Antwort auf den Debattebeitrag zum 07. Oktober 2023
Unter dem Titel „Der 7. Oktober und seine Folgen“ veröffentlichte Anfang Juni ein Zusammenschluss verschiedener antifaschistischer Gruppen einen Text, der sich kritisch mit linker Palästina-Solidarität und der „bürgerliche Mitte“, die sich „als Chef-Kritikerin des Antisemitismus inszeniert“, auseinandersetzt. Der Grund, dass sich die Verfasser:innen des Textes die Mühe einer solchen kritische Auseinandersetzung zu machen ist der, dass man ein Ziel vor Augen hat und dieses Ziel ist und „[…] bleibt die Aufhebung von Kapitalverwertung und Nationalstaaten in einer kommunistischen Weltgesellschaft, die keine menschenfeindlichen Ideologien wie Antisemitismus mehr hervorbringt und die eine Assoziation von Menschen auf freier und bewusster Basis, sowie von Zwangssubjektivierungen befreite Identitätsbestimmungen, ermöglicht.“ Antisemitismus demgegenüber ist „ein zentrales Moment der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse und Kritik an diesem daher Grundvoraussetzung für jegliche gesellschaftliche Emanzipationsbestrebung.“ Oder kurz: die kommunistische Weltgemeinschaft kann nicht erreichen werden, so lange der Antisemitismus uns im Weg steht.
Das klingt ja mal nach was. Schließlich wagen auch wir es zwischendurch, noch von einer Welt zu träumen, in der „man ohne Angst verschieden sein kann“ und die generelle Stoßrichtung des Textes teilen wir. Aber gerade deshalb ist es uns wichtig, nicht allzu schnell „ja und Amen“ zu sagen, sondern uns genau anzuschauen, was denn hier im Text alles gesagt wird. Denn um eine freie Gesellschaft zu erreichen, muss wohl noch ein ganz schönes Stück Weg zurückgelegt werden. Wenn wir sie erreichen wollen, irgendwann in der Zukunft, dann dürfen wir keine Mühen scheuen, auch wenn und gerade wenn das bedeutet, sich in manchen scheinbaren Spitzfindigkeiten zu verlieren. Aber so viel kann gesagt werden: zwischen all dem Zeug, was seit dem 7. Oktober 2023 in die Welt gepustet wurde und wird, war der Text schon fast eine Art Lichtblick.
1. Leben und Tod
Wenn man nicht davon ausgehe würde, dass das Leben nur einmal verloren werden kann, dann wäre wohl das Meiste völlig egal, und wer den Tod nicht fürchtet, dem bedeutet auch das Leben nichts. Das mag selbstverständlich sein, aber wenn wir uns ansehen, wie viel vermeidbares Sterben es gibt, drängt sich der Eindruck auf: so richtig verbreitet ist diese Ansicht nicht. Zumindest aber in der radikalen Linken, so scheint es: das Leben zählt was – und deswegen soll auch sein Ende vermieden werden, wenn es geht. Das ist ja im Grunde die letzte Utopie: dass der Tod nicht mehr ist, wo er unerwünscht ist und dass, wenn er nicht da ist, das Leben ist. Der gegenwärtige Zustand aber ist davon geprägt, dass es eher der allgemeine Sachzwang der kapitalistischen Welt ist, der das Sterben vermeiden heißt, zumindest so lange, wie es dieser falschen Welt zuträglich ist und es ist ebenso ein Zeichen dieser falschen Welt, dass dies nicht immer und zwangsläufig so ist, sondern sogar andersherum: das Sterben kann seinen Sinn darin haben, das System am Leben zu erhalten.
Warum aber sollten wir überhaupt das Leben lieben und behüten? Warum sollte uns das Sterben, so lange es nicht unser eigenes ist, überhaupt interessieren? Und wieso denn eigentlich noch das eigene? Kann einem nicht auch das eigene Leben egal sein? Jammervoll genug ist es doch schon und Besserung schließlich kaum in Sicht.
Tatsächlich ist es ja so, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft das Leben eines einzelnen Menschen für sich genommen nichts wert ist, vor allem nicht in seiner singulären Ausprägung und überhaupt in seiner jeweiligen Singularität; der Mensch hat einen Wert im Sinne seiner Quantität, im dem Sinn, wie er eben für das System, in dem wir leben, irgendeinen Nutzen hat. Störend ist es nur, wenn etwas Nützliches kaputt geht. Da sich aber in Hinblick auf seine Quantität jede:r ersetzen lässt, ist das für diese Welt kein Problem. Wie wir vielleicht schon einmal irgendwo gelesen haben: das Sein bestimmt das Bewusstsein – in unserem Bewusstsein schlägt sich nieder, dass wir unbedeutend und gleichgültig in Hinblick auf unsere Existenz sind. Wir alle haben keinen wesentlich anderen Bezug zum Leben als den, welcher uns von dieser Gesellschaft vermittelt wird und vielleicht noch Resten eines Überlebensinstinkts, der uns an unsere Verwandtschaft mit den Tieren erinnert.
Die Gesellschaft aber, in der wir Leben, ist die Gesellschaft der Menschen und es macht das Irrationale an dem gegenwärtigen Zustand der Welt aus, dass wir mit all unserer Arbeitskraft als Menschheit eine gesellschaftliche Ordnung am Leben erhalten, in der wir als einzelne Menschen keine Bedeutung besitzen und das über die tausende von Jahren es nicht gelungen ist, eine Welt zu schaffen, in der das anders ist. Der Ansatz überhaupt, dass es anders sein soll, der ist noch eine recht junge Entwicklung in der Menschheitsgeschichte; zugleich hat mit dem Aufkommen der Idee einer solchen Gesellschaft, in der der Einzelne mehr ist als eine Summe nützlicher Eigenschaften, sich das Ausmaß der Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschen potenziert.
Diesen Zustand zu beenden, hat als Ziel sich der Kommunismus gesetzt und er ist damit gescheitert wie die bürgerliche Gesellschaft, die ihn hervorbrachte. Trotz ihres eigenen Scheiterns aber hat sich die bürgerliche Gesellschaft erhalten und hält irrationalerweise an dem Glauben fest, überhaupt gar nicht gescheitert zu sein. Und um sich dieses Glaubens ständig zu vergewissern, muss sie vor allem immer und immer wieder eine Sache tun: den Wert des einzelnen Lebens behaupten, wenn sie zugleich anhaltend demonstriert, dass dies in der bestehenden Gesellschaft eine Lüge ist.
Wenn wir diese Gesellschaft irgendwann überwinden wollen, dann müssen wir Kritik üben an den Illusionen, welche die Gesellschaft sich über sich selber macht und welche sich in der Folgein unserem Bewusstsein niederschlagen, und diese eine, dass das Leben aktuell mehr als nur einen Scheiß wert ist, gehört dazu. Und wenn jetzt eine:r denkt: „Na Moment, ich fühl doch aber, dass mein Leben mir etwas wert ist“, dann ist dieser Wert wesentlich vermittelt dadurch, dass man in dieser Welt irgendeinen Wert beigemessen bekommen hat und dieser Wert ist ein gesellschaftlicher und keiner des Lebens selbst. Und es gibt auf der Welt immer mehr Menschen, die einen solchen Wert nicht beigemessen bekommen und die dann eben das Bewusstsein darüber entwickeln, dass ihr Leben nichts wert ist und diese Menschen achten und lieben das Leben nicht mehr, sondern sie sind bereit, es auszulöschen. Und dies ist die Gefahr, die sich derzeit überall zusammenzieht. Die Illusion des wertvollen Lebens schwindet, aber dies ist nicht gut, weil diese Illusion nicht ausgelöscht werden soll, sondern aufgehoben, dh. gerade durch die Kritik an der Abwesenheit des Werts des Lebens soll ja ein Zustand sich entfalten, in welchem dieser Umstand negiert ist: das Ziel ist eine Welt, in der nicht ein quantifizierbarer Wert den Wert des Lebens ausmacht.
Im Text „Der 7. Oktober und seine Folgen“ wird aber eine Kritik am falschen Wert des Lebens überhaupt nicht geübt. Stattdessen wird sich bemüht, die Illusion des wertvollen Lebens aufrechtzuhalten, um mit dem dazugehörigen falschen Bewusstsein, zugleich die eigene einfühlsame, also besonders wertvolle menschliche Qualität behaupten zu können: „Wir trauern um die Toten und sind solidarisch mit der notleidenden Bevölkerung Gazas.“, „Die Lebensumstände der knapp 2 Millionen Menschen im Gazastreifen sind durch den Krieg entsetzlich. Bereits vor den jüngsten Kriegshandlungen waren Verhältnisse in Gaza extrem prekär.“, „Für eine emanzipatorische Linke gilt es auch jene Strukturen zu unterstützen, die in Gaza für eine Perspektive auf ein gutes und selbstbestimmtes Leben und gegen die Schreckensherrschaft der Hamas und reaktionäre Gesellschaftsbilder kämpfen, etwa indem sie sich für ihre Rechte als Arbeiter:innen, als Frauen oder als Queers einsetzen.“, „Das bedeutet auch, das Leid der Bevölkerung von Gaza anzuerkennen, auf das wir mit großer Sorge schauen. Zehntausende1 Menschen wurden im Zuge der Operationen des israelischen Militärs getötet. Auch wenn ein gewisser Teil davon Kombattanten der Hamas und anderer Organisationen sind ist die Zahl an zivilen Toten enorm.“, „Die humanitäre Lage ist aufgrund der Versorgungsknappheit, der durch die Zerstörung von Gebäuden und Zwangsevakuierungen erzeugte Wohnungslosigkeit und der medizinischen Krise katastrophal.“
Das alles ist kein Mitgefühl, sondern die unreflektierte Abwesenheit davon; präsentiert im gleichen Jargon, mit dem sich das Bürgertum seit jeher zu adeln versucht hat: „Mitgefühl“, „Sorge“, „Trauer“, „wertvolles Leben“, „Empathie für die „notleidende Bevölkerung“, die „katastrophale humanitäre Lage“, die „entsetzliche[n] Lebensumstände“.
Man behauptet bloß, man fühle mit denen mit, die wie alle in einer Welt leben, die kein Mitleid kennt und zum anderen von niemandem welches erfahren. Das ist aber kaum mehr als der – wie stets – durchschaubare Versuch, das zur Schau gestellte Mitgefühl für die eigenen Interessen zu nutzen. Das Interesse hier ist leicht erkennbar: es geht darum, sich vor dem Vorwurf zu schützen, man würde sich einer Einseitigkeit in der Beurteilung des Konflikts schuldig machen. Das schlechte Gewissen, das einen beschleicht, wenn man in einem Konflikt, in dem man zwei Seiten ausmacht, sich auf eine der Seiten schlägt, weil man so der anderen unrecht tut, verleitet dazu, so zu tun, als sei man auf keiner Seite; das zur Schau gestellte Mitgefühl, die angeblich verspürte Trauer, soll den Wind nehmen aus den Segeln derer, die sich im Angriff auf die formulierte Kritik als Vertreter der kritisierten Seite verstehen. Wer Mitgefühl mit denen, die im Elend verrecken, aber nur behauptet, der tut ihnen gleich ein zweites Mal Unrecht an. Nicht aber am grauenvollen Ableben inmitten von Trümmern und zerfetzten Leibern ist die Klage zu erheben, sondern am Betrug ums Leben; an der Herzenskälte derer, die noch die Toten quantifizieren, um die Dimension des eigenen Mitgefühls zu demonstrieren, oder am ahnungslosen Herausgreifen einzelner Schicksale durch jene, die die Dreistigkeit besitzen zu behaupten, sie wüssten etwas dazu zu sagen. In Beidem zeigt sich gerade die Distanz zum Geschehen: Im vorgeblichen Trauern über die Toten als Summe aus Leichen wie im Beklagen des Todes eines entleerten Individuums.Gleichgültigkeit jedenfalls besteht darüber, ob die Beklagten selber Schlächter waren, sie bejubelten oder welche werden wollten. Sie verschwinden in der Menge: In der Summe belanglos geworden, ist ihr Tod traurig.
2. Das Gewicht von oben drückt auf alles
Es ist seit je her so gewesen, dass der Kampf um Macht durch Einseitigkeit der Kontrahenten geprägt war. Kenntnis vom Feind ist immer nur insoweit notwendig, wie es dienlich ist für den Sieg. Erst mit der Aufklärung kommt der Gedanke vom Ende des Kampfes um die Macht. Nicht der Stärkere soll siegen, sondern das Argument: Nicht ein Herrscher soll den Zwang ausüben, sondern die Sache. Nicht, weil etwas dem Einzelnen dienlich ist, soll es werden, sondern, weil es der Gesellschaft und somit allen dient. War dies auch von Beginn an Illusion, hat sich der Zauber des Gedankens erhalten: Nicht der eigene Wunsch nach Macht soll hinter den Argumenten stehen, vielmehr soll die Interessenlosigkeit an der individuellen Absicht durch Abwägen und eine differenzierte Betrachtung sich belegen lassen. Das hat sich Verdichtet in der Perspektive, die Wahrheit läge immer in der Mitte, Unwahres aber gäbe sich dadurch zu erkennen, dass es bloß eine einseitige Perspektive berücksichtige. Das zeigt sich auch darin, dass das Extreme der bürgerlichen Gesellschaft seit je her als gefährlich gilt. Um diese Gefahr zu bannen, wird sich von der vermeintlichen Mitte aus bemüht, den Sachgehalt der Extreme zu integrieren, und zwar in dem Maße, wie es nötig ist, um diese zu entwaffnen. Die Entwaffnung, das Absichern der eigenen Macht, aber ist gegenüber der Verwirklichung der Sache das eigentliche Ziel.
Es ist dieses Denken, das dem Bewusstsein in der bürgerlichen Gesellschaft seine Form gibt und es findet sich noch gleichermaßen in den Positionen derer, die von der Mitte her als Extremisten verschrien werden. Nie würde sich jemand freiwillig diesen Schuh anziehen; vielmehr sind alle zu jederzeit überzeugt, sich selbst in der wahren Mitte, dem Zentrum der Verwirklichung des Sachzwangs, zu befinden. Alle suchen stets nach Belegen dafür, gerade nicht zum Rand zu gehören. Der Rassist wehrt den Vorwurf, er sei einer, damit ab, dass er mit Ausländern befreundet sei, der Antisemit damit, dass er einen Juden kennt, der seine Position teilt. Dabei ist ein solcher Gewährsmann selten von Nöten: es reicht, sich durch eine vermeintlich differenzierte Perspektive als rational zu präsentieren. Der Weg nach oben wird gebahnt dadurch, dass man die verschiedenen Seiten in ihrer Problematik darzustellen weiß. Indem gesagt wird, dass an allem irgendwie etwas dran ist, wird ausgedrückt, an nichts sei etwas dran. Keine Sache kann ihr ausschließliches Recht behaupten: wahres Recht kann nur der haben, der alles seiner extremen Gestalt entkleidet und den vermeintlich rationalen Kern an der jeweiligen Seite hervorzuheben weiß.
Um eine solche Differenziertheit bemüht sich auch der Text „Der 7. Oktober und seine Folgen“. Man bedient die Position, dass man nicht auf der Seite der Macht sei, sondern auf der Seite des Fortschritts, auch in Gaza: „Für eine emanzipatorische Linke gilt es auch jene Strukturen zu unterstützen, die in Gaza für eine Perspektive auf ein gutes und selbstbestimmtes Leben und gegen die Schreckensherrschaft der Hamas und reaktionäre Gesellschaftsbilder kämpfen, etwa indem sie sich für ihre Rechte als Arbeiter:innen, als Frauen oder als Queers einsetzen“. Man macht deutlich, dass man auch einen kritischen Blick auf Israel hat: „Ebenso sind uns die Konflikte und Auseinandersetzungen innerhalb Israels, insbesondere mit den rechtsextremen Teilen der Regierung bewusst“. Man bezieht Position gegen die israelische Regierung: „Netanyahus Politik ist häufig von einem Handeln zugunsten seiner eigenen Machterhaltungsinteressen bestimmt, wofür er mit den Rechtsextremen und den gewalttätigen Teilen der Siedler:innen in der Westbank paktiert. All dies wird immer wieder innerhalb der israelischen Gesellschaft thematisiert, wie etwa die Proteste der Angehörigen der Geiseln zeigen, die eben auch Austragungsorte der Kritik an ihrer Regierung sind“. Man weißt de Vorwurf von sich, ein schlechter Antideutscher zu sein: „Um nach der vorhergegangenen Kritik an Formen des „Pro-Palästina“-Aktivismus weiter Teile der Linken eines deutlich zu machen:Es versteht sich von selbst, dass auch mit einigen abgedrifteten Antideutschen kein Stich zu machen ist, die die gesamte Bevölkerung von Gaza entmenschlichen, denen die Lage und die Zukunft der der Palästinenser:innen egal sind, die nicht die eigene Tragik und spezifische Kritikwürdigkeit der militärischen Handlungen der israelischen Armee erkennen, sondern in Kriegsbegeisterung ausbrechen“. Demgegenüber gehört man nicht zu denen, die „[…] kein Problem damit haben, dass zehntausende Zivilist:innen getötet wurden, Millionen Menschen ihre Wohnungen verloren haben und fliehen mussten, dass ein Großteil der Gebäude und Infrastruktur in Gaza zerstört wurden. Die keine Kritik für die rechte israelische Regierung und die eigenen Machtinteressen Netanyahus übrig haben. Der Begriff der Antideutschen wird zwar in innerlinken Debatten inflationär und oft falsch benutzt, um jegliche Antisemitismuskritik abzuwehren. In der realen Strömung der Antideutschen finden sich bisweilen aber einige kritikwürdige Positionen, die oftmals mit antimuslimischem Rassismus einhergehen und sich weit jeder vernünftigen Ideologiekritik entfernt haben“. „Solche Auswüchse“ müssen kritisiert werden, um „der Komplexität der aktuellen Situation gerecht zu werden“.
Solch Dualismus aber ist schlechte Dialektik. Man will der Komplexität gerecht werden, verliert sich aber in Phrasen, über deren Inhalt ohnehin schon allgemeine Einigkeit besteht. Am Ende bei einem „auf der einen Seite müssen wir den Rassismus kritisieren, auf der anderen den Antisemitismus“ herauszukommen ist nicht komplex, sondern platt, und platt muss es werden, damit man sich darüber stellen kann. Eine kritische Position gibt aber nicht einfach allen ein bisschen recht, um selbst im Recht zu sein, sondern entfaltet sich kritisch an der jeweiligen Position und zwar in dem diese nicht nach ihren moralischen Implikationen hin untersucht wird, sondern ihrem eigenen Gehalt nach. Moralische Verwerflichkeit zu beklagen ist Ausdruck des vorpolitischen Bewusstseins und ist für die Emanzipation nicht dienlich. Statt „falsche Einseitigkeiten“ zu monieren, um dann in einer „richtigen“ Vielseitigkeit zu landen, wäre die Kritik an der vermeintlich einseitigen Sache zu üben, gerade um ihr durch die Kritik ihrer Falschheit erst zu überführen und ihr so zu ihrem Recht zu verhelfen.
3. Steinwürfe im Glashaus
Ein Feind der Wahrheit ist, wer die Wahrheit über sich selbst nicht wissen will. Das Falsche, so scheint es dann, verwirklicht sich, weil die Dummen und Schlechten das falsche Verhältnis zur Wahrheit eingenommen haben, wohingegen man selbst sich bereits im Licht der Erkenntnis sonnen kann. Wer sich in der Wahrheit befindet, der darf sich aufs Verkünden verlegen, die Eintrittkarte auf das Sonnendeck ist das bejahende Nicken derjenigen, die noch draußen stehen.
Aber Wahrheit ist weder fest noch sicher; sie eignet sich nicht zur Verkündung. Nicht entfaltet ist jedes Wissen nur das Wiederholen eines toten Gedankens, ohne Kenntnis über dessen lebendigen Gehalt. Solches Wissen wird zur Schablone, durch die die Wirklichkeit gepresst wird, um sie in einer konsumerablen Form aufnehmen zu können. Wer aber glaubt, ohne den Zeitkern jeder Wahrheit auszukommen, ist der Beliebigkeit aller Meinung ausgesetzt: die eine ist nicht besser oder schlechter als die andere. Nicht Einsicht bedingt in diesem Fall die Zustimmung und das vermeintliche Wissen ändert sich mit mit dem Wechsel der Meinung.
Dies gilt auch für eine Kritik des Antisemitismus. Die beiläufige Auflistung unter dem Punkt „Zur ideologischen Funktion des Antisemitismus“ trägt dementsprechend wenig dazu bei, den Antisemitismus als „Welterklärung, die in der Gedanken- und Affektwelt“ fußt zu begründen, zudem völlig offen bleibt, welche „Welterklärung“ nicht mindestens einen Fuß in der „Gedanken- und Affektwelt“ stehen hat; Welterklärungen, die jedenfalls jeden Zusammenhang zur „Gedanken- und Affektwelt“ verloren haben, dürfen jedenfalls dem Wortsinne nach unmenschlich sein. Zwar mag es gewissermaßen stimmen, dass „Komplexe gesellschaftliche Phänomene, Krisen und Ambivalenzen […] in der antisemitischen Logik widerspruchsfrei aufgehoben“ werden, aber nur bedingt: Mehr als „komplex gegen einfach“ steht hier doch das Ziel, Abstraktes in Konkretes zu überführen. Im Antisemitismus begegnet einem ja gar nicht bloß sture Einfachheit, sondern vielmehr ein in sich selbst komplexes Weltbild, dass zwar immer wieder auf den einen Kern zurückstößt: den Juden. Die in diesem Kontext angebrachten Pseudonachweise seiner angeblichen Fähigkeiten und die Erläuterung der dunklen Wege seiner Machtausübung aber entziehen sich ganz regelmäßig einer leichten Zugänglichkeit. Gerade da, wo offene Judenfeindschaft tabuisiert ist, werden die Gedankenwelten, in denen undurchschaubare gesellschaftliche Verhältnisse in eine abstrakte Gestalt verdichtet werden komplex ausgestaltet, damit dann mit dieser abstrakten Gestalt, als vermeintlich wahres Konkretes hinter der Fassade des Individuellen, die Verschiedenheit der Menschen überdeckt werden kann. Der Verweis auf den Versuch, den konkreten gesellschaftlichen Wahn in einem abstrakten Bild zu verdichten, um dann im Konkreten Ansätze des Handelns gegen den Wahn zu erlangen, deutet höchstens auf das Motiv, nicht aber auf die Form des Gedankens.
Viel zu wenig wird sich zudem mit der Bedeutung der öffentlichen gesellschaftliche Wende gerade in Deutschland gegen den Antisemitismus befasst. So wird hinter der öffentlichen Kritik am Antisemitismus keine Interesse an der „realen Bekämpfung von Antisemitismus“ vermutet, sondern vielmehr die Verwirklichung eines kollektiven Rituals „der geläuterten Deutschen“ zwecks „Selbstvergewisserung bürgerlich-liberaler Ideologie“. Diese Analyse traf den Geist der Zeit den von der 2005 von der Bertelsmann AG ins Leben gerufenen „Du bist Deutschland“ Kampagne, die darauf abzielte, das immer noch ramponierte Bild Deutschlands international aufzupepeln, welche dann 2006 unter dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ in der Fußballweltmeisterschaft gipfelte. Ohne dies zu benennen, wittern die Autor:innen des Textes hinter der nicht-“realen Bekämpfung von Antisemitismus“ einfach die gleiche Absicht, ohne aber überhaupt die gegenwärtige internationale Lage Deutschlands zu berücksichtigen. Die Frage, die sich aber aufdrängt ist ja die: wem gegenüber soll sich denn mit einer Bekämpfung des Antisemitismus aktuell positiv dargestellt werden? Es gibt ja gar keine besondere Kritik mehr am deutschen Antisemitismus, ob unaufgearbeitet oder nicht. Im Gegenteil, international wird Deutschland diese Haltung sogar vorgeworfen und es wird sogar moniert, dass Deutschland hier zu sehr einem Schuldkomplex verfallen würde, anstatt – wie alle anderen außer vielleicht Teile der USA – unvoreingenommen die Falschheit des Handelns der israelischen Regierung zu kritisieren. Deutschland kann als „Aufarbeitungsweltmeister“ gar nicht glänzen, weil dies eine Meisterschaft ist, die nicht stattfindet. Ein wesentliches Interesse daran, wie die deutsche Positionierung aktuell zum Antisemitismus und dem Gazakrieg ausfällt, hat vor allem Israel und die Juden und Jüdinnen in Deutschland und sonst nahezu niemand. Will man aber den Kampf gegen Antisemitismus als „kollektives Ritual der geläuterten Deutschen“ zur „Selbstvergewisserung bürgerlich-liberaler Ideologie“ begreifbar machen, so müsste man dieses ja wesentlich auf den Aspekt der Selbstvergewisserung beziehen. Dies wäre auch ein wichtiger und interessanter Aspekt, um eine wirkliche Erklärung aber wird sich herumgedrückt. Stattdessen wird ein wiederum ganz schlichtes Bild gezeichnet: Aktuell will der deutsche Michel nämlich nicht die Juden, sondern die Muslime totschlagen. Da er sich aber dabei moralisch schlecht vorkommt, nimmt er den Antisemitismus als Begründung, um seinen Rassismus ungehemmt ausleben zu können: „Der doppelt perfide Kniff ist, dass das durch die selbstattestierte Läuterung zu moralischen Höhenflügen berufene Deutschland zusätzlich nicht selten noch seine rassistischen Bedürfnisse auslebt und dabei vor allem muslimische Menschen als die eigentlichen Übeltäter:innen zeichnet“ und noch „perfider ist der Versuch, ein Doppelpaket zwischen Antisemitismusbekämpfung und der gegenwärtigen rassistischen Abschiebe- und Abschottungspolitik und der sie begleitenden rassistischen Töne im öffentlichen Diskurs zu etablieren“. Der Deutsche ist ganz offensichtlich vor allem eines: Perfide, und perfide verfolgt er seine Interessen, zum Beispiel die „Externalisierung des Antisemitismus“ zwecks „deutscher Schuldabwehr“. Hier finden wir in eine Text, der sich kritisch gerade mit dem Umgang der deutschen Linken mit dem 7. Oktober befassen will, das Argument, das sich gerade unreflektiert in linken Kreisen verbreitet hat und das als Parole auf den Gazakrieg bezogen wurde: „Free Palestine from German Guilt“. Wenn man aber schon der Meinung ist, aktuell wäre das „Bedürfnis“ ein rassistisches, dessen Befriedigung sich durch den vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus erwirken ließe, so wäre doch zumindest die Frage zu stellen, woher denn dieser aktuelle Interessenwechsel kommt.
Die Kritik der deutschen Mehrheitsgesellschaft am Antisemitismus ist den Verfasser:innen des Textes nach doppelt motiviert: zum einen aus der deutschen Schuldabwehr, zum anderen durch den eigenen Rassismus. Wir können also erneut feststellen, was bereits zuvor festgehalten wurde: was die Antideutschen früher festgestellt haben – die deutsche Schuldabwehr – da ist was dran, aber an der Position, die gerade in linksradikalen Kreisen besonders angesagt ist, dass es eben der Schuldkomplex ist, der die Deutschen nicht Partei ergreifen lässt für Palästina, daran auch, zudem zeigt sich in der fehlenden Solidarität für Palästina der deutsche Rassismus. Alle haben also irgendwie recht. Ein solches Herangehen wird aber dem Gegenstand, um den es gehen soll, nicht gerecht. Die Thematisierung der „Ideologie des Antisemitismus“ bleibt oberflächlich, der Begriff wird nicht entfaltet, sondern ganz äußerlich an den aktuellen Konflikt herangetragen. Der erhobene Vorwurf an den „Aufarbeitungsweltmeister“, keinen „genaueren Begriff des Antisemitismus zu haben“, trifft einen selbst. Gerade aber wenn einem schon aufgeht, dass an allem irgendwie etwas dran ist, sollte mehr Arbeit darauf verwendet werden, dieses auch herauszuarbeiten, anstatt einfach darauf hinauszukommen, was ohnehin zum Kern des bürgerlichen Bewusstseins gehört: eine moralisch integre Position einzunehmen, um dann dem vermeintlich differenzierteren Standpunkt höhere Geltung zu verschaffen.
Dass es vor allem um eine moralische Position geht, legt auch Folgendes nahe: „Gegen die antisemitische Entmenschlichung von Jüdinnen:Juden wie auch gegen die rassistische Entmenschlichung von Palästinenser:innen und den falschen Widerspruch des Kampfs gegen Antisemitismus und gegen Rassismus treten wir ein für eine Linke mit dem Ziel universeller Befreiung“. Werden auf der einen Seite also die „Juden:Jüdinnen“ entmenschlicht, auf der anderen Seite „Palästinenser:innen“, die einen wegen Antisemitismus und die anderen wegen Rassismus, soll eine radikale Linke den falschen Widerspruch eines Kampfes gegen Rassismus und Antisemitismus aufgeben und für die universelle Befreiung kämpfen. Mag es auch sein, dass sich aktuell ein falscher Widerspruch im Kampf gegen Rassismus einerseits und im Kampf gegen Antisemitismus andererseits entfaltet hat: er ist aber nunmal da und er geht auch nicht weg, wenn wir festhalten, dass doch am Ende alle Menschen sind, die nicht entmenschlicht werden sollen. Das Problem ist doch: sie werden aber entmenschlicht und diese Entmenschlichung festigt sich, wenn man von Juden einerseits, Palästinensern andererseits spricht. Ein Mensch wird nicht dadurch zum Menschen, weil man ihm das Etikett seiner Gattung anhaftet, das ist noch zu keiner Zeit ein Schutz gegen die Grausamkeit gewesen, sondern da, wo er als sich entfaltendes Wesen und Bewusstsein erfasst wird. Da, wo er Vertreter eines bestimmten Typus von Mensch ist, ist er keiner; er ist dann bloß vordergründig individualisierte Hülle eines abstrakten Konstrukts, das fälschlicherweise als konkretes wahres Sein behautet wird.
4. Das Haus des Wahns ist für alle gleichermaßen geöffnet
Der Wahn, der sich gerade überall entfaltet, ist nicht an den Antisemitismus geknüpft. Wie er sich ausgestaltet, liegt weniger am individuellen Vermögen des Einzelnen, sondern an den Verhältnissen selbst; der Wahn der Verhältnisse prägt sich als Wahn dem Bewusstsein auf. Der frühere Antisemitismus kam von der Erfahrung her, nichts zu haben und gleichzeitig zu sehen, dass es alles gibt, aus dem Hass auf die Versagung des Begehrten wie auf das Begehrte selbst. Dass es die Juden traf hatte seine historische Gründe; schuldlos waren sie an den Verhältnissen wie alle anderen und schuldlos waren sie daran, dass ihre Häscher sie in die industriellen Menschenvernichtungsöfen zerrten, aus denen sie nur noch als Rauch herauskamen.
Bisweilen werden Gründe angegeben dafür, warum die Deutschen sich am Betrieb der Todesfabriken beteiligten: sie hätten sich am Hab und Gut der Juden bereichern wollen. Nachträglich wird versucht, dem wahnhaften Handeln einen Sinn zu geben, ein rationales Motiv, um so der Furcht vor dem Wahn zu entkommen und die Deutschen zu entlasten, ihr industrielles Morden zu dem zu machen, was schon immer verständlich war, dem Morden für den persönlichen Profit. Müßig ist es, dies für das Ausmaß der Shoah zu widerlegen, markiert doch das Ansinnen schon das irrationale und falsche Verhältnis, in dem sich die Welt noch immer befindet: dass ein Menschenleben weiger Wert ist als ein Ding und das, obwohl mehr Dinge existieren, als überhaupt gebraucht werden. Das Leben eines Menschen steht im Wert unter dem der Dinge und es ist dieser Umstand, der sich als Wahn im Bewusstsein heute entfaltet: dass es nicht zu viele Dinge gibt, sondern zu viele Menschen. In diesem Gedanken steckt bereits der Schritt zur Massenvernichtung; nach dieser soll dann der Zustand eintreten, der jetzt schon ist: dass es für alle reicht. Dies ist bereits der „offene Wahn“, von dem die Verfasser:innen des Textes sprechen, dass er erst im Antisemitismus hervorkommen würde. Tatsache aber ist, dass er schon jetzt offen zutage tritt. Es ist vollkommen richtig, dass eine radikale Linke sich nicht am Diskurs der Schuld beteiligen darf. Dieser ist immer schon zugleich der Diskurs darüber, wer im Kampf um den Fetisch auf dem Opferaltar landen soll. Falsch aber ist es, in vermeintlich kritischer Distanz den wahren Kern in den jeweiligen Positionen herausgreifen zu wollen. Vielmehr sind vermeintlich kritische Positionen als Ideologie zu entlarven und dies nicht von außen, sondern von innen heraus. Die Ideologie versteht nur, wer sich ihr überlässt, ihre Ziele und Absichten versteht und eben versteht, auf welche Weise der wahnhafte Zustand der Welt in eine rationale Ordnung gebracht werden soll. Darum muss es gehen, diese Ordnung als Unwahr zu entlarven, nicht darum, seine eigene Ordnung umzusetzen. Der Kampf gegen die anderen muss um sie und nicht um sich geführt werden.