Die Verwechslung

Leider – so habe ich es in verschiedenen Phasen und Kontexten immer wieder beobachten können – scheint es in Hinblick auf selbstorganisierte Gruppen in der „linken Szene“ häufig zu einer Verwechslung zu kommen. Menschen suchen darin eine wohligen Freundeskreis und vertrauensvolle Sozialbeziehungen, in denen sie ihre Verlorenheit bearbeiten und Dinge erleben können. Der erklärte Zweck sollte allerdings darin bestehen, mit dem Anliegen zusammen zu kommen, die Gesellschaft im emanzipatorischen Sinne zu verändern.
Im Szene-Kontext nach Freund*innen zu suchen, Beziehungen zu knüpfen, wertgeschätzt zu werden, sich fallen lassen zu können, sind völlig verständliche und menschliche Wünsche und Bedürfnisse. Sie haben in diesem Rahmen auch ihren Raum, vor allem, wenn sie transparent und klar kommuniziert sind.
Die Gesellschaft emanzipatorisch verändern zu wollen, sich auf eine anarchistische Weise zu organisieren und zu handeln, bedeutet, dass die Aktivitäten, die Menschen nachgehen, mit ihnen selbst zu tun haben müssen. Dies ist ein anarchistisches Verständnis von Organisierung, Zielsetzung und Handlungen, im Unterschied zur „Politarbeit“, wie sie in linken Gruppen praktiziert wird. Denn diese ist potenziell selbst entfremdend, wenn sich die Aktivist*in dem höheren Ziel unterwirft oder reproduziert die politische Entfremdung, wenn Menschen in selbstorganisierten Gruppen anfangen, sich als kleine Linken-Politiker*innen zu verhalten.
Damit wird in Gruppen, die anarchistischen Herangehensweisen entsprechen, entweder gar keine Politik gemacht oder sie wird nur gelegentlich und dann nur unwillig praktiziert. Es soll also nicht zu einer Aufspaltung der Beteiligten in „Politik-Aktivist*innen“ und soziale, bedürftige, besondere Einzelne kommen, zwischen „Politikgruppe“ und Vertrauensgemeinschaft. Vielmehr wird ein anderes – und oftmals ungewohntes – Verhältnis zwischen den Angehörigen solcher Gruppen eingegangen und entwickelt: jenes, der Genoss*innenschaft.
Dies scheinen viele Menschen aber nicht zu verstehen. Denn umgekehrt gilt: selbstorganisierte Gruppen mit anarchistischen Herangehensweisen und Prinzipien sind keine gemütlichen sozialen Kontexte, in die man primär geht, um Freund*innen zu finden, die eigene Entfremdung zu bearbeiten und sich besonders gesehen und wertgeschätzt zu fühlen. Wenn dies möglich wird und geschieht, ist das wirklich wunderbar. Es ist auch überhaupt nicht ausgeschlossen, sondern sogar erstrebenswert, wenn Genoss*innen sich anfreunden, durch’s Leben helfen und bestärken. Dies ist nur nicht der Zweck der selbstorganisierten Gruppe – sondern im besten Fall ein beiläufiger Effekt, den genossenschaftliche Beziehungen und der Rahmen einer anarchistischen Organisation und Handlungsweise mit sich bringen kann.
Genoss*innenschaft kann je nach Organisation und den beteiligten Menschen unterschiedlich aussehen. In Gewerkschaftsgruppen ist sie tendenziell distanzierter, in Bezugsgruppen kann der soziale Zusammenhang sehr stark sein. Je nach Größe und Dauer der Gruppe, nach Lebenssituationen und Umgebungen, variiert es also, wie stark Gruppen sich vor allem an einem definierten Zweck orientieren oder darüber hinaus auch auf individuelle Bedürfnisse und Wünsche umfangreich eingehen können.
Die Verwechslung tritt auf, wenn Menschen in selbstorganisierte Gruppen hauptsächlich hineingehen, an ihnen teilnehmen, um darin Freund*innen zu finden, ihre Entfremdung zu bearbeiten und Bestätigung zu erhalten. Doch weil dies massenhaft auftritt, werden selbstorganisierte Gruppen für individuelle Wünsche und Bedürfnisse instrumentalisiert und ausgenommen. Dies verhindert die Entwicklung eines geteilten Konsens, den Aufbau genossenschaftlicher Beziehungen und die Realisierung definierter Ziele – und lässt die Szene schließlich zur bloßen Subkultur degenerieren.