Unrealität
Der Faschismusforscher Jason Stanley, formulierte in seinem populärwissenschaftlichen Buch „How Fascism works. The Politics of Us and Them“ (New York 2018) zehn Punkte, die faschistische Projekte auszeichnen. Sinnvoll daran ist erstens, den generischen Faschismus als eigenständige Strömung zu begreifen, zweitens, ihn in seinem zeitgenössischen Wirken zu sehen und drittens, ihn als soziale Bewegung zu begreifen – unhängig davon, ob explizit faschistische Kräfte an der Regierung beteiligt werden oder die Staatsmacht übernehmen.
Als Aspekte des Faschismus zählt Stanley auf: 1. Die mythische Vergangenheit, 2. Propaganda, 3. Anti-Intellektualismus, 4. Unrealität, 5. Hierarchie, 6. Opfer-Status, 7. Recht und Ordnung, 8. Sexuelle Ängste, 9. Unterstellung von Dekadenz, 10. Arbeitszwang.
Die meisten Punkte sind meiner Ansicht nach relativ eindeutig. Interessant fand ich allerdings den vierten, die „Unreality“, von der Stanley schreibt.
Das Ganze fiel mir wieder ein, weil ich KI-generierte Videos angeschaut habe. Und zwar zu Studienzwecken, denn sonst ist mein Leben zu kurz, als das ich mich mit solchem Schwachsinn beschäftigen würde. Hierbei scheiden sich allerdings die Geister. Denn offenbar konsumieren Menschen derartige Videos ohne den Grad ihrer Echtheit einschätzen zu können. Zweitens wissen andere Konsument*innen durchaus, dass sie es mit fakes und bisweilen mit direkter Propaganda zu tun haben – und akzeptieren dies wissentlich, da sie jede falsche Aussage, welche die ihnen missliebige epistemische Ordnung in Frage stellt, liken.
Seit einigen Monaten wird das Phänomen des Internet-Slob diskutiert: KI-generierte Inhalte wurden soweit verstärkt ins Internet gedrückt, das sie mittlerweile bis zur Hälfte des dort vorhandenen Inhalts ausmachen. Und dabei beziehen sie sich wechselseitig aufeinander, sodass die Produktion von Computer-generiertem Müll exponential steigt. Was die besagten KI-generierten Videos angeht ist schlichtweg viel Bullshit dabei. Dessen Beliebtheit kann ich mir nur dadurch erklären, dass die Konsument*innen dieser Inhalte gerade durch ihre Künstlichkeit eine ironisch Verarbeitung ihrer eigenen, massiven Entfremdung erfahren. Doch ist es eine psychisch-emotionale Verarbeitung, die sie weiter in die Unrealität zieht und die eigene Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Wahrheit von Aussagen und Ereignissen kontinuierlich erodiert. Wenn alles fake ist, ist sowieso alles egal.
Das dies ein wesentlicher Aspekt des historischen, wie des zeitgenössischen Faschismus ist, scheint mir ziemlich klar zu sein. Und so zeigt sich auch, das überproportional viele KI-generierten Fake-Videos von implizit faschistischen Akteuren produziert werden. Ein besonders krasses Beispiel für einen (deutschen) modernen faschistischen Youtube-Kanal ist „Circus Totalis“. Deutlich erkennbar wird der faschistische Humor, mit welchem der eigene Opferstatus zur Legitimation der Erniedrigung politischer Kontrahent*innen dient – wohinter der Wunsch nach deren Vernichtung steht.
Doch alles egal. Politik ist fake. Und die Konsument*innen dieser – oder etwas weniger expliziter Inhalte – ergötzen sich daran. Sie lieben es, in die Unrealität gezogen zu werden, weil der Grad ihrer Entfremung ihnen das Grundgefühl vermittelt, in ihrem Leben insgesamt ohnehin im falschen Film zu sein. In ihrem Leben sind sie keine Handelnden – wollen aber auch nicht die Mühe auf sich nehmen, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Denn allem voran müssten sie damit mit der Unrealität brechen und sich mit der Realität konfrontieren. Die Faschismus-affinen Subjekte unserer Zeit sind gebrochene Feiglinge, die die subjektive Kränkung ihrer bürgerlichen Freiheit und den drohenden Verlust ihres Eigentums mit dem Treten nach unten und dem Beißen zur Seite kompensieren. Der staatliche Kapitalismus hat eine unreale Welt geschaffen und mit seiner nächsten technologischen Stufe macht diese noch einen Sprung ins umfassend Unreale, wird total. Die Mythologien, Geister- und Traumwelten früherer Gesellschaften waren sehr viel wahrer und realer als der potenziell und tendenziell faschistische Internet-Slob, der in die Hirne seiner Konsument*innen sickert.
Aus anarchistischer Sicht wirft dies umfassende Probleme aus: Wie kann man Menschen überhaupt noch vermitteln, das es lebens- und erstrebenswerte konkrete Utopien gibt, wenn ihre Vorstellungskraft immer stärker durch digitalen Müll eingeschränkt wird? Wie ist es für Anarchist*innen möglich, ihre Imaginationsfähigkeit und ihr Bewusstsein aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, wenn man in der digitalen Sphäre sich durch teils hasstriefenden Müll-Content graben muss? Wo finden sich zukünftig überhaupt noch allgemein zugängliche Räume im Internet, die nicht überwacht, abgesaugt, eingelesen werden?
Und schließlich bleiben Fragen nach der Realität offen: Kann sie wiedergewonnen oder nur neu geschaffen werden? Gibt es mehrere – und wenn ja, weisen diese dann unterschiedliche Wahrheitsgrade auf? Von welchem Standpunkt aus kann man diesen aber beurteilen, wenn dies nicht dogmatisch geschehen soll? Die Überflutung mit KI-generierten Inhalten zeigt: Wirklichkeit ist nichts Gegebenes, sondern etwas – sehr real – Konstruiertes. Und Faschisten haben keinerlei Skrupel, sie instrumentell nach ihren Zwecken zu formen.