Ha’aretz: Schießbefehl der israelischen Armee auf Zivilisten

Die israelische Armee gab Schießbefehl auf Palästinensern in Gaza, die für humanitäre Hilfe anstanden. Das jedenfalls behauptet ein Artikel der Zeitung Ha’aretz und wirbelt viel Staub auf.
Der am 27. Juni publizierte Artikel in der „Ha’aretz“ über die Beschießungen von Nahrungssuchenden durch den IDF gründet auf etlichen Aussagen israelischer SoldatInnen und wirbelte viel Staub auf. Er bestätigte das im Grunde falsche Vorurteilsystem der fanatisierten Israelfeinde, und löste bei den verständigeren Israelsolidarischen einige kognitive wie ethische Dissonanzen aus. Für diejenigen, die in Netanjahu ein Werkzeug des Weltgeists sehen, um jüdische Zivilisation zu retten, können gar nicht genug Palästinenser daran glauben, so verroht sind sie längst.
Es gibt keine militärischen Sachzwänge der Hamas-Bekämpfung, kein „Vietnam-Syndrom“ bei demoralisierten IDF-Soldaten, welche diese Barbarei rechtfertigen. Sie wird von Offizieren angeordnet. Alle, die sich zu Recht gegen eine Dämonisierung Israels zugunsten der islamistischen Agenda wenden, sollten nicht versuchen, in diese Exzesse irgendeine Ratio hineinzufantasieren. Sie sollen sich klar dagegen aussprechen oder schweigen, wenn sie nicht die schlimmsten Vorurteile ihrer Gegner bestätigen wollen.
Es war jedenfalls aufschlussrech, wie meine „proisrealische“ Bubble auf Facebook auf den „Ha’aretz“-Artikel über die Schießbefehle reagierte. Unglauben, Zweifel, „Das muss überprüft werden!“ … Natürlich muss es überprüft werden. Als notorisch regierungskritisches Blatt fällt wohl auch „Ha’aretz“ auf Informationen herein, die ihr ideologisch in den Kram passen.
Für Hardcore-Antideutsche ist die „Ha’aretz“ ohnehin eine 5. Kolonne zur Zerstörung Israels, ein „antisemitisches“ Hetzblatt, ein propalästinensischer „Stürmer“. Ich lese sie nicht regelmäßig (u. a. weil ich vermeiden möchte, dass das erbsengroße Land am Mittelmeer mein Lebensthema und Religionsersatz wird). Was ich darin las, war oft ziemlich einseitig, aber dann wieder mutig und gut. Dass so ein „pain in the ass“ der herrschenden politischen Klasse existiert, ist – so sollte man es sehen – ein Ruhmesblatt für Israel (das mit beispiellosem Exhibitionismus gerade Ruhmesblatt-Striptease betreibt).
Diese Reaktionen offenbarten schon ein erstaunliches Maß an Realitätsverweigerung und der apologetischen Selbstvergewisserung, dass jede Meldung aus Gaza Hamas-Propaganda sei, die IDF noch immer die humanste Armee der Welt und dieser Krieg zwar schmutzig (welcher ist es nicht?), aber ein notwendiger Abwehrkampf gegen eine antisemitische Mördersekte und eine fanatisierte Bevölkerung.
Natürlich darf man keiner der durch die Hamas gefilterten Informationen trauen, natürlich raubte sie Hilfslieferungen unter den Augen der lokalen UN-Komplizen, natürlich provozierte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit Unruhen, um tote Palästinenser zu „produzieren“, was ihr vordringlichstes Anliegen ist. Der Glaube aber, Israel würde keine Propaganda betreiben, zeigt leider auch die Unseriosität derer, die es mit gutem Recht gegen die Anwürfe der Israelhasser verteidigen. Viel besorgniserregender ist, dass die Netanjahu-Bande zunehmend auf Propaganda und Imagekampagnen verzichtete. Mit der Ausrede, das Weltgewissen sei ohnehin antisemitisch verzerrt, der Ruf ohnehin ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert…
Als interessanteste Selbstberuhigungsthese vernahm ich gestern, es handelte sich um eine Fehlübersetzung der arabischen Ausgabe der „Ha’aretz“ (denn der Araber schreibt stets mit gespaltener Zunge!). Nein, das war die englische Ausgabe.
Hölle der Destruktion
In Anbetracht des unvorstellbaren Chaos, das in dieser Hölle der Destruktion herrscht, wäre es sogar ein Wunder, wenn dergleichen nicht passieren würde. Der Beschuss von ZivilistInnen bei der Essensausgabe ist keine Maßnahme zur Reduktion der Bevölkerungszahl in genozidaler Absicht, sondern Beweis der Hilflosigkeit der lokal stationierten Armeeeinheiten, in einem Krieg ohne Plan und Interesse am logistischen Management der humanitären Folgeschäden.
Anders als die große Hoffnung der Weltdiplomatie, Österreichs Außenministerin Beate Meinl-Reisinger, in jedem Interview behauptet, blockiert Israel nicht alle Hilfsmaßnahmen. Es hat lediglich mit dem nicht unrichtigen Argument, die zuständigen UN-Organisationen wären Hamas-infiltriert gewesen und hätten Diebstahl zu wenig unterbinden können, die Versorgung an eine windige evangelikale US-Firma namens Safe Reach Solutions übertragen, welche Netanjahu und Trump nahesteht, aber keine nennenswerte Erfahrung in Krisensituatonen aufzuweisen hat. Und so verhält sie sich auch bei den mobilen Hotspots, die von den IDF aus unheilvoller Distanz gesichert werden. Dem Artikel zufolge sind die Distributionen auf eine Stunde am Morgen begrenzt. Bis zu zehntausende Hungernde warten auf ihre Chance. Die Soldaten müssen verhindern, dass die Notleidenden bis zur Essensausgabe eine bestimmte Linie überschreiten. Sie vermeiden zum Selbstschutz aber jeden Kontakt mit der Zivilbevölkerung, es gibt also keine personalisierten Kontrollen, keine Tränengaseinsätze oder Warnschüsse im Notfall. Es wird scharf geschossen. „Our form of communication is gunfire“, bringt es ein Soldat auf den Punkt.
Hamas lässt keine Chance aus
Wer die Hamas kennt, weiß, dass sie sich nicht die Chance entgehen lässt, diese Situation für ihre Kombination aus krankem Todeskult und Anti-Israel-PR zu nutzen, und Männer mit Waffen einzuschleusen (worauf die IDF das Feuer eröffnen muss), oder selbst in die Menge zu schießen. Das hat sie immer wieder getan, und wird sie immer wieder tun. Auch wahrscheinlich, dass in Rafah die dort in Kooperation mit den Israelis agierenden Abu-Schabab-Miliz auf die Leute schießt. Dennoch gibt es leider keinen Grund, die Aussagen so vieler israelischer Soldaten über Schießbefehle anzuzweifeln, so parteisch „Ha’aretz“ auch immer sein mag.
Es offenbart die absolute Gleichgültigkeit der israelischen Führung gegen die als feindselige, fanatisierte Masse wahrgenommene arabische Zivilbevölkerung. Die größte Tragödie für Israel ist, dass die Jahrzehnte vorherrschende internationale Tradition der Lüge, Übertreibung und selektiven Wahrnehmung durch die aktuelle Regierung ins Recht gesetzt werden könnte. Diese will die Überlebenden von Gaza zwar nicht ausrotten, aber ihnen das Leben so unerträglich machen, dass die Auswanderung zu ihrem sehnlichsten Wunsch wird. Das gibt sie offen zu. Das ist ihr Programm. Smotrich und Ben Gvir vertreten auch die Interessen der 2005 aus Gaza durch den IDF vertriebenen Siedler.
Eine Armee, die, wie im Dezember 2023 geschehen, drei israelische Geisel, alle drei mit nacktem Oberkörper, einer von ihnen rotblond, ihre hellen T-Shirts als weiße Fahnen hochhaltend, erschießt, schießt auf alles, was sich ihr nähert. Das besitzt in Anbetracht der Methoden der Hamas und des langjährig gewohnten Terrorismus eine grauenhafte Rationalität.
Nun kann man behaupten, dass es wieder jenes unterschiedliche Maß der Beurteilung (ein Kriterium für den „israelbezogenen Antisemitismus“) sei, gerade von Israel zu verlangen, bei seinem Krieg mit der Hamas mit jedem Soldaten einen Tross von arabischsprachigen Sozialarbeitern, Traumapsychologen, Feinkostwarenhändlern und Wohnungsberatern mitzuschicken. Der unterschiedliche Standard, unter dem Israel zu leiden hatte, schlägt aber in die andere Richtung aus, wenn man zehntausende totgebombte ZivilistInnen (so sehr sie einen auch hassen bzw. gehasst haben) als „casualties of war“, als „colleteral damage“ hinnimmt.
Hier zeigt sich das Versagen Europas und der UN.
Man hat jahrzehntelang mit Zuwendungen in Billionenhöhe die Al-Fatah und die Islamisten alimentiert. Ein Bruchteil dieser Summen würde reichen, mit arabischen Partnern Gaza zu sichern, Wiederaufbauprogramme umzusetzen, das Schulsystem zu „entideologisieren“ und mittels Söldnermilizen die Reste der Hamas aufzuspüren. Kaum ein Interesse besteht daran. Lieber lässt man Israel in der Falle weiterbrutzeln, welche ihm die Hamas, aber auch Netanjahu gestellt haben.
Und selbst wenn es sich um Fake News handeln sollte, die Aufarbeitungen werden noch ganz andere Ausmaße an Kriegsverbrechen zeitigen. Und wie die Geschichte zeigt, denn es handelt sich schließlich um bloody Israel, wird die Bestialität von Hamas und Hisbollah, u. a. die 30.000 Raketen auf Israel seit dem 7. Oktober 2023, dabei niemanden interessieren.
Richard Schuberth ist Schriftsteller. Bei diesem Text handelt es sich um ein modifiziertes Facebook-Post vom 29. Juni.