[C] Die Hiergebliebenen — Text einiger Antifas aus Chemnitz (Nachtrag)

Die Hiergebliebenen

Im Superwahljahr 2024 finden wichtige Wahlen in Chemnitz statt, die unser Leben und unsere politische Arbeit in den nächsten Jahren bestimmen werden. Die AfD ist die stärkste Kraft in Chemnitz geworden. Damit stellt die Kommunal- und Europawahl einen weiteren Schritt im Aufstieg des Faschismus in Deutschland dar. Die Wahlerfolge der Faschisten haben und werden sich langfristig in Gewalt auf den Straßen widerspiegeln.
Wir haben diesen Text geschrieben, weil wir über den aktuellen Zustand der Linken in Chemnitz besorgt sind. Nehmt euch bitte die Zeit, den Text vollständig zu lesen.
Als Konsequenz erhoffen wir uns eine rege Debatte in WGs, Hausprojekten und überall wo ihr zusammen kommt. Wir würden uns freuen, wenn sich politische Aktive und Gruppen äußern und sich eine neue Debatte über die Chemnitzer Linken und unsere Strategien entwickelt. Die große Frage, die uns bewegen, sind der gegenseitige Umgang untereinander und mögliche Lösungen, wie wir aus unserer kollektiven defensiven Haltung wieder in die Offensive kommen können.

Gefühl der Ohnmacht
Seit Jahrzehnten ist die deutsche Linke und insbesondere die Chemnitzer Linke, in denselben Muster gefangen, die unseren politischen Zielen einer befreiten Gesellschaft und den Kampf gegen den Faschismus im Weg stehen.
Wir halten uns mit Streitigkeiten und Belanglosigkeiten auf, während die Faschisten einen immensen Einfluss auf die Gesellschaft aufbauen und eine körperliche Bedrohung für uns alle darstellen.

„Linke diskutier’n auf Twitter: Wer darf links sein, wer darf’s nicht?
Und die Rechten, sie trainieren auf dem Schießstand für Tag X“
– Tarek K.I.Z

Um politisch zu wirken, müssen wir uns nicht mögen und nicht jede politische Einsicht teilen. Trotzdem müssen wir lernen uns verstärkt auf Gemeinsamkeiten, anstatt auf politische Unterschiede zu konzentrieren. Besonders die extreme Rechte in Sachsen schafft es seit Jahren interne Streitigkeiten kleinzuhalten und sich hinter gemeinsamen Zielen vereinen.
Es ist wichtig, eine neue Streitkultur zu entwickeln, bei der wir hart in der Sache, aber gleichzeitig respektvoll zu uns als Menschen sind. Je komplexer und polarisierender die Debatten sind, desto wichtiger ist es, dass wir uns politisch austauschen. Es ist besorgniserregend, dass in Chemnitz nahezu keine öffentlichen Diskussionen und Veranstaltungen zu den Ereignissen in Israel und Gaza stattfanden. Es ist entscheidend, dass wir uns trauen, unsere Meinungen zu äußern und Fragen zu stellen, ohne Angst vor gegenseitigen Sanktionen haben zu müssen. Stattdessen sollten wir die Chance nutzen, unsere Ideen und Argumente konstruktiv einzubringen, wenn Menschen in unseren Räumen & Strukturen Fragen stellen und uns hinterfragen.
Es wird zu viel Klatsch & Tratsch in unseren Gruppen, Strukturen und Räumen verbreitet. Statt offen mit Kritik umzugehen werden lieber Unwahrheiten, Lügen und Gerüchte verbreitet. Wir reden nicht mehr miteinander, konfrontieren die jeweiligen Personen und Gruppen, sodass kein Raum für konstruktive Kritik bleibt. Dadurch geben wir uns gegenseitig nicht mehr die Möglichkeit, aus Kritik und Fehlern zu lernen und daran zu wachsen. Sofort wird von einer bösartigen Absicht und schlechten Charakteren der Personen ausgegangen. Es werden sich Urteile über Menschen, Gruppen und ihre Arbeit gebildet, obwohl man sich oft nur auf andere Menschen bezieht und keinen eigenen kritischen Standpunkt bezieht. Dadurch grenzen wir viele Menschen aus, die sich nicht innerhalb der Szene behaupten wollen oder können. Wir schaffen kein inklusives Umfeld, in denen wir eine fehlerfreundliche Kultur etablieren.
Aus der eigenen Schwäche erwächst ein Ohnmachtsgefühl. Man traut sich gar nicht mehr zu, die Gesellschaft im Ganzen zu verändern. Stattdessen stürzen wir uns wie Geier aufeinander und bekämpfen uns gegenseitig auf Schärfste. Selbst die einfachsten Gepflogenheiten werden gebrochen, sodass sogar öffentlich über Social Media Akteure und Personen angeprangert werden. Diese Art und Weise spielt nur den Faschisten und Repressionsbehörden in die Hände.
Die fehlende Fehlerfreundlichkeit und die fehlenden Möglichkeiten als politische Person zu wachsen, haben wir ein kurioses Phänomen in Chemnitz geschaffen. Oftmals ist es für politische Akteure besser, sich nicht zu kennen als sich zu kennen. Jede negative Erfahrung oder Verhalten wird über Jahre nachgetragen und bei jeder Gelegenheit hervorgebracht. So stehen wir uns oft bei der gemeinsamen Arbeit und Projekte im Weg. Deshalb ist Spaltung und konkurrierende Projekte traurige Realität in unserer Stadt.

Umgang mit der politischen Jugend
Besonders erschreckend sollte sein, wie wir als Chemnitzer Szene mit jungen Menschen und Gruppen umgehen, die in Chemnitz aktiv sind. Wir sollten über jede junge Person dankbar sein, die sich in der aktuellen Zeit in Chemnitz engagiert. Stattdessen erheben wir einen übertriebenen Anspruch an die Jugend, dem wir selbst nie gerecht geworden sind. Selten wird auf junge Aktive und Gruppen zugegangen und Erfahrungen geteilt. Sie benötigen unser Vertrauen, Unterstützung und unseren Rückhalt, auch wenn sie mal Fehler machen oder nicht jede unserer politischen Ansichten teilen. Stattdessen wird sich in Hausprojekten, Kneipen und Küfas regelmäßig das Maul über die politische Arbeit der Jugendgruppen zerrissen.

„Die Jugend ist die reinste Flamme der Revolution“
– Karl Liebknecht

Die politische Jugend wird seit Jahren allein gelassen und müssen stets von vorn beginnen. Somit kann die politische Jugend selten auf den Erfahrungen und Fehlern der vorherigen Generationen aufbauen.
Dadurch findet nahezu keine Wissensvermittlung zwischen erfahrenen politischen Aktiven und jungen Gruppen statt.
Bei aller möglichen berechtigen Kritik an Strategien, Aktionen und öffentlichen Auftritt der verschiedenen Gruppen haben wir vergessen, wo der politische Feind in diesem Land steht und von wem die reale Gefahr für unser Leib und Leben ausgeht.

Niemand wird uns retten
Niemand aus der Leipzig oder Berlin wird uns helfen und unsere Probleme lösen. Nur wir gemeinsam können uns selbst helfen und die Probleme in unserer Stadt angehen. Wir können unsere Situation langfristig und nachhaltig verändern. Dafür müssen wir aufeinander zu gehen, miteinander sprechen und politisch streiten.
Es wird wichtiger denn je sein, unter einer faschistischen Regierung handlungsfähig zu sein. Der Blick in andere europäische Länder mit rechten Regierungen zeigen uns positive Beispiele, wie wir aktiv bleiben können. Diese Erfahrungen aus anderen Ländern und das Vertrauen in die eigene Stärke sollte uns Kraft für diesen Weg geben. Trotzdem sollten wir uns bewusst sein, dass sich die AfD durch den großen Einfluss des Höckes Flügel nationalistischer und militanter präsentiert als alle anderen rechten Parteien in Europa. Die heutige Situation ist nicht mit dem Nationalsozialismus vergleichbar, sollte uns doch folgendes lehren: Tatsächlicher Widerstand fand und findet im Alltag und im Privaten statt. Die Erfahrungen aus der NS-Zeit sollte uns lehren, dass wir im Hier und Jetzt widerständige Strukturen aufbauen müssen, bevor wir keine Zeit mehr dafür haben.

Der politische Kampf auf der Straße verkommt oft nur noch als Symbolpolitik. Wir müssen uns eingestehen, dass der Faschismus längst in den Köpfen vieler Menschen festsitzt. Damit ist der Kampf nicht verloren, aber wir sollten die Arroganz ablegen, dass wir diesen Kampf mit Kampagnen und Demonstrationen gewinnen. Persönliche Netzwerke sind widerständig und eignen sich für eine sinnvolle Politik im Alltäglichen. Deshalb müssen wir die Augen offen halten, wo sich die Verbündeten befinden. Nicht jede widerständige Person befindet sich in der Szene, sondern sind überall in der Gesellschaft zu finden.

Hoffnung und Glaube
Unsere sozialen Beziehungen und gegenseitiges Vertrauen sind der Grundstein jeder politischen Organisierung und positiven, grundlegenden Veränderung unserer Gesellschaft.
All die negativen Dynamiken innerhalb unserer Strukturen und Räumen verstärken die Vereinzelungen und Individualisierung jeden Einzelnen. Dies nützt dem kapitalistischen System und den Faschisten. Wir zerstören unser gegenseitiges Vertrauen, resignieren und gefährden unsere mentale Gesundheit – brennen aus.

„Wir tragen eine neue Welt in unseren Herzen; diese Welt wächst in dieser Sekunde.“
– Buenaventura Durruti, Anarchist im spanischen Bürgerkrieg

Da die außerparlamentarische Linke dieses Landes sich mehrheitlich über viele Jahre aus der Gesellschaft zurückgezogen hat, müssen wir die Arbeit in und mit der Gesellschaft erst wieder neu erlernen. Der erste Schritt betrifft dabei das Identifizieren der richtigen Themen: Was bewegt die Menschen in der Nachbarschaft wirklich? Anhand welcher Themen lassen sich die Leute organisieren? Welche Klassen der Bevölkerung wollen wir erreichen? Welche sind die Themen, die sich zuspitzen lassen und antikapitalistisches Potenzial haben? Dabei geht es auch darum, die eigene Betroffenheit in diesen Kämpfen wiederzufinden, sich mit ihnen auf einer persönlichen Ebene zu identifizieren und unsere eigenen Verhaltensweisen, unseren Umgang miteinander und unsere eigenen Positionen innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren.

„Fragend schreiten wir voran.“
– Zapatistas

Die heutige Zeit ist zu ernst, um sie verstreichen zu lassen. Lasst uns unser Schicksal in die eigene Hand nehmen und mit voller Kraft den politischen Kampf führen.

Einige Antifas im Sommer 2024

Auch wenn der Text einige Monate alt ist, hat sich inhaltlich nichts an den Positionen und Problemen geändert.