Friedensaktivist aus Gaza im Gespräch: „Die Palästinenser werden einen Weg finden, das Hamas-Regime zu stürzen“
Hamza Howidy wuchs in Gaza auf, wurde nach Protesten inhaftiert, gefoltert und floh kurz vor Beginn des Krieges. Im Exil setzt er sich für den Frieden zwischen Palästinensern und Israelis ein – und gegen die Hamas.
Herr Howidy, Sie stammen aus Gaza und setzen sich seit Jahren, inzwischen aus dem Exil, für Frieden zwischen Israel und Palästina ein. In den vergangenen Monaten kam es vermehrt zu Protesten und Besetzungen an westlichen Universitäten gegen den Krieg in Gaza. In Teilen wurden dort antisemitische Parolen skandiert und Hamas-Symbolik genutzt. Wie blicken Sie auf die Proteste?
Zu Beginn der Proteste im gesamten Westen dachte ich noch, die Protestierenden würden die Palästinenser unterstützen und darauf abzielen, diesen Krieg zu beenden. Leider gingen die Proteste in eine Glorifizierung der Hamas über – die Organisation, die für diesen Krieg und die Gräueltaten des 7. Oktober verantwortlich ist. Ganz zu schweigen davon, was die Hamas den Palästinensern selbst angetan hat. Viele Bewohner Gazas wurden in Gefängnissen der Hamas gefoltert oder getötet.
Niemand denkt dabei noch an die Geiseln, die seit mehr als acht Monaten in der Gefangenschaft der Hamas leben. Ich schäme mich dafür, dass auf diesen Protesten antisemitische Parolen zu hören sind. Die palästinensische Sache liegt mir sehr am Herzen und ich will nicht, dass diese als antisemitisch und terrorverherrlichend wahrgenommen wird.
Wie erklären Sie sich die Einseitigkeit der Proteste?
Ich denke, dass die Verbrechen, die die Hamas an der palästinensischen Zivilbevölkerung beging, medial zu wenig Aufmerksamkeit erhielten: Nach der Wahl in Gaza 2006 und der gewaltsamen Übernahme der Kontrolle durch die Hamas wurden im Konflikt mit der Fatah, die vorher regierte und anfänglich Koalitionspartner der Hamas war, über 600 Zivilisten getötet – zum Teil gezielt. Beide Seiten begingen Kriegsverbrechen. Einige der Protestierenden verstecken ihren Hass auf Israel hinter der palästinensischen Sache.
Wieso erfährt die Hamas ausgerechnet in linken Kreisen Zuspruch? Ihre Ziele und Überzeugungen stehen sich ja in vielen Fällen diametral entgegen.
Die Hamas hat erfolgreich das Narrativ geschaffen, der Verteidiger der Palästinenser zu sein. Doch gerade dieser Krieg verdeutlicht einmal mehr, dass das Hamas-Regime in Gaza ein terroristisches ist. Erst heute sah ich ein Video, in dem Hamas-Mitglieder auf Palästinenser schossen, weil diese versuchten Lebensmittel von Hilfslieferungen zu stehlen. Dabei starb ein 13-jähriger Junge. Die Hamas hält die humanitären Hilfsgüter zurück, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen und ihren Krieg zu finanzieren.
Wie reagieren pro-palästinensische Aktivist:innen auf Ihre Kritik?
Ich erhalte täglich Todesdrohungen – die Forderung, die Geiseln freizulassen, oder dass die Hamas sich ergibt, wurde für einige zu einem Verbrechen, das sie mit dem Tod bestrafen wollen.
Als die Hamas 2006 die letzten freien Wahlen in Gaza gewann, waren Sie acht Jahre alt. Wie hat sich das Leben in Gaza seitdem verändert?
Vor der Wahl hatten die Menschen die Korruption in den Behörden und der Regierung satt. Und die Hamas schaffte es uns zu überzeugen, sie seien der Messias der palästinensischen Gesellschaft. Mit ihrer Herrschaft führte die Hamas Bekleidungsvorschriften für Frauen ein. Religiöse Minderheiten wie Christen wurden verfolgt. Die Hamas installierte ein Netz an geheimen Mitgliedern, das Kritiker meldete. Die Propaganda der Hamas wurde allgegenwärtig, von Schulen über Moscheen bis hinein in die Medien. In der Moschee nahe meines Hauses wurde mir beigebracht, Juden seien die Söhne von Schweinen. Sie hätten Propheten ermordet, und verdienten es dafür bestraft zu werden.
Wann haben Sie entschieden, sich für den Frieden zwischen Palästinenser:innen und Israelis einzusetzen?
Das war nach den Protesten in Gaza 2019. Bis dahin wurde mir beigebracht, Juden und Israelis als den größten Feind zu sehen. Ich wollte nur aus Neugier mit Menschen aus Israel sprechen. Über Instagram lernte ich einen Israeli kennen. Anfangs hatte ich noch Angst, es könne sich um einen Agenten handeln. Während wir uns austauschten, verstand ich, dass alles, was uns beigebracht wurde, falsch war. Unter den Israelis gibt es zwar eine extremistische Minderheit, sie sind aber ein Volk, das sich Souveränität und Sicherheit wünscht. Wie alle anderen auch. Wie auch die Palästinenser. Das hat mich deradikalisiert. Bis heute bin ich mit dem Israeli befreundet.
2019 traten Sie der „We want to live“-Bewegung in Gaza bei. Welche Ziele verfolgte die Bewegung?
Menschen waren vor allem wegen der ökonomischen Situation aufgebracht. Wir wollten bessere Lebensbedingungen, Jobs und so leben, wie es die Hamas-Elite schon lange tat. Yahya Al-Sinwar beispielsweise besitzt mehr als fünf Handelsunternehmen in Gaza, Fathi Hammad, der frühere Innenminister, die größten Hühnerfarmen. Sie haben das Geld, während, die Zivilbevölkerung unter Arbeitslosigkeit und Stromausfällen leidet. Deshalb gingen wir auf die Straße.
Wie reagierte die Hamas auf die Proteste?
Sie schickte ihre Milizen los und versuchte, so viele wie möglich zu inhaftieren. Ich selbst wurde über drei Wochen im Gefängnis gefoltert. Andere blieben mehrere Monate in Haft.
Sie flohen erst im Sommer 2023 und sind nun in Deutschland. Warum?
Nach 2019 hatte ich noch eine kleine Hoffnung, dass sich die Situation, trotz der katastrophalen Bedingungen, verbessern könnte. Ich glaube, es ist Teil meiner palästinensischen Kultur, die Hoffnung nicht zu verlieren – und ich blieb, weil Gaza mein Zuhause ist, weil dort meine Familie und Freunde sind.
Im Sommer 2023 protestierten wir erneut für bessere Lebensbedingungen. Kurz zuvor waren innerhalb eines Monats zwei Palästinenser in Gefängnissen der Hamas ermordet worden. Die Hamas reagierte noch brutaler als 2019. Während der Proteste wurde ich ein zweites Mal verhaftet. Ich saß in einer Zelle, die kaum groß genug war, um sich hinzulegen. Es gab kein Bett, keine Toilette. Eine Szene kann ich bis heute nicht vergessen. Ein Wärter der Hamas kam in meine Zelle und zeichnete ein Fahrrad an die Wand. Er sagte, ich solle mit diesem Fahrrad fahren. Wenn ich es nicht schaffe, würde er mich den ganzen Tag schlagen.
Sie verprügelten mich über Stunden mit Fäusten oder Kabeln und Schläuchen, warfen mir vor, mit der israelischen Regierung zusammenzuarbeiten. Meine Familie schaffte es, mich freizukaufen. Doch ich verlor die Hoffnung in Gaza noch etwas verändern zu können, also ging ich.
Wie schafften Sie es nach Deutschland?
Ich bin über den Grenzübergang in Rafah nach Ägypten geflohen und von dort weiter in die Türkei. Dort geriet ich an Schlepper, mit denen ich in einem Boot Griechenland erreichte, wo ich in einem Flüchtlingscamp in Samos meine aktivistische Arbeit fortsetzte. Jedoch war ich dort mit Tausenden anderen aus Gaza zusammen, von denen die wenigsten meine Einstellungen teilten. Ich wurde bedroht, aber die Campleitung unternahm kaum etwas, bis sie mich gehen ließ und mir Reisedokumente ausstellte, mit denen ich nach Deutschland konnte. Es war ein schrecklicher Weg, der zum Glück hier endete.
Nach Ihrer Flucht kam das Massaker der Hamas vom 7. Oktober. Haben Sie mit diesem Ausmaß gerechnet?
Ich hasse die Hamas und mir ist bewusst, dass sie eine Terrororganisation ist, aber das Grauen überstieg selbst meine Vorstellungen. Der Zeitpunkt für das Massaker hat, denke ich, zwei Gründe. Zum einen war die Hamas innerhalb Gazas in die Ecke gedrängt, weil sie an Zustimmung verlor. Zum anderen wollte sie die weitere Annäherung zwischen Israel und der arabischen Welt unterbrechen. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten schloss Israel im Zuge der Abraham Accords bereits einen Friedensvertrag und auch Saudi-Arabien trieb ähnliche Schritte voran.
Derzeit sind nach Schätzungen etwa 1,7 Millionen Palästinenser:innen innerhalb Gazas auf der Flucht. Haben Sie noch Kontakt zu Menschen vor Ort?
Meine Familie konnte vergangenen Monat vor der Offensive in Rafah nach Ägypten fliehen. Ich spreche aber täglich mit Freunden, die noch in Gaza sind. Die Situation dort ist verheerend. Große Teile sind völlig zerstört. Die Freunde leben in Zelten, ohne Schutz, ohne Privatsphäre. Es gibt zu wenig Nahrung. Sie können nur eine Mahlzeit pro Tag zu sich nehmen und müssen dafür stundenlang anstehen.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof ermittelt gegen Israel wegen möglicher Kriegsverbrechen. Müsste Ihr Einsatz für den Frieden nicht auch diese Seite stärker berücksichtigen?
Ich habe die israelische Regierung und das Militär oft kritisiert. Aber jedes Land der Welt zeigt mit dem Finger auf Israel und innerhalb der israelischen Gesellschaft gibt es Organisationen, die die israelische Politik permanent kritisieren. Auf der palästinensischen Seite gibt es das kaum. Meine Kritik zielt darauf ab, das Leben der Palästinenser zu verbessern.
Das israelische Militär reagierte mit einem der zerstörerischsten Militäreinsätze der jüngeren Geschichte. Das Leid in Gaza führte zu einer bisher kaum dagewesenen internationalen Isolation Israels. Hat die Hamas damit ihr Ziel erreicht?
Ja. Schon vor Oktober war das Teil der Strategie der Hamas. Die Zivilisten bezahlen dafür in diesem Krieg mit ihrem Tod. Für die Hamas sind die Palästinenser nicht mehr als ein Werkzeug, um Israel weiter zu isolieren.
Welche Rolle spielen die Geiseln in diesem Krieg?
Für die Hamas sind sie das einzige Druckmittel, das ihre Kontrolle über Gaza sichert. Leider werden sie auch von Teilen der israelischen Regierung dafür genutzt, diesen Krieg zu legitimieren und fortzusetzen. Ich hoffe inständig, dass noch ein Teil der Geiseln am Leben ist.
Ist die Zerstörung der Hamas, erklärtes Ziel der israelischen Regierung, überhaupt realistisch?
Die Hamas ist nicht nur eine Bewegung oder Organisation. Sie ist zu einer Ideologie in Gaza geworden. Eine Ideologie kann man nicht militärisch besiegen. Der einzige Weg wäre eine Deradikalisierung der Bevölkerung in Gaza.
Lässt sich dieser Weg mit der aktuellen Regierung Israels bestreiten?
Die Regierung und die radikalen Minister in Israel glauben nicht an dieses Ziel. Sie denken, die Hamas könnte militärisch besiegt werden. Sie setzen den Krieg fort. Wir sprechen jetzt über mehr als acht Monate – und es sieht nicht so aus, als würden die IDF in der nahen Zukunft Erfolg haben. Für die Deradikalisierung der Menschen in Gaza braucht es Reformen im Bildungswesen und einen Blick, der die Israelis als Menschen sieht. Das müsste eine neue Regierung, zum Beispiel eine reformierte Palästinensische Autonomiebehörde, durchführen.
Wie kann es sein, dass die Hamas weiterhin Zustimmung erhält, wenn sie öffentlich sagt, dass sie möglichst viele ihrer eigenen Leute sterben sehen möchte?
Das ist Teil der Ideologie, die die Hamas in Gaza etabliert hat. Die Ideologie des Märtyrertums. Selbst viele derer, die die Hamas kritisieren, glauben an die Erlösung nach dem Tod, wenn sie als Märtyrer sterben. Der Hass gegen Israel und dessen Vorgehen in Gaza ist größer als die Ablehnung der Hamas.
Worin wurzelt dieser Märtyrer-Gedanke?
Die Ursprünge des Märtyrertums liegen in einer extremistischen Lehre des Islam, die den Krieg gegen den „Teufel“ glorifiziert. Und für einige ist das Israel.
Laut einer Umfrage sank die Zustimmung für den Hamasführer Yahya Sinwar in Gaza. Mehr als drei Viertel lehnen ihn inzwischen ab. In einer anderen Umfrage wünschen sich 46 Prozent der Befragten in Gaza weiterhin die Herrschaft der Hamas, ein leichter Rückgang im Vergleich zu vor drei Monaten. Dennoch hielten über 70 Prozent den Terror vom 7. Oktober für richtig. Die Verlässlichkeit dieser Umfragen in Kriegsgebieten ist jedoch eingeschränkt. Wie schätzen Sie die Zustimmung zur Hamas in Gaza im Zuge des Krieges ein?
Die Unterstützung für die Hamas ist, nach allem, was ich derzeit aus Gaza höre, deutlich niedriger – jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Ein Teil hält das, was am 7. Oktober geschah, für grundfalsch und verurteilt den Terror. Der größere Teil wendet sich allerdings aufgrund des Leids und der Zerstörung in Gaza von der Hamas ab.
Kann man von den Palästinenser:innen verlangen, sich gegen die Hamas aufzulehnen – und damit ihr Leben zu riskieren?
Sie tun das bereits. Während des Krieges gab es nicht nur einmal Proteste gegen die Hamas. Die Hamas schoss auf die Protestierenden. Aber leider gab es dazu kaum Berichterstattung.
Woran liegt das?
Vor allem die arabischen Medien werden von dem Regime in Katar kontrolliert. Sie sind blind für jeden Widerstand gegen die Hamas.
Der Gazastreifen ist in großen Teilen völlig zerstört. Über 35.000 Palästinenser:innen wurden durch das israelische Militär getötet. Fürchten Sie, dies könnte die Hamas nach dem Krieg langfristig stärken?
Selbst, wenn es der IDF nicht gelingt, die Organisation Hamas auszuschalten, glaube ich daran, dass die Palästinenser einen Weg finden werden, dieses Regime zu stürzen. Wenn wir nicht aus den Fehlern der Vergangenheit und den Führern, die wir gewählt haben, lernen, ist das unser Fehler. Dieser Krieg hat uns viel gelehrt.
Ich denke nicht, dass wir erneut in dieselbe Falle tappen werden. Die Menschen in Gaza, mit denen ich in Kontakt stehe, haben verstanden, dass Gewalt gegen Israel nicht die Lösung sein kann. Sie haben die Folgen dessen erlebt. Sie wollen eine Regierung, die Gaza und Palästina von innen heraus wieder aufbaut und nicht „Befreiung“ oder „From the River to the Sea“ verspricht. In der Vergangenheit haben wir es immer wieder geschafft, diesen Konflikt zumindest zeitweise zu vergessen.
Wie könnte dieser Konflikt gelöst werden?
Aus einer palästinensischen Perspektive haben wir die Pflicht, den Prozess der Deradikalisierung zu beginnen. Ohne die Hamas können wir unser Land von innen aufbauen, wir sind dazu fähig. Zu unseren Pflichten gehören aber auch unsere Rechte. Israel muss die Siedlungspolitik im Westjordanland beenden und die Palästinenser brauchen einen unabhängigen Staat. Leider ist Netanjahu kein Mann des Friedens. Er lehnt die Zweistaatenlösung ab. Aber ich glaube, dass es in der israelischen Gesellschaft Kräfte gibt, die den Weg zum Frieden ebnen können.
Zur Person: Hamza Howidy, Jahrgang 1997, ist ein palästinensischer Friedensaktivist. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Gaza. Zweimal wurde er im Zuge der „We want to live“-Proteste, denen er sich 2019 anschloss, von der Hamas gefangen genommen und gefoltert. Inzwischen lebt Howidy im Exil.