Euphorie-vergrößernde Maßnahmen
Ein neuer Leipziger Verein möchte trans Personen unterstützen
»Diesen Verein sollte es eigentlich nicht geben müssen«, betont Ella Hanewald gleich zu Beginn des Interviews. Die gemeinnützige Initiative Solidarkasse für nichtbinäre, trans, und inter Personen, kurz sonti*, sammelt Spenden für Dysphorie-verringernde Maßnahmen.
Menschen mit Genderdysphorie, die also Unwohlsein im eigenen Körper wegen des bei Geburt zugewiesenen Geschlechts empfinden, können sich mit einem Gesuch an den Verein wenden und sich so zum Beispiel eine Mastektomie finanzieren, also die Entfernung des Brustgewebes.
Gegründet wurde die Initiative von Lilith Poßner, Lasse Lazarus, Madeleine Elenor Weller und Ella Hanewald mit dem Ziel, das Leben von tin* Personen zu verbessern und Momente der Gender-Euphorie zu schaffen, erinnern sich Lazarus und Hanewald. Tin* steht für trans, inter und non-binär.
Aus eigenem Erleben erzählt Ella, wie sehr ihr eine feminisierende Gesichts-Operation geholfen habe, mit ihrem Gesicht und ihrer Geschlechtspräsentation als transfeminine Person klarzukommen. Für 30.000€ wurde ihr Haaransatz, die Augenbrauenknochen und die Nase angepasst und der Adamsapfel entfernt. Hätten ihr ihre Eltern nicht mit einem Darlehen unter die Arme gegriffen, wäre diese lebensverändernde OP nie möglich gewesen.
Kaum eine 23-Jährige hat solche Summen auf dem Konto. Krankenkassen lehnen die Kostenübernahme häufig mit der Begründung ab, dass der Leidensdruck »nicht groß genug« sei, berichtet der Bundesverband trans*, auch wenn sich dies nicht mit dem Empfinden der Betroffenen deckt. Oft bliebe nur die Möglichkeit, sich hoch zu verschulden, erklärt Hanewald.
Seit Frühjahr 2024 bauen die Engagierten deshalb eine Struktur auf, um Betroffene zu unterstützen. Derzeit entwickeln sie eine Website und weiten ihren Kreis an Unterstützenden aus. Besonders Fördermitgliedschaften, mit denen man monatlich einen festen Betrag zahlt, helfen, den Topf für Spendengesuche zu füllen. »In einer diskriminierungsfreien Welt würde die Gesellschaft für alle Dysphorie-verringernden Maßnahmen aufkommen, ohne langwierige und unnötige Krankenkassenverfahren«, sagt Hanewald.
Zwar ist durch das Selbstbestimmungsgesetz, das am 1. November in Kraft trat, die Änderung des Namens- und Geschlechtseintrags ohne grundgesetzwidrige Gutachten möglich, an der medizinischen Versorgung von Betroffenen ändert sich aber nichts. Im Gegenteil hat ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) Ende letzten Jahres die Situation noch verschlechtert. Die dort getroffene Entscheidung, dass Krankenkassen Dysphorie-verringernde Maßnahmen für non-binäre Personen nicht bezahlen müssen, löste Unsicherheit in der ganzen tin* Community aus. Was bezahlt wird und was nicht, entscheiden die Kassen von Fall zu Fall.
Das sonti*-Team berichtet von einem regelrechten Papierkrieg, um die Bewilligung einer Leistung zu erreichen und vom Gefühl der Willkür, wenn am Ende des Bürokratiedschungels doch eine Ablehnung wartet. Weil seit dem Gerichtsurteil die Unsicherheit, ob Leistungen wie regelmäßig einzunehmende Hormone, weiter bewilligt werden, gewachsen ist, entstand die Idee für den Verein, berichten Hanewald und Lazarus im Interview.
Sonti* soll breitenwirksam eine Alternative bieten: »Es gibt schon viele tolle Initiativen, die Crowdfunding-Kampagnen organisieren oder Soli-Partys veranstalten, damit aber häufig nur ein bestimmtes Publikum erreichen«, erzählt Lazarus. Im Gegensatz zu szenigen Partys hoffen sie mit der Form des gemeinnützigen Vereins auch Menschen anzusprechen, die nicht selbst betroffen sind oder sich nicht mit dem Thema auskennen, aber gern helfen möchten.
Die Solidarkasse will ein Gegengewicht zu szeneinterner, kurzfristiger Hilfe bieten: »Unbürokratische, schnelle Hilfen sind enorm wichtig. Eine Struktur, die langfristig und überregional eine breite Gesellschaft erreicht, fehlt aber bisher«, erklärt Ella. Ihr Ziel ist es, mit Spendenaufrufen und Bildungsarbeit zu einer beständigen Anlaufstelle zu werden und über die eigene Community hinweg sichtbar zu sein.
Während ihr Aktivismus die finanziellen Hürden senken kann, bleiben die queerfeindlichen Diskriminierungen und die Unwissenheit des medizinischen Fachpersonals bestehen. Besonders inter Personen erleben im medizinischen Bereich vom Säuglingsalter an traumatisierende Eingriffe.
Obwohl seit 2020 geschlechtszuweisende Operationen an intergeschlechtlichen Kindern verboten sind, bleibt die Regelung lückenhaft. Die Organisation Intersex International kritisierte im Juli in einem Statement, dass das Gesetz gegen Genitalverstümmelung mit einer missbräuchlichen Berufung auf Kindswohl zu leicht unterlaufen werden könne, auch wenn kein dringender medizinischer Grund vorliege. Auf die diverse körperliche Realität von inter Person und daraus folgenden notwendigen Behandlungen sind weder Arztpraxen noch Krankenkassen eingestellt.
Unrechtmäßige Operationen an inter Personen oder Empfehlungen an trans und non-binäre Personen, zur Konversionstherapie zu gehen, sind Teil zahlreicher Infantilisierungs- und Pathologisierungserfahrungen im Medizinsektor, von denen das sonti*-Team berichtet. Sie finden es paradox, dass einerseits so viel Wert auf Eigenverantwortung gelegt werde, aber es oft heiße, man müsse tin* Personen vor sich selbst schützen. Für Ella ist das ein gesellschaftliches Problem:
»Wenn es um Hormone oder OPs für tin*-Personen geht, grätscht die patriarchale und heteronormative Matrix rein und spielt Gatekeeper.« Die Utopie der Gruppe ist, dass für alle Menschen komplette körperliche Autonomie gilt. Bis das erreicht ist, helfen sie mit der Solidarkasse, glücklichere Leben mit mehr Energie und Kapazitäten zu schaffen. Mit ein wenig Unterstützung, der Gründung von Ortsgruppen, Spenden oder Soliveranstaltungen, lasse sich schon viel bewegen. So erklärt Lazarus:
»Mit 50 Fördermitgliedschaften können wir jährlich eine Mastektomie bezahlen.« Mit Dysphorie-verringernden Maßnahmen könne medizinisches Personal Schritte in ein selbstbestimmtes Leben begleiten – von Unbehagen zu Euphorie im eigenen Körper.
> Mehr Infos auf Instagram unter @soldarkasse_nti