Kritik der Privilegien

Gliederung

Einleitung
Standardisierung von (Minderheiten-)Benachteiligung als Maßeinheit
Privileg als Vorteil
Privileg als Analysekategorie
Emanzipatorische Möglichkeiten

Einleitung

„Cis Männer müssen ihre Macht abgeben, indem sie ihre Privilegien reflektieren.“1 „Alle Weißen sind Rassisten, weil sie Privilegien besitzen.“2 Wer kennt sie nicht? Sätze, die schon beim ersten Hören durch ihre Abstrusität und Verallgemeinerungen falsch klingen. Es ist schwer auf solche Aussagen nicht emotional zu reagieren. Der Text möchte aber genau dies vermeiden. Er soll keinen gehässigen Feuilleton- Artikel, sondern eine systematische Kritik an dem soziologischen Begriff „Privileg“ darstellen. Der Text müsste dafür eigentlich auch eine Kritik an Grundlagen und spezifischen Ausprägungen des Postkolonialismus, Critical Whiteness, Queerfeminismus und Poststrukturalismus beinhalten, dies würde aber den Umfang des Textes sprengen. Es muss dennoch möglich sein, gewisse Praktiken und theoretische Irrwege zu kritisieren, ohne alle damit zusammenhängenden Theoriegebäude zu behandeln. Fehlende Querverweise, historische Darstellungen und evtl. Wissenslücken, sollen daher bitte verziehen werden. Aber ist dies auch nicht genau das, was Critical Whiteness und andere poststrukturalistische Strömungen immer wieder mit ihren Gedichten und belegfreien Kurztexten propagieren?

Der Text möchte mit einem soziologischen Begriff aufräumen, der es völlig zu Unrecht geschafft hat, sich in der Wissenschaft und in der linksradikalen Szene zu etablieren. Es erfolgte zwar schon viel akademische Kritik an den neuen poststrukturalistischen Identitätspolitiken,3 aber eine wissenschaftliche Kritik an dem „Privilegienbegriff“ fehlt bisher, von einigen journalistischen und persönlichen Polemiken abgesehen.4 Das Ziel des Textes ist somit, eine unwissenschaftliche und vereinzelnde Praxis aufzugeben, um tatsächlich intersektional zu kämpfen. Der Text richtet sich daher nicht gegen eine konstruierte angebliche „Identitätspolitik“ und deren zugeschriebenen Ideologie, also Intersektionalität, Postkolonialismus, Queerfeminismus oder Forderungen nach Repräsentation, Anerkennung und Akzeptanz. Der Text soll vielmehr aufzeigen, warum die Privilegientheorie weder intersektional noch emanzipatorisch ist. Die Gliederung des Textes erfolgt nach einem wissenschaftlichen Aufbau, von der Definition bis hin zu den realen Auswirkungen des Konzepts und widerspricht damit nacheinander allen Argumenten, die für den Privilegien-Begriff sprechen. In den ersten zwei Kapiteln wird die soziologische Neuformulierung/Definition des Begriffes zurückgewiesen. Im dritten Kapitel wird die Bedeutung des Begriffes als (moralische) Analysekategorie widerlegt. Im vierten Kapitel werden die fehlenden Emanzipationsmöglichkeiten des Begriffes diskutiert.

Standardisierung von (Minderheiten-)Benachteiligung als Maßeinheit

Was ist ein Privileg? „The first is between ‘spared injustice’ privileges […]. The former involves a person of color suffering an unjust treatment of some kind while a White person does not. (The White person is spared the injustice of discrimination.)“5 Das erste Argument ist somit das Nicht-Erfahren von Diskriminierung. Es kommt dadurch zu einer Bedeutungsänderung des Wortes „Privileg“. Früher wurden Privilegien als besondere juristische (Vor-)Rechte von Einzelpersonen (bspw. Bergbau-Schürfrechte, Krönung oder Investitur) oder materielle, relativ einzigartige Möglichkeiten (bspw. Bildung an Eliteuniversitäten) angesehen. Im Mittelalter und der Neuzeit war „Privileg“ damit eine Bezeichnung für einen Vorteil, den nur eine Minderheit besaß.

Poststrukturalistische Ideologien, wie Critical Whiteness, änderten die Bedeutung des Begriffes. Der Begriff bedeutet nun, dass das Fehlen von rassistischer, sexistischer und ökonomischer Diskriminierung ein Privileg ist. Es kommt zu einer radikalen Verkehrung von Mehrheits- und Minderheitskonzeptionen. Strukturelle Diskriminierung wird als Erfahrung der Mehrheit der Bevölkerung und damit als Normalität dargestellt. Das Nicht-Erfahren von Diskriminierung hingegen, gilt als Privileg einer Minderheit. Fehlen von bspw. antiziganistischer Diskriminierung gilt als ein Privileg, auch wenn die Mehrheit der Gesellschaft diese Diskriminierung nicht erlebt.  Es erfolgt eine abstruse statistische Umkehrung von Wahrscheinlichkeiten und Mengenverhältnissen.  Die am meisten diskriminierte und unterdrückteste Lebensrealität fungiert somit als neue Norm. Eine tödlich verlaufende Polizeikontrolle ist dadurch nicht die härteste Form von Diskriminierung und ein statistischer Ausnahmefall, sondern gilt als Standard. Eine willkürliche rassistische Polizeikontrolle ist damit zwar diskriminierend, aber die Person ist immer noch privilegiert im Gegensatz zu der erschossenen Person. Es erfolgt eine Hierarchisierung und dadurch auch Verharmlosung und Unsichtbarmachung von Diskriminierung (oftmals von klassistischer und autoritärer Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt). Wenn mensch jener Logik folgt, ist Genitalverstümmlung, Sklaverei und die Shoa bzw. der Tod die Normalität. Jegliches Leben ist damit ein Privileg oder anders zugespitzt: Nicht-Behindert-Sein/Gesundheit gilt nun als Privileg, anstatt als Normwert, an dem die zu erbringende Leistung von Hörgeräten, Brillen usw. gemessen wird. Die Unlogik der Umkehrung von statistischen Wahrscheinlichkeiten, Mehrheitsverhältnissen und normativen Verschiebungen sollte damit offensichtlich geworden sein.

Privileg als angeblicher Vorteil

Die zweite Definition des Privilegs als ein Vorteil: „‘Unjust enrichment’ privileges, by contrast, are privileges in which the White person benefits from the injustice to the persons of color, over and above merely being spared the injustice.“6 erfolgt aus einem logischen Trugschluss. Es wird festgestellt, dass bspw. „acht der zehn reichsten Menschen der Welt weiß, heterosexuell, cis-männlich aus dem globalen Norden“ kommen. Daraus wird geschlussfolgert, dass „das System diese Menschen privilegiert“.7 Die Kritik an der Mehrheitskonzeption greift nun wieder. Obwohl extremer Reichtum nur einer kleinen Minderheit dieser Gruppe zuteilwird, werden allen Mitgliedern der Gruppe die Privilegien unterstellt. Im besten Fall kann hier von „besseren Voraussetzungen“ gesprochen werden. Während auf zehn Superreiche aber 7,89 Milliarden Nicht-Reiche kommen, kann dies nicht als Voraussetzung betrachtet werden. Menschen bekommen Geld, Jobs und Anerkennung nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Es ist vielmehr so, dass Menschen trotz ihres Wissens aufgrund von rassistischen und sexistischen Vorurteilen diese Möglichkeiten verwehrt werden. Die Mehrheit der Bevölkerung profitiert somit überhaupt nicht von der diskriminierenden Gesellschaftsordnung. Ein arbeitsloser, weißer, heterosexueller Cis-Mann hat keinerlei Vorteil davon, dass acht von zehn der reichsten Menschen seiner „Gruppe“ angehören. Ein männlicher Fabrikarbeiter bekommt von seinem Chef nicht das Geld, das den Arbeiter*innen in der gleichen Fabrik vorenthalten wird. Ausbeutung erfolgt nicht durch „Alle“ (in dem Beispiel nicht durch männliche Arbeiter, Konsument und Chef zusammen), sondern erfolgt durch ökonomische Gesetze. (Ein Ausnahmefall ist die Arbeitskraftausbeutung von Menschen im Trikont und Osteuropa, von der auch die Unterschicht im „globalen Norden“ profitiert. Eine Kritik daran als „Privilegierter Norden vs. unprivilegierter Süden“ verschleiert aber die kapitalistische Akkumulation bzw. Hauptschuld von speziellen Akteur*innen wie Arbeitgeber*innen, globalisierenden Staaten und despotischen Trikont-Staaten und bringt keine revolutionäre Alternative hervor, aber dazu später).

Andere Privilegien, etwa dass „der Wohnungsmarkt und soziale Angebote auf weiße Menschen zugeschnitten sei und diese dadurch bessere Chancen auf gesicherte Verhältnisse hätten“ ist einfach blanker Hohn gegenüber Obdachlosen und wieder eine statistische Fehlbetrachtung. Nur weil einige/viele schwarze Menschen in staatlichen und privaten Hilfseinrichtungen strukturelle (bspw. durch Pässe, Aufenthaltsgenehmigungen usw.) und persönliche Diskriminierung erleben, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass solche Systeme „auf weiße Personen zugeschnitten sind“. Ein weißer Obdachloser hat keinerlei Vorteil oder bessere Chancen aufgrund der Diskriminierung eines schwarzen Obdachlosen. Der weiße Wohnungslose nimmt dem schwarzen Wohnungslosen nicht eine der wenigen Häuser weg. Es gibt nicht zu wenig Geld, Güter oder Häuser – es sind die kapitalistischen und rassistischen Verteilungsmechanismen, die Minderheiten begünstigen und Mehrheiten ausbeuten.

Privileg als Analysekategorie

Die Privilegientheorie spricht, in Anlehnung an das Konzept der Intersektionalität, von einer Gesellschaft, die anhand ihrer konstruierten Identitäten hierarchisch aufgebaut ist. Alle Identitätsmerkmale werden als gleich angesehen. Der heterosexuelle weiße Cis-Arbeiter ist damit privilegierter als die schwarze, pansexuelle, reiche Transfrau. Die Privilegientheorie unterteilt in ein binäres „privilegiert und nicht-privilegiert“ System und ist damit nicht intersektional. Die Analysekategorie „Privileg“ verschleiert eher punktuelle Diskriminierung anstatt diese sichtbar zu machen. Kindern einer alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter werden bspw. „privilegiert“ genannt aufgrund deren weißer Hautfarbe. Die Theorie der Ordnung der Gesellschaft anhand von Identitäten und Konstrukten ist außerdem antimaterialistisch; Wohnungspreise, Bildungschancen und Löhne sind jedoch zum großen Teil durch materielle Gesetze und Profitorientierung bestimmt. Konstruierte Identitäten und diskriminierende Ideologien als Analysekategorien können nicht die gesamte Gesellschaftsordnung erklären. Eine fundamentale Kritik an dieser „Identitätspolitik“, welche die Gesellschaft nur noch nach konstruierten Identitäten und nicht mehr gleichzeitig nach materiellen Gesetzen und konstruierten Identitäten/Ideologien analysiert, wäre notwendig. Die Kritik betrifft aber stärker die Grundlagen der Intersektionalität und würde daher den Rahmen sprengen.

Entscheidend ist, dass Diskriminierung, bspw. Rassismus, nun nicht mehr anhand einzelner Akteure (bspw. der Polizei, rassistischen Organisationen, unaufgeklärten Menschen und ausbeuterischen Chefs), Gesetzen, Strukturen und Ideologien kritisiert wird. Es wird stattdessen von „weißen/männlichen/etc. Privilegien“ gesprochen. Es werden keine konkreten diskriminierenden Chefs (bspw. Fleisch-Tönnies in Rheda-Wiedenbrück, Spargel-Ritter in Bornheim) oder Gesetze (bspw. Dublin IV) mehr benannt. Es wird auch nicht dargestellt, wie gesellschaftlichen Strukturen, etwa Hierarchien und Eigentum an Produktionsmitteln, genau diese Ungleichbehandlung ermöglichen oder diskriminierende Einstellungen pusht (bspw. nicht kritisierbare Führungskräfte, Mehrwertausbeutung, radikalisierende Finanzkrisen, kaputtgesparte Bildungssysteme, Ghettoisierung usw.). Ideologien wie Herrschaft, Arbeitsfetischismus und Nationalismus als Voraussetzung für Diskriminierung (bspw. assimiliertes Staatsbürgersubjekt, Sozialchauvinismus, Pass-Systeme) bleiben ebenfalls unbeachtet. Strukturen und Ideologien werden höchstens undifferenziert als „white supremacy“ oder „Patriarchat“ historisch, politisch und theoretisch verfälscht. „Das eigene Privileg zu checken, nicht weniger Lohn aufgrund des Geschlechts oder Hautfarbe zu bekommen,“ besitzt also keine systematische Kritik an rassistischen/sexistischen Machtstrukturen. Es findet keine strukturelle Kritik statt, sondern es wird sich eines blinden Essenzialismus bedient. Es werden keine Akteure, Gesetze, Ideologien und Strukturen benannt, sondern biologische Eigenschaften mit diskriminierendem Verhalten vermischt. Zugespitzt: Statt einer systematischen Gesellschaftskritik werden Menschen anhand ihrer körperlichen Merkmale unterteilt.

Ein weiterer erwähnenswerter Punkt ist die (moralische) Benennung von Unterdrückung, welche angeblich nur durch Privilegien möglich ist. Angeblich soll der Privilegien-Begriff eine Motivation zur individuellen Änderung geben.  Die Bezeichnung als „weiße privilegierte Person“ soll eine Anregung zum Nachdenken und Aufforderung zum Kampf gegen Unterdrückung sein. Dies ist propagandistisch nicht nur höchst fragwürdig, sondern auch moralisch unsinnig. Die Betonung der Erfahrung von Ungleichbehandlung/Diskriminierung ist hierbei ausreichend für eine moralische Legitimation, wenn eine universalistische Moral  vorhanden ist. Solidarität und Empathie mit „Benachteiligten“ ist durch diese Moral schon gegeben. Kein Mensch muss erst als „Rassist*in“ oder „privilegiert“ bezeichnet werden, um gegen Rassismus aktiv zu werden.

Emanzipatorische Möglichkeiten

Neben der offensichtlichen statistischen und gesellschaftsanalytischen Falschheit der neuen soziologischen Benutzung des Wortes „Privileg“, ergeben sich daraus auch „falsche“ politische Praktiken. In der Regel folgen Forderungen nach individueller Schuldeinsicht und moralischen Bekenntnissen. Als Mantra gilt „Privilegien sollten reflektiert werden“. Es soll Abbitte geleistet werden durch öffentliches Bekennen zur eigenen Schuld bzw. Position.8 Es ist im Grunde nichts anderes, als eine katholische Bußpraxis; es soll Demut und Buße geübt werden, aufgrund der Besserstellung gegenüber „Kindern in Afrika“ bzw. „FLINTA* und POCs“. Kritische Männlichkeitsgruppen, Critical Whiteness-Workshops und Spendenforderungen von Instagramaccounts für sogenannte „Bildungsarbeit“ sind die Folge dieser individualistischen Theorie. Die Praxis ist grundsätzlich falsch. Verhältnisse werden nicht durch das eigene Verhalten, Sprache oder Spenden geändert, stattdessen müssen ökonomische und staatliche Strukturen verändert werden. „Reflektion von Privilegien“ ist eine poststrukturalistische Überschätzung von Sprache, Diskursen und individuellen Möglichkeiten. Es ist natürlich wichtig zu verstehen, dass Unterbau und Überbau bzw. materielle Realität und Ideologie/gesellschaftliche Konstrukte sich gegenseitig bedingen und beeinflussen (bspw. führt die misogyne Einstellung von Bürgern zu härteren Abtreibungsgesetzen und rassistische Ideologien rechtfertigen den Fortbestand der Sklaverei). Antirassistische/Antisexistische Bildungsarbeit, die auf das Individuum abzielt, ist daher notwendig und wichtig, kann aber ohne das Ziel einer Änderung der politischen und ökonomischen Struktur niemals vollständig erfolgreich sein. Verkürzt gesagt: Bildungsarbeit ohne gleichzeitiges revolutionäres Engagement ist individualistisch und erfolglos. Eine revolutionäre Praxis darf Sprache und individuelle Änderungen nicht über- und auch nicht unterschätzen. Dekonstruktion/Ideologiekritik ist notwendig, ebenso wie eine Änderung der ökonomischen und staatlichen Grundlagen.

Die Emanzipationsmöglichkeiten von „Privilegien“ sind somit Selbstdisziplinierung, Chancengleichheit im „farbenblinden Kapitalismus“ und Repräsentation/Verfahrensfixiertheit (Benennung Sprecherpositionen, Redezeiten usw.). In der Hinsicht sollte klargestellt werden, dass Chancengleichheit, Diskriminierungsfreiheit und ausgeglichene Repräsentation wünschenswert sind. Die Gesellschaft sollte nach ebenjener Form aufgebaut sein, da eine gemeinsame revolutionäre Organisierung nur ohne Diskriminierung erfolgen kann. Einige rassismuskritische und feministische Ansätze zur Überwindung von Diskriminierung, können problemlos (gesellschaftlich und für die politische Arbeit) übernommen werden. Menschen müssen beständig ihr Verhalten reflektieren und kritisieren. Diskriminierungsformen müssen immer wieder neu durchdacht und die aktuelle Umgangsweise damit hinterfragt werden. Sie müssen genauso ständig reflektiert werden wie (die Veränderungen des) Kapitalismus und der Widerstand dagegen. Ähnlich wie Betriebe, müssen revolutionäre Organisationen daher ritualisiert Schulungen/Workshops zu Diskriminierungsformen abhalten (und wünschenswerter Weise diese durch Kritik und Erfahrungen in den Kämpfen weiterentwickeln). Jeder Mensch, der sein Verhalten reflektiert und dadurch keine sexuelle Gewalt ausübt, ist eine Veränderung. Um es klar zu sagen: Menschen sollen ihre Verhaltensweisen und nicht ihre „Privilegien“ reflektieren.

Die Fokussierung auf individuelle Reflektion von „Weißen/Männern“ anstatt auf revolutionäre Selbstorganisierung von „Schwarzen/Frauen“ ist höchst problematisch. Ebenfalls anti-emanzipatorisch ist die Ablehnung gemeinsamer revolutionärer Organisationen aufgrund angeblicher Privilegien/Machtpositionen. Eine Fokussierung auf „Privilegien“ verhindert daher einen gemeinsamen Kampf. Die Konzeption von „Privilegien“ lässt Hierarchien und Misstrauen entstehen. Zusammen mit dem „Sprecher*innen-Position“, führt dieses Konzept zu dem Begriff des „allies“.  Aufgrund von „Privilegien“, sind Menschen nun keine Genoss*innen oder Gefährt*innen mehr, sondern hierarchisierte „Verbündete“. Der Privilegienbegriff schafft damit erst Hierarchien und verhindert gemeinsame Organisierung und Diskussionen. Natürlich ist die Reflektion von Vorwissen, finanzielle Möglichkeiten und die Bereitschaft, juristische Strafen zu kassieren, wichtig und anhand dieser Reflektion sollte jedes Individuum seine eigene nützliche Praxis finden. Eine Fokussierung auf Änderung von Einzelpersonen und separaten Organisierungen führt aber zu keiner Revolution. Lasst uns als weg von dieser reformistischen individuellen Besserungspraxis gehen, welche Menschen nur an ihre Moral anruft.

PS: In einer kruden Vermischung von Schein-Radikalismus, Essenzialismus und Individualismus, wird dem sich reflektierenden Individuum aber gar keine Besserungsaussicht unterstellt. Aufgrund der Einsicht, dass systematische Privilegien vorhanden sind, kann es nur zu einer Reflektion anstatt zu einer Abschaffung kommen. Ein Essenzialismus, der oft in einen Rassismus/Sexismus umschlägt wird sichtbar, bspw. „alle Weißen sind Rassisten“, „alle Männer sind Sexisten“ aufgrund ihrer Privilegien. Dass diskriminierende Vorstellungen und Verhaltensweisen bei allen Menschen ansozialisiert sind, soll nicht geleugnet werden. Es ist aber auch möglich, sich nicht diskriminierend zu verhalten und dadurch kein Rassist/Sexist zu sein, auch, wenn mensch selbst eine rassistische/sexistische Sozialisation erfahren hat und nicht diskriminiert wird. Der Mensch kann sich also ändern und frei entscheiden,  nicht-rassistisch zu sein –

Zusammenfassung

Lasst uns Diskriminierung in viele Formen untersuchen und aufdecken. Lasst uns eine gemeinsame revolutionäre Praxis entfalten, welche sich unterschiedlicher Diskriminierung bewusst ist und sich daher ständig selbst reflektiert. Es ist dafür aber notwendig zu erkennen, dass der Privilegien-Begriff kein analytisches oder emanzipatorisches Potenzial besitzt.      Das „Checken von Privilegien“ führt nicht zu gleichen  Lebensgestaltungsmöglichkeiten, sondern nur die gleichzeitige Änderung von materiellen/politischen Strukturen, individuellem Verhalten und herrschenden Ideologien kann uns befreien. Lasst uns unsere Kämpfe vernetzen!

Fußnoten

1. Ehrenhöfer, Margit: „Unbewusster Rassismus: Was für und gegen „Weiße Fragilität“ spricht“, in: Die Furche. Die österreichische Wochenzeitschrift, 19.02.2020. Unter: https://www.furche.at/gesellschaft/unbewusster-rassismus-was-fuer-und-gegen-weisse-fragilitaet-spricht-2309412

2. https://squatms.blackblogs.org/privilegien-reflektieren-reflect-your-privileges/

3. Gerber, Jan (Hg.): „Die Untiefen des Postkolonialismus“, Berlin 2021.

Perinelli, Massimo: „Zur Debatte: Critical Whiteness und das Ende der antirassistischen Bewegung“, in: Phase 2, 25.11.2020. Unter: https://www.anarchistischefoderation.de/zur-debatte-critical-whiteness-und-das-ende-der-antirassistischen-bewegung/

Ein wenn auch ausufernder, dogmatischer und auf Ökonomiekritik reduzierter Artikel, der trotz alldem durch gute Quellenarbeit und argumentative Vielfalt glänzt: Textor, Jona: „Eine marxistische Kritik der „postmodernen Identitätslinken“ und des identitätspolitischen Antirassismus“, in: Kommunistische Organisation, 30.07.2020. Unter: https://kommunistische.org/diskussion/eine-marxistische-kritik-der-postmodernen-identitaetslinken-und-des-identitaetspolitischen-antirassismus/

Stögner, Karin: „Wie inklusiv ist Intersektionalität? Neue soziale Bewegungen, Identitätspolitik und Antisemitismus“, in: Salzborn, Samuel (Hg.): „Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen“, Baden-Baden 2019, S. 385-402.

4. Badura, Leander F.: „Der Katechismus der Antirassisten“, in: Jungle World, 02.07.2020. unter: https://jungle.world/artikel/2020/27/der-katechismus-der-antirassisten

Flower Bomb: „Ein Nekrolog auf Identitätspolitik“, 2020. Unter: https://ia801909.us.archive.org/27/items/nekrolog-print/nekrolog.pdf

Kar, Fatma: „Im Kreis der Identitäten“, in:  Jungle World,  08.02.2018. Unter: https://jungle.world/artikel/2018/06/im-kreis-der-identitaeten

Tsianos, Vassilis: „Die deutsche Linke wurde längst migrantisiert“, in: Jungle World, 09.08.2012. Unter: https://jungle.world/artikel/2012/32/46024.html

5. Blum, Lawrence: „`White privilege‘. A mild critique1“, in: Theory and Research in Education. Band 6, Nr. 3, November 2008, S. 311. Unter: http://www.faculty.umb.edu/lawrence_blum/publications/publications/A57.pdf

6. Ebd. S. 311.

7. „Unser System in dem wir leben privilegiert einige wenige (reiche weiße Männer) und beutet einen Großteil aus (sowohl Natur als auch Menschen).“ Fridays for Future Nürnberg: „Was hat Klimagerechtigkeit und Feminismus miteinander zu tun?“, in: Interventionistische Linke, 09.03.2021. Unter: https://nuernberg.interventionistische-linke.org/beitrag/was-hat-klimagerechtigkeit-und-feminismus-miteinander-zu-tun

8. Siehe exemplarisch für individuelle Bußpraxis aufgrund von Nicht-Diskriminierung:  Prado, Simon Sales: „Man muss auch mal verzichten“, in: TAZ, 05.09.2020. Unter:  https://taz.de/Das-Konzept-der-Privilegien/!5706891/

Ein weiteres Beispiel für Privilegien-Reflektion als angeblich revolutionäre Praxis: Anarchists_luetzerath: „Wohin gehen wir und was wollen wir eigentlich?“, in: Indymedia, 31.12.2021. Unter: https://de.indymedia.org/node/166589