Nach mutmaßlichem nächtlichen Anschlag: Punkrock in Colditz findet statt
Am frühen Samstagmorgen werfen Unbekannte größere Steine ins Colditzer Bürgerzentrum. Es ist jener Ort, an dem nur Stunden später ein viel beachtetes Konzert starten soll.
Die Nachricht verbreitete sich am Sonnabend schnell: Unbekannte warfen in den frühen Morgenstunden größere Gesteinsbrocken ins Colditzer Bürgerzentrum. Die Bilanz: drei geborstene Scheiben, eine kaputte Jalousie.
Chris Graupner von der Polizei in Leipzig bestätigt das auf LVZ-Nachfrage: „Es entstand ein Sachschaden von rund 1500 Euro. Die Ermittlungen laufen. Noch gibt es keine heiße Spur.“ Ein politischer Hintergrund könne nicht ausgeschlossen werden, so Graupner.
Auch Journalist Thomas Datt, der seit Jahren zu Colditz recherchiert, sieht einen möglichen Zusammenhang mit dem am selben Tag geplanten Punkrock-Konzert: „Colditz hat eine mehrgenerationelle und dominierende rechtsextreme Szene“, twitterte er auf X.
Konzert fällt nicht aus
Thomas Tänzer vom Bildungs- und Sozialwerk, Betreiber des Bürgerzentrums, ließ sich von dem nächtlichen Zwischenfall nicht beirren: „Wir denken gar nicht daran, das Konzert ausfallen zu lassen.“ Jetzt erst recht, sagten auch seine Mitstreiter. Die Verursacher stehen für sie fest: „Wir können eins und eins zusammenzählen.“
Die privaten Veranstalter sicherten die Eingangstür sowie ein ebenfalls zertrümmertes Fenster mit Holzbrettern und Pappe. Gegen 19 Uhr konnten sie mit dem Einlass beginnen. Unter den Helfern auch Hartmut Lehmann. Der Colditzer ist Initiator des Kulturmarktes.
Angefangen hatte damals alles mit Corona und den sogenannten Montagsspaziergängern: „Ich wollte die Sieg-Heil-Rufe nicht tatenlos hinnehmen“, sagte er – und meldete auf dem Marktplatz eigene Kundgebungen an.
Leute folgten seinem Aufruf. Sie spielten Federball. Es gab Musik. Kinder bastelten. Und: Es wurden Tische und Stühle aufgestellt. Sehr viel früher als andernorts baten die „Marktbesetzer“ zum Dialog. Es war die Geburtsstunde des Kulturmarktes.
Preisgekrönter Verein macht sich stark
Colditz war gestern. Heute ist Coolditz. So jedenfalls nennen die Künstler und Lebenskünstler ihren Ort am liebsten – zumindest zwischen den Zeilen. Kulturmarkt heißt der preisgekrönte Verein, der furchtlos in der viel zitierten „Stadt der Angst“ agiert.
Während Viele auf den Gerichtsprozess in Leipzig schauen, bei dem sich nach Razzia und Drogenfund ein Colditzer Vater mit seinen beiden Söhnen verantworten muss, sorgen Jörn und Jule, Anna und Anja, Mario und Marko für frischen Wind.
Mit Indie-Folk auf dem Marktplatz, gepflegten Violinenklängen in Ebbis Haus am Berg sowie Französischem Nachmittag samt Boule und Baguette auf der Rathaus-Wiese ködern sie die Einwohner. Die kommen, wenn auch noch nicht so zahlreich.
Vor Wochen folgten sie der Einladung des Kollektivs der Utopischen Tafel, um zu reden, wie das damals nach der Wende war, als die „Porzelline“ verschwand und das berufliche Leben in Scherben lag. Das zerdepperte Geschirr konnte, wer mochte, gleich mitbringen.
Stadt war lange traumatisiert
Der symbolische Sprung in der Schüssel ist eine Angelegenheit für die japanische Künstlerin Ai Moliya, die ihn mittels Kintsugi-Technik kitten kann. Fernost hilft Ossiland – und das 15 Jahre nach dem Neonazi-Großangriff auf eines der letzten Punkkonzerte von Colditz.
Damals, es waren die späten Baseballschlägerjahre, rückten etwa 100 Rechtsextreme aus der Region an, um mit dem Betonfuß eines Sonnenschirms die Scheiben der alten Turnhalle einzuschlagen, Sprengböller und einen Nebeltopf aus NVA-Beständen zu werfen.
Die Geschehnisse von einst traumatisierten die Stadt für lange Zeit. Umso bemerkenswerter, dass es seit diesem Jahr wieder Punkkonzerte gibt. „Club Riot“ heißt die Reihe im Bürgerzentrum: „Im Mai gab es die erste Auflage, am Samstag folgte Teil zwei“, sagt Thomas Tänzer.
Tänzer leitet in dem Objekt die offene Kinder- und Jugendarbeit. In dem Haus am Ortsrand treffen sich ukrainische Flüchtlinge zum Kaffeetrinken und lernen Asylbewerber die deutsche Sprache. Es ist zudem die Heimstatt der Strickfrauen und des Männerchores.
Polizei: Konzert ohne Zwischenfälle
Das Konzert vom Samstag mit 80 Teilnehmern in der Spitze verlief störungsfrei, informiert die Polizei. Die Beamten waren in der Nacht mit zusätzlichen Streifen vor Ort. Auch Hartmut Lehmann ist zufrieden, von „rechten Provokationen“ abgesehen, wie er der LVZ mitteilt.
Ronny Kriz vom Bildungs- und Sozialwerk war noch am Tag des mutmaßlichen Anschlags vor Ort, um sich ein Bild vom Ausmaß der Schäden zu machen. Er zeigte sich genauso entsetzt wie der parteilose Bürgermeister Robert Zillmann: „Solange ich im Amt bin, war dort nie etwas passiert.“
Zillmann begrüßte, dass das Punkkonzert dennoch stattfand. Er stehe auch weiter für ein buntes Colditz. Besucherin Fiona, 20 Jahre, ist glücklich darüber, dass es endlich wieder Punkrock in Colditz gibt: „Sonst musst du dafür immer in die großen Städte fahren.“
Mulmiges Gefühl bei Bands
Auch Jenny, Bassistin der Leipziger Band „SchlagsAite“, freut sich, dabei sein zu können: „Man hört und liest viel über Colditz. Ziemlich braun soll es hier sein. Umso wichtiger ist es, Flagge zu zeigen“, sagt die junge Punkerin mit Irokesenschnitt.
Auch Simon von der Bad Lausicker Band „Kapitän in Not“ gesteht, dass ihm angesichts der eingeschlagenen Scheiben schon mulmig zumute sei: „Klar, wir spielen eben nicht in Leipzig. Da achtest du drauf, wo dein Auto steht und wo die Fluchtwege sind.“
Soundmaster Jörn mischt die Töne ab. Jörn ist Mitglied vom Kulturmarkt. Der Verein ist wie ein Kitt in der Stadt, verbindet sie alle – Motorradfahrer von Kuhle Wampe, Imker, Fotofreunde, Strickclub, Schäfer bis hin zu manch örtlicher Kneipe.
Konzerte gibt es längst auch andernorts in Colditz – im „Waldschlösschen“, genannt Ratte, etwa und im Steinbruch Möseln. Betreiber Gerd Hinkelmann: „Wir hatten allein in diesem Jahr zwei Festivals.“ Es scheint weiter zu gehen – in Coolditz.