Der Bericht
Am 18. Juni wurde der jährliche Bericht des Schlapphütevereins vom Bundesministeriums der Innereien und für Folklore veröffentlicht. Da wir in einer Demokratie leben, sind die gewitzten Staats-Schnüffler einmal im Jahr verpflichtet, Rechenschaften über ihre Machenschaften abzugeben. Wie einige meiner „linksextremistischen“ Bekannten, habe ich mich (wenn auch mit etwas Verzögerung) als guter Bürger informiert, wie es um die endemischen Krankheiten Vater Staats aussieht. Und ach – wer hätt’s gedacht – der Schuh drückt, wo man hintritt, bei „Rechtsextremisten“, „Linksextremisten“, „Islamisten“, beim „ausländischen Extremismus“ sowie – seit letztem Jahr noch neu dabei – bei „Reichsbürgern / Selbstverwaltern“.
Man wird die inneren Plagen eben einfach nicht richtig los und über ihre wirkungsvolle Bekämpfung wird im VS-Bericht nicht geschrieben. Aber aufklären muss man über sie – zumindest einige Informationen verbreiten. Denn immerhin ist die Bevölkerung aufgerufen, des personifizierten, imaginierten Über-Ichs der Herrschaftsordnung beizustehen, um in seinem Namen zu denunzieren – immerhin leben wir in einer Demokratie. Und so oder so stimmt es: Ohne seine Aktiv-Bürger*innen könnte der Staat seine Augen, Ohren und Nasen längst nicht so weit ausstrecken, wie er’s tut und gern noch weiter täte. Mit einer allseits bekannten und wenig überraschenden Besonderheit: Bei Nazis und anderen Faschisten versagt die Wahrnehmung der Überwachungsorgane doch außerordentlich.
Jedenfalls war der obskure Schnüffelverein nach seinen blöden Pannen mit dem ganzen NSU ziemlich diskreditiert. Man denke an den Aufbau des sogenannten „NSU“, seine Überwachung, Verschleierung, Relativierung, und nach der Selbstenttarnung: der Vertuschung, bis hin schließlich zu einigen Bullen aus Frankfurt, die dann in seinem Namen noch mal Drohbriefe schrieben. Seit geraumer Zeit jedoch wurde das Image der Überwachungsorgane wieder aufpoliert durch vier Maßnahmen: Erstens wurde der real bedrohliche Antisemitismus als Staatsdoktrin missbraucht und zweitens die AfD mal ins Gebet genommen, denn es hat sich – völlig überraschend! – herausgestellt, dass diese Partei im Kern neofaschistisch ist. Dafür musste man drittens das Gespenst der Bedrohung des „Linksterrorismus“ herumgeistern lassen und viertens die ein oder andere putschistische Reichsbürger-Bande hops nehmen.
Was letztere angeht, will man ihnen die gehorteten Waffen nicht lassen. Sie sind nur bis zu dem Punkt akzeptabel, wie Ministerentführungen, Bombenanschläge, Todeslisten und verschwindende Munition, keine phantastischen Konstrukte mehr bleiben. Eigentlich beängstigend ist die Erkenntnis, dass es Irre gibt, welche den Schwachsinn glauben, den sie von sich geben, und tatsächlich davon überzeugt zu sein scheinen. (Ein ordentlich ausgeführter und strukturierter Putsch bleibt dagegen für die herrschenden Klassen immer eine Notoption, denn der Ausnahmezustand bestimmt über die Norm.)
Daher also die neue Kategorie der „Reichsbürger“. Denn in der Rechnung macht es sich nicht gut, ihre 25000 gezählten Mitglieder einfach den „Rechtsextremisten“ zuzuschlagen. Denn dann wären jene nicht „bloß“ 41800 – und damit nur wenige mehr als die 39000 gezählten „Linksextremisten“, zu denen man nun wiederum nicht die 27.480 „Islamisten“ dazu zählen kann. Übrigens werden links und rechts beim „auslandsbezogenen Extremismus“ (30.650) einfach zusammen gezählt. Sonst würde die ganze Hufeisentheorie ja nicht aufgehen und müsste man sich wirklich inhaltlich damit beschäftigen, was die jeweils kriminalisierten Akteure so denken und sagen. – Egal ob PKK oder Graue Wölfe: Ausländischer Extremismus bleibt ausländisch, also ist auch seine Ideologie und Organisationsweise ausländisch.
Andererseits sieht man im Inland ja auch rechts wie links nur Staatsfeinde. Nicht zuletzt sorgten und sorgen konservative Politikwissenschafts-Professoren dafür, diese Paranoia zu schüren, statt sich einfach mit Nazis oder den Widersprüchen des staatlichen Kapitalismus auseinander zu setzen. Die inhaltliche Beschäftigung geschieht allerdings nur äußerst oberflächlich, es sei denn, man kann strafbare Aussagen zählen. Was stattdessen zählt, ist die Observation der überzeugten Gehorsamslosen, damit man sie adäquat eindämmen kann. Dahingehend sollte sich allerdings niemand Illusionen machen: Was im Verfassungsschmutzbericht steht und über welches Wissen die Behörde tatsächlich verfügt, sind zwei paar Schuhe. Oder müsste man lieber sagen: zwei verschiedene Ordnerregale?
Wenn anarchistischerseits explizit die Seite anarchismus.de erwähnt wird – und das etwas albern ist, weil alle wissen, dass es sich dabei eher um eine Oberflächenerscheinung handelt – kommen darin zwei bittere Wahrheiten zum Ausdruck: Erstens sieht der VS tatsächlich kaum Akteure auf der „linksextremistischen Seite“ als relevant an, weil kaum welche offen auftreten und zweitens verfügen von jenen, die offen auftreten, nur ganz wenige über eine signifikante Reichweite. (Und machen wir uns nichts vor: Auch diese ist nicht besonders hoch…) Da der VS-Bericht nichts enthält, was über die Arbeitsweise der Behörde Aufschluss gibt, suggeriert man dann der Ministerin FAESER, mit der „revolutionären Nachbarschaftsarbeit“ hätten sich die Anarchist*innen nun eine ganz neuartige Strategie überlegt. Hört, hört, was für eine perfide Vorgehensweise sich die irren Bombenleger da wieder ausgedacht haben!
Allgemein wird dem „linksextremistischen“ Lager eine „Radikalisierung“ beim „militanten Antifaschismus“ unterstellt, wobei die Klimabewegung als von Linksextremist*innen „unterwandert“ dargestellt wird. Im ersten Fall prügelt der Staat auf alle Antifas ein, führt Hausdurchsuchungen durch, observiert sie. Der „Tag X“ am 3. Juni 2023 diente dementsprechend folgerichtig zur Konstruktion der viel beschworenen linken Gefahr. Im zweiten Fall wird „Ende Gelände“ nun als Trojanisches Pferd in der sonst vermutlich als grüne Vorfeld-Bewegung angesehenen Klimabewegung ausgemacht – die quasi wie Joschka Fischer vom Steinewerfen den Sprung ins Parlament finden könnte. Und wen würde es wundern, denn Kampagnen führt man ja in beiden Sphären der Politik durch… Um diese Einstufung zu ermöglichen, wurde nicht zuletzt viel Hetze in den Volksverdummungskäseblättern betrieben.
Doch zurück zu den Anarchist*innen – der VS konstruiert sich auch hier das Phantom zurecht, welches er braucht, um dann so zu tun, als wäre er fleißig bei der Schnüffelarbeit gewesen: Da wird vor der FAU gewarnt, welche ihre umstützlerische Ideologie ganz hinterlistig verstecken würde. So ein Schwachsinn, als wenn die paar autonomen Gewerkschafter*innen grundsätzlich nicht völlig offen mit ihren Vorstellungen umgehen würden! Etwas bedenklicher ist aber die Auflistung von Anarchistischen Bibliotheken und Buchmessen als Horte des großen Komplotts. Hier wird richtig viel Panik geschürt, damit auch ja keine Gelder von der Behörde abgezogen werden. Aber fair enough – immerhin würdigt man die Medien Buch und Broschüre für ihre potenzielle Gefährlichkeit. Das wertet meine Tätigkeiten etwas auf und ich kann weiter daran arbeiten, dass die Autonomen sich auf ihre anarchistischen Wurzeln besinnen (S. 181). Aber als Einzelperson bin ich selbstredend keinen Bericht wert, während die Akte über mich wohl dennoch geführt wird. Zumindest in Sachsen, denn: Es gibt ja gar nicht so viel zu beobachten, wie man’s gerne hätte.
Etwas interessant und inspirierend ist auch, wie der Verfassungsextremist die „linksextremistischen“ Strategien beschreibt. So griffen „Linksextremisten“
„gezielt tagespolitisch bedeutsame Themen auf, um Einfluss auf gesellschaftliche Diskussionen und Prozesse zu nehmen. Linksextremistische Positionen sollen so in den gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet und zivildemokratischer Protest um eine militante Komponente ergänzt werden. Im Kern geht es Linksextremisten dabei vor allem um die Delegitimierung des demokratischen Staates und seiner Institutionen. So wird der Staat fortwährend als ‚faschistisch‘ und ‚rassistisch‘, rechtmäßiges staatliches Handeln als ‚repressiv‘ oder ‚Polizeigewalt‘ diffamiert. Damit soll das Vertrauen in den Staat und seine Legitimation gezielt untergraben werden“ (S. 188).
Mir gefällt der Ansatz ziemlich gut, die faschistischen, rassistischen und repressiven Aspekte des „demokratischen Staates und seiner Institutionen“ zu entlarven und so breit wie möglich zu skandalisieren. Wenn es stimmt, dass es keine Polizeigewalt gibt, keinen institutionellen Rassismus, keine Faschisten in den Behörden und keine Scheiß-Repression, dann hat Vater Staat ja wohl nichts zu befürchten, der rechtschaffene Leviathan. Anders sähe es natürlich aus, wenn er sich in vielerlei Hinsicht als – bisweilen offene und in seinem Kern grundlegende – eiserne Machtmaschine zur Aufrechterhaltung, Legitimierung und Durchsetzung von politischer Herrschaft herausstellen würde.
Wie man ohne den VS mit den ganzen Nazis, Islamisten, Reichsbürgern und der AfD umgehen soll?! Keine Ahnung, aber in vielerlei Hinsicht beweist der VS, dass er insgesamt keineswegs Teil des Problems und nicht der Lösung ist.
(* Bild mit CC-Lizenz von: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Il_Detective_Visco_Gilardi.jpg)