmarkt auf dem Münsterplatz in Bonn erstrahlt am vergangenen Samstag in voller Pracht. Die Inzidenz liegt bei 200, Menschenmassen mit Masken und im 2G-Modus schieben sich vorbei an bunt erleuchteten Buden. Hier sind fast Dreiviertel der Bevölkerung gegen Corona geimpft, es gibt Glühwein, Grillfleisch und gebrannte Mandeln – so wie man es sich in diesen Tagen auch in Annaberg-Buchholz oder Freiberg wünscht. Thomas Aumeier sucht nach dem Stand mit der erzgebirgischen Volkskunst. Der 48-Jährige lebt schon lange mit seiner Familie am Rhein, aufgewachsen ist er in Freiberg. Hier ging er zur Schule, studierte an der Bergakademie. Doch zurück in die Heimat zieht es ihn immer seltener – besonders seit Corona, seit aus Sachsen immer mehr verstörende Nachrichten kommen, seit alte Bekannte dort sich als ungeimpft outen und ihm Leseempfehlungen für Texte von Coronaleugnern schicken. Thomas Aumeier sagt: „Ich habe keine Lust mehr hinzufahren.“
Mit diesen Vorbehalten ist er nicht allein. Stephan Swat sitzt an einem Donnerstagmorgen im Büro der Erzgebirgshalle im Städtchen Lößnitz. Swat ist Trainer des Handball-Zweitligisten EHV Aue, der in der Halle seine Heimspiele austrägt und seine Geschäftsstelle hat. „Auf Auswärtsspielen bekommen wir schon mit, wie derzeit von außen aufs Erzgebirge geschaut wird“, sagt Swat. Hauptsächlich kritisch nämlich. Das schmerzt ihn. „Das Erzgebirge lebt doch vom Tourismus, von Weihnachten, vom Wintersport, vom Wandern.“ Die Tasse Kaffee, die vor ihm steht, ist für ihn alles, nur keine Selbstverständlichkeit. „Ich genieße das sehr. Ich genieße, dass ich dank Wiedereingliederung wieder hier auf Arbeit sein kann. Dass ich Zeit mit meiner Familie und meinen Kindern verbringen kann. Man wird demütig.“
Auf den Tag genau ein Jahr ist es her, da wurde Stephan Swat ins Krankenhaus eingeliefert. Er, der Handball-Trainer, 43 Jahre alt damals. Kurz zuvor war er positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden. „Binnen fünf Tagen ging es rapide abwärts.“ Zwei Monate auf der Intensivstation folgten, er wurde ins Koma versetzt, sein Leben hing am seidenen Faden.
Ein Jahr später leidet er immer noch an den Folgen von Corona. Die Nerven der rechten Hand sind schwer geschädigt, die Lunge lange nicht wieder bei 100 Prozent, an einen Platz an der Seitenlinie während der Spiele nicht zu denken. Nun beobachtet er, wie die Inzidenzen in schwindelerregende Höhen klettern. Wie eine Mitarbeiterin des Vereins, 47 Jahre alt, Corona zum Opfer fällt. Wie die Krankenhäuser in Notbetrieb übergehen, während die Impfquote sachsenweit vor sich hindümpelt. Erst recht im Erzgebirge. Das ist mit 44,8 Prozent absolutes Schlusslicht. Dass die niedrige Impfquote und hohe Inzidenzen zusammenhängen, hat zuletzt die Intensivmediziner-Vereinigung Divi betont. Die allermeisten Wissenschaftler sind sich einig: Die Impfung ist der Schlüssel, die Pandemie zu beenden. Swat und sein Sportverein setzen sich dafür ein, rufen zur Impfung auf.
Im Erzgebirge dringen sie damit bei vielen nicht durch. In seinem Umfeld sind die allermeisten Menschen geimpft, sagt Swat. Darüber hinaus wird der Ton gelegentlich rau. „Wir können doch nicht leiser werden, nur weil die anderen immer lauter werden“, sagt der Trainer. Für die Vorbehalte habe er keine Erklärung: „Weil ich sie nicht verstehe.“ Swat verweist auf die Studien. Das Paul-Ehrlich-In-stitut bekommt Meldungen von jeglichen Impfreaktionen. Dank der großen Menge von Impfungen werden Auffälligkeiten auch bei nur sehr gering erhöhten Wahrscheinlichkeiten registriert und in die Risiko-Nutzen-Analyse der Impfkommissionen einbezogen. So etwa die Empfehlung, den Moderna-Impfstoff erst ab 30 Jahren zu verwenden.
Eine Sprecherin des Instituts verweist darauf, dass bislang 73 Todesfälle erkannt wurden, bei denen ein Zusammenhang mit der Impfung möglich oder wahrscheinlich ist – bei mehr als 100 Millionen Impfungen. „In keinem Fall gibt es Hinweise auf einen gesichert ursächlichen Zusammenhang.“ Demgegenüber stehen bei 5,7 Millionen Corona-Infektionen mehr als 100.000 Todesfälle. Der Nutzen der Impfung ist für Stephan Swat erwiesen, eine Infektion ein Spiel mit dem Feuer. „Ich vergleiche das mit Russisch Roulette. Das spielt doch auch niemand mit einer echten Kugel im Revolver.“ Aktuell aber, so empfindet er, werde eher Impfgegnern die Bühne überlassen. Das könne so nicht bleiben. „Wir alle können da noch mehr tun. Die hiesige Politik muss noch mehr werben.“
Was tut die Politik? In Freiberg, der Berg- und Universitätsstadt, sagt der parteilose Oberbürgermeister Sven Krüger: „Ich bin geimpft, dazu stehe ich.“ Seine Bürger zum Impfen aufrufen mag er nicht. Das müsse jeder persönlich für sich entscheiden. „Wir als Stadtverwaltung schaffen die Voraussetzungen, dass es möglichst einfach ist, was bereits fast 13.000 Impfungen bei uns im Impfzentrum zeigen.“
Den öffentlichen Diskurs in der Stadt bestimmen andere: die Lauten auf der Straße. Am Montagabend sind es 600 Menschen, die unbehelligt von der Polizei durch die Altstadt ziehen – obwohl Versammlungen mit mehr als zehn Personen verboten sind. Vor dem Redaktionsgebäude am Obermarkt rufen einige „Freie Presse – Lügenpresse“. Unter den „Spaziergängern“ ist die Bundestagsabgeordnete Carolin Bachmann von der AfD, eine Frau Anfang 30, die als direkt gewählte Volksvertreterin für Mittelsachsen im Deutschen Bundestag bisher dadurch auffiel, dass sie zusammen mit etlichen Parteikollegen aus Sachsen auf einer separaten Tribüne saß, weil sie einen Coronatest verweigerten.
Den Aufmarsch am kommenden Montag will die Polizei unterbinden. Freiberg sei kein rechtsfreier Raum, betont Stefan Dörner von der Polizeidirektion Chemnitz. Das gesellschaftliche Klima in der Stadt aber könne die Polizei allein nicht verändern. Es brauche eine kritische Diskussion in der Stadtgesellschaft. Der Oberbürgermeister vermeidet hier die Auseinandersetzung. Er verstehe die Meinung der Teilnehmer, hatte er Ende August in einem Interview mit der „Freien Presse“ gesagt. Sein Vize, Baubürgermeister Holger Reuter (CDU), war selbst mitgelaufen. Das sei Reuters Privatangelegenheit, fand Krüger.
Am Tag nach dem jüngsten „Spaziergang“, die Inzidenz im Landkreis kratzt an der 1000er-Marke, steigt der Oberbürgermeister kurz auf eine Bühne auf dem Obermarkt. Es gibt keine Ansprache, aber die erleuchtete Pyramide setzt sich in Bewegung. Es wäre der Tag der Christmarkt-Eröffnung gewesen, nun ist Teil-Lockdown in Sachsen. Es herrscht Weihnachtsmarktverbot und einige Händler haben sich zum stummen Protest vor ihren Buden versammelt. Von einem Aufruf aus Kreisen der „Spaziergänger“ zu einer Lichterkette distanziert sich der Oberbürgermeister.
Doch während selbst Annaberg-Buchholz wegen der Lage in den Krankenhäusern seinen Weihnachtsmarkt noch selbst absagte, hielt Krüger bis zuletzt am Freiberger Christmarkt fest. Er ist verärgert über das Sozialministerium in Dresden, wo er schon Ende September um Planungssicherheit gebeten hatte. Notfalls müsse man absagen, schrieb er damals an Ministerin Petra Köpping (SPD). Doch das Ministerium habe nicht reagiert. „Noch am 16. November, also drei Tage vor der Verbotsentscheidung, wurde unser Hygienekonzept für den Christmarkt vom Landratsamt Mittelsachsen genehmigt.“ Sogar mit Überlastungsstufe in den Kliniken könne der Weihnachtsmarkt stattfinden, hatte es aus dem Ministerium geheißen.
Als am vergangenen Wochenende die abrupte Kehrtwende kommt, lädt Sven Krüger über seine Facebookseite zum Chat ein. Er redet über die Umsetzung der neuen Coronamaßnahmen in der Stadt, spricht von „leuchtenden Kinderaugen“, für die es den Weihnachtsmarkt brauche, beantwortet Fragen. Er hat viele Zuschauer, bekommt Zustimmung bei Facebook. Nächstes Jahr ist seine siebenjährige Amtszeit vorbei, womöglich stellt er sich der Wiederwahl. „Es wäre schön, wenn wir alle gemeinsam durch diese schwere Zeit durchkommen“, sagt er am Ende seines Internet-Auftritts. Was ausbleibt sind Aussagen zur Lage am Krankenhaus, die vielleicht Verständnis dafür wecken könnten, warum das öffentliche Leben dermaßen eingeschränkt werden muss.
Aus Freiberg erreicht die „Freie Presse“ in diesen Tagen auch ein „Offener Brief gegen eine Impfpflicht für Pflegeberufe“. 17 Mitarbeiterinnen des Ambulanten Pflegedienstes der Seniorenheime Freiberg, die von Stadt und Diakonie geführt werden, klagen darin über mangelnde Anerkennung in der Gesellschaft – „und nun womöglich noch eine aufgezwungene Impfpflicht mit einem Impfstoff, dessen Wirkung nicht den gewünschten Erfolg bringt“. Frauen, die in engstem Kontakt zu alten Menschen stehen, schreiben: „Ja, wir erleben gerade, dass sich sehr viele infizieren und ja, es gibt schwere Verläufe, auch Tote. Aber wir sehen auch, dass die meisten Erkrankungen ähnlich einer Grippe einhergehen …“ Heike Kirchner, die Leiterin des Pflegedienstes, erklärt auf Nachfrage, sie habe keine Bedenken, wenn Pflegebedürftige von Ungeimpften behandelt werden, denn: „Wir testen uns permanent, jetzt jeden Tag, und halten alle Hygieneschutzregeln ein.“
Angehörige von Pflegebedürftigen sind entsetzt über solche Aussagen. Toralf Richter in Sayda erlebte eine ähnliche Situation mit seiner hochbetagten Großmutter. Die 88-Jährige, „die Lunge funktioniert noch zu 20 Prozent“, ihr Impfschutz stamme vom Februar, sollte in einer Tagespflege untergebracht werden. Auf die Frage an den Pflegedienst, ob das Personal geimpft sei, sagte man dem Enkel: „Wir haben nicht vor, uns impfen zu lassen. Wir sehen da keinen Grund.“ Toralf Richter, der mehrere Coronatote persönlich kannte, sagt: „Das ist untragbar, wie Autofahren mit Alkohol.“ Seine Oma bleibt nun zu Hause, er will sie keinem Risiko aussetzen: „Für mich wäre das fahrlässige Tötung.“
Die Reise führt weiter, ins Dörfchen Neudorf, im Tal der Sehma, unweit von Annaberg-Buchholz. Die nahe Kreisstadt schaffte es dank ihrer Impfskeptiker in die „New York Times“. Der berühmteste Einwohner Neudorfs hätte in die Geschichte auch gut hineingepasst. Er heißt Jürgen Huss, ist Unternehmer und für seine Weihrichkarzl genannten Räucherkerzen landauf, landab ein Begriff. Dank umtriebiger Ideen hat er sich zum Zugpferd für den Tourismus entwickelt. Ein Dreiseitenhof mitten im Ort umfasst Schauwerkstatt, Leffelstub (Löffelstube) und eine Verkaufsstätte erzgebirgischer Holzkunst. Das Maskottchen der Firma, eine sprechende Räucherkerze mit Hut namens S’Karzl, wurde dank einer Reihe unterhaltsamer Zeichentrickfilme zur Internet-Berühmtheit.
Seit Corona sorgt Huss auch aus anderen Gründen für Aufmerksamkeit. Am 5. November schrieb er auf der Facebookseite des Unternehmens: „Gott ist für alle Menschen da. Deswegen wird auch unser Dreiseitenhof für alle Menschen offen sein.“ Die Ankündigung, die verbindlichen 2G-Regeln zu unterlaufen, bekam tausende Likes, wurde tausendfach geteilt. Manche Kommentare machten ihre Ablehnung deutlich, oft wurden Zustimmung und erzgebirgische Solidarität ausgedrückt. Es war nicht das erste Mal, dass der Räucherkerzen-Macher als Gegner von Coronamaßnahmen auffiel. Zeitweise erteilte er auf seinem Gelände ein Maskenverbot, auf zahlreichen Schildern im Dreiseitenhof sollen philosophisch angehauchte Sprüche Zweifel an der Pandemie wecken und Widerstandskraft beschwören.
„Es bleibt keine Zeit mehr, die Schafe zu wecken“, heißt es auf einem. „Es ist an der Zeit, die anderen Löwen zu wecken.“ Die 3-G-Regel übersetzte Jürgen Huss mit „Gesät, gelogen, gezwungen.“ Dazu ein Porträt der von den Nazis wegen Widerstands hingerichteten Sophie Scholl. Bereits zu Beginn der Pandemie warb das Karzl in einem kurzen Film, den „gesunden Menschenverstand“ zu bewahren. Ein beliebtes Synonym für die Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die „Freie Presse“ wollte den Unternehmer zu den Beweggründen für all das gern befragen. Auch zu dem Vorbild, das er für Angestellte abgibt. Huss lehnte ein Gespräch ab.
Zurück in Annaberg-Buchholz. Marcel Koch führt hier seit einem Jahr die Geschäfte des Erzgebirgsklinikums. Der Landkreis hat es in diesem Jahr mit den anderen Krankenhäusern in Stollberg, Zschopau und Olbernhau unter einem Dach konzentriert. Die erste Welle hatte er noch als Geschäftsführer des Helios Klinikums Aue erlebt. Bereits damals machte er am Ende eines langen Arbeitstages seinem Ärger über eine Verharmlosung der Krankheit in einem viel beachteten Video Luft. Die letzten anderthalb Jahre und die neuerliche Zuspitzung haben den Klinikgeschäftsführer konsterniert zurückgelassen. „Ich bin ein stückweit des- illusioniert über einige meiner Mitmenschen“, sagt er. „Dass sich die Leute so sehr verleiten lassen von offensichtlich falschen Informationen, das hätte ich nicht erwartet.“
Seit Wochen versuchen er und seine Leute bereits wieder, Dienstpläne, Personalkapazität, Betten und Patientenansturm unter einen Hut zu bringen. Alle Kliniken seien längst im Notbetrieb, im gesamten Erzgebirge aktuell nur ein Beatmungsgerät verfügbar. Aktuell würden 160 Covid-Patienten in seinen vier Häusern versorgt – weit mehr, als zur schlimmsten Grippe-Welle an Patienten während der gesamten Saison. „Von den 160 Covid-Patienten werden 40 sterben. Wenn wir Glück haben vielleicht 35. Sie atmen noch, aber sie sind dem Tod geweiht. Es ist fatal, dass das hier billigend in Kauf genommen wird.“
Man sei auch früher schon mal überlastet gewesen, so Koch, aber nicht annähernd in dem Maße. „Am Ende dieser Woche werden wir dann auch die Notfallversorgung einschränken müssen, wenn die Zahlen weiter in diesem Maße ansteigen“, schreibt er bei Facebook. Es ist der Tag, bevor die CDU-Landtagsfraktion „keine Notwendigkeit für verschärfende Maßnahmen“ sieht.
„Wir haben aus den ersten drei Wellen gar nichts gelernt“, sagt Koch. Mit „Wir“ meint er die Gesellschaft. Und die Politik. „Über den Sommer war sie im Wahlkampf-Modus, das Thema wurde ignoriert, das Wunschdenken kultiviert, die Pandemie sei vorbei. Heute sind die Leute enttäuscht, weil sie falsche Versprechungen bekamen.“
Doch das allein ist es nicht. „Vieles hat mit den sozialen Medien zu tun.“ In freier Wildbahn würde niemand irgendwelchem Murks zuhören. Im Internet dagegen schon. „Da werden Sachen infrage gestellt, die Jahrzehnte funktionieren“, ärgert sich Koch. Zum Beispiel die medizinische Maske oder andere einfache Hygienemaßnahmen, die seit ewigen Zeiten Patienten in Krankenhäusern vor Infektionen schützen.
„Und dann werden auf einmal dubiose Studien zutage gefördert, die das angeblich infrage stellen.“ Solche Skeptiker fühlten sich als echte Patrioten, dabei seien sie eher Schildbürger. „Viele wissen in ihrem tiefsten Inneren, dass sie sich vergaloppiert haben“, glaubt der Geschäftsführer. Er hält es teils für pathologisch, also krankhaft, wie mancher dennoch an seinen Überzeugungen festhält. „Sie haben zu viel in ihr eigenes Gedankenkonstrukt investiert. Würden sie zugeben, dass sie sich geirrt hätten, käme das einer Kapitulation gleich.“
Stark verbreitet ist solches Denken auch in Zwönitz. Der Stadt im Westerzgebirge, die in der ersten Welle zuerst ins Rampenlicht geriet, als sich das Virus in einem Seniorenheim verbreitete. Und die nun, immer montags, mit „Spaziergängen“ für Aufmerksamkeit sorgt, bei denen immer wieder Rechtsextreme dabei sind, ohne dass es groß stört. Mal kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, meist schauten die Beamten dem Treiben zu. In einem Aufruf an die Bürger spricht Bürgermeister Wolfgang Triebert (CDU) nun von „kaum mehr nachvollziehbaren Regierungsentscheidungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus“ und bittet zugleich um Weihnachtsfrieden in seiner Stadt. Er sei „fest davon überzeugt, dass sich die überwältigende Mehrheit der Zwönitzer eine Advents- und Weihnachtszeit in Frieden ohne demonstrative Spaziergänge und ohne die daraus resultierenden großen Polizeieinsätze wünscht“, erklärt der Bürgermeister. Vom Impfen ist in dem Aufruf keine Rede.
Michael Tetzner ist Pfarrer in Zwönitz. Am Buß- und Bettag ließ er zum Gottesdienst in der Trinitatiskirche einen „Aufruf zur Impfung“ der Krankenhausseelsorger des Erzgebirgsklinikums verlesen. „Bitte denken Sie in Gottes Namen an Ihre Mitmenschen – und denken Sie an sich!“ heißt es in dem Brief. Die Impfung sei der einzige Schutz, „dass anstehende Operationen nicht verschoben werden müssen, dass kleine Kinder, die plötzlich keine Luft mehr bekommen, trotzdem aufgenommen werden können, dass Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten nicht auf andere Kliniken verlegt werden müssen und Notfälle ein Bett bekommen.“
Die Verlesung des Briefs in der Kirche sorgte für Diskussionen. „Von Gemeindegliedern wurde ich kritisiert, dass sich die Kirche da einmischt“, erzählt Tetzner. Das gehöre sich nicht, es sei die freie Entscheidung jedes Einzelnen, sich impfen zu lassen, habe es geheißen. Der Pfarrer sagt: „Das sehe ich nicht so.“ Für ihn ist die Corona-Impfung eine „moralische Pflicht“, wie es auch der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber formulierte. Impfbereitschaft bedeute Nächstenliebe und Liebe zu Gott. Michael Tetzner sagt zur Impffrage: „Die Kirche schweigt nicht.“ Was ihn am meisten Sorge bereite, seien die alternativen Fakten, die überall im Umlauf seien. In seiner Predigt zum Buß- und Bettag sagte der Pfarrer über die Coronapandemie: „Wer das leugnet, soll ins Erzgebirgsklinikum fahren.“
Und dennoch: Das Thema Impfung bleibt auch in der Kirche im Erzgebirge umstritten. Der Krankenhausseelsorger Wilfried Warnat, der den „Aufruf zur Impfung“ verfasste, berichtet, etliche Gemeinden hätten sich geweigert, den Aufruf zu verlesen. Und ein Pfarrerkollege, der an dem Text zunächst beteiligt war, habe seine Unterschrift zurückgezogen.
Selbst aber wenn sich Erzgebirger plötzlich impfen lassen wollten: Die Kapazität reicht hinten und vorn nicht. Das erleben viele Menschen in Aue, die sich am Mittwoch zum neuen Mini-Impfzentrum der Stadt aufmachen – weil sie es sich doch noch einmal überlegt hatten oder weil sie eine Auffrischung brauchen. Zur Eröffnung des Zentrums sind kurz nach 9 Uhr schon alle Dosen vergeben, viele Interessenten müssen weggeschickt werden. Oberbürgermeister Heinrich Kohl (CDU) will die Mediziner per Brief bitten, sich stärker fürs Impfen zu engagieren. Laut Kassenärztlicher Vereinigung beteiligten sich zuletzt im Erzgebirgskreis 80 Prozent der Haus- und 25 Prozent der Facharzt-Praxen an den Impfungen. In den meisten anderen Kreisen waren es bei den Hausärzten etwas mehr, aber groß sind die Unterschiede nicht.
Die Reise endet kurz hinter der sächsischen Grenze – in Hof in Oberfranken. Am frühen Sonntagmorgen öffnen sich dort die Türen der Freiheitshalle. Wo nach dem Mauerfall Hunderte Ostdeutsche nahe der innerdeutschen Grenze gestrandet waren, haben Landkreis und Stadt Hof eine groß angelegte Impfaktion organisiert. Und die Sachsen sind wieder da.
Boostern in Bayern, lautet die Devise für viele Menschen vor allem im Vogtland. Wer agil ist, impft fremd. In Greiz und Pößneck in Thüringen oder eben in Hof. Menschen werden Impftouristen, weil es zu Hause nicht funktioniert. Bürgermeister aus dem Vogtland fordern per Brandbrief von Sozialministerin Köpping die Rückkehr zu flächendeckenden Testzentren und eine sofortige Wiederbelebung der Impfzentren. Der Freistaat Sachsen verweist auf niedergelassene Mediziner, Impfteams, Betriebsärzte.
In die Hofer Freiheitshalle kann kommen wer will, ohne Termin. Die Schlange ist lang, doch die Organisation perfekt. Im Foyer nehmen zwei Anmeldeteams Ausweis, Krankenkassenkarte, Impfausweis und Aufklärungsbogen entgegen. Von dort geht es in eine von vier Impfkabinen. Für die Aktion wurden Hausärzte ins Boot geholt. Ärmel hoch, Spritze rein, Pflaster drauf. In einer halben Stunde ist alles erledigt.
Am Nachmittag kommt Landrat Oliver Bär (CSU) vorbei. Den Wartenden ruft er freundlich „Grüß Gott“ zu, bedankt sich bei Medizinern und Praxisteams. Die Aktion wird ein großer Erfolg, sie soll wiederholt werden. Mehr als 1300 Impfdosen werden an diesem Tag in der Freiheitshalle verabreicht. Ein mobiles Team des Roten Kreuzes in Sachsen schafft 300. Wenn es gut läuft.