Handala Leipzig: Was hinter den Pro-Palästina-Demos steckt
Menschen mit palästinensischen Fahnen demonstrieren seit Monaten in Leipzig, kapern andere Proteste, besetzen die Uni. Es geht um Solidarität – aber auch um ein klares Feindbild. Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
Leipzig. Nach dem Angriff und Massakern der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 führt das Land eine Offensive gegen die Terrorgruppe im palästinensischen Autonomiegebiet Gaza. Der Krieg, die Zerstörung und die Vertreibung Tausender Zivilisten treiben Menschen auf die Straße, auch in Leipzig. Mittlerweile hat sich in der Stadt eine Bewegung gebildet, die sich im Konflikt klar positioniert: Für eine „Befreiung Palästinas“, gegen den Staat Israel. Fast wöchentlich gibt es Demos – nicht selten kommen 1200 Menschen. Doch es bleibt nicht dabei: Aktivisten und Aktivistinnen kapern auch Proteste, die sich eigentlich um ganz andere Themen drehen: Rassismus, Gleichberechtigung, Arbeitnehmer-Rechte. Sie stören Veranstaltungen, vor wenigen Wochen wurde auch das Audimax der Leipziger Universität besetzt.
Wer organisiert die Proteste – und wer beteiligt sich?
Treffpunkt für die Demonstrationen ist meist das Rabet, ein kleiner Park nahe der Eisenbahnstraße. Im Leipziger Osten lebt eine große migrantische Community, die auch die Proteste prägt. Sie ist selbst Palästinenserin, so erzählt es eine junge Frau. Einige ihrer Verwandten lebten in Khan Younis, einer Stadt im Gazastreifen – jetzt seien sie auf der Flucht, in alle Winde verstreut. „Es gibt keinen sicheren Ort.“ Früher war sie nie auf Demos, jetzt läuft sie ganz vorne mit, da wo auf Arabisch gerufen wird: „Meine Heimat, ich werde dich nie vergessen“.
Vorneweg läuft meist ein Mann, der sich in sozialen Medien „Majd“ nennt und bei den Protesten Parolen auf Arabisch ruft.
Seit dem 17. Oktober ruft eine Gruppe zu den Protesten auf, die sich „Handala Leipzig“ nennt. Es gibt sie zwar schon seit 2021, mittlerweile ist „Handala“ aber neben „Students for Palestine“ der zentrale Akteur in der Bewegung geworden – an der Spitze steht Katja J.. Sie meldet die Demonstrationen oft an, tritt regelmäßig als Rednerin auf und störte die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Eröffnung der Buchmesse.
Die Menschen zeigen ihre Solidarität – wo ist das Problem?
Hinsichtlich ihrer Solidarität mit Menschen, die von Krieg und Vertreibung betroffen sind, sind die Proteste nachvollziehbar, keineswegs verwerflich. Allerdings hat sich in den vergangenen Monaten dabei auch eine Haltung entwickelt, die der Berliner Soziologe Peter Ullrich als „radikale Identifizierung mit der palästinensischen Seite“ bezeichnet. Der Nahost-Konflikt gerate holzschnittartig, mit einem klaren Feindbild: Israel. Auch in Redebeiträgen oder auf Plakaten in Leipzig wird die einzige Demokratie in Nahost immer wieder als „kriminelle Besatzungs- oder Kolonialmacht“ bezeichnet.
Das werde aber der Komplexität nicht gerecht, sagt Peter Ullrich: „Natürlich gibt es da entsprechende Elemente: Es wurde ein Gebiet besiedelt, wo bereits andere lebten, inklusive Vertreibungen. Gleichzeitig muss man schauen, wer gekommen ist: Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt haben, vor Antisemitismus geflohen sind.“
Stimmt die Behauptung, dass Palästina von Israel besetzt ist?
Ein Staat Palästina wird von mehr 130 UN-Mitgliedsstaaten anerkannt. Führende westliche Länder wie die USA, Deutschland oder Frankreich gehören nicht dazu. Die Region wird seit Jahrtausenden von verschiedensten Volksgruppen unterschiedlicher Religionen bewohnt, hieß unter römischer Besatzung erst Judäa, danach Syria Palaestina. Die Briten griffen den Namen nach Ende des Osmanischen Reiches auf, versprachen Juden und Arabern gleichermaßen die Gründung eines eigenen Staates. Ungeachtet eines UN-Teilungsplans rief die nach dem Holocaust hier stark angewachsene jüdische Bevölkerung dann 1948 den Staat Israel aus. Der Begriff eines „Volkes der Palästinenser“ als Bezeichnung für die arabische Bevölkerung in der Region kultivierte die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) dann in den 1960er-Jahren. Im Jahr 1988 rief sie dann einen unabhängigen Staat aus. Eine „Befreiung Palästinas“ von Israel und seinen Bewohnern proklamieren „Handala“ und andere linke Kleingruppen bereits seit Jahren. Seit dem Überfall der Hamas im Oktober haben die Aktivitäten aber deutlich zugenommen. Das Logo der Leipziger Gruppe zeigt einem Umriss der Region – ohne den Staat Israel. Wenn „Handala“ von einer „Befreiung“ spricht, dann richtet sich das auch gegen die Existenz Israels. Die LVZ hätte gerne mit Vertretern der Gruppe, auch mit Katja J. darüber gesprochen. Doch mehrere, auch persönliche, Anfragen blieben unbeantwortet. Auf einer Demonstration versuchte ein Ordner, unsere Gesprächsversuche mit Protest-Teilnehmern aktiv zu verhindern.
Welche Rolle spielt Antisemitismus bei „Handala“?
In der Kommunikation, bei Social Media oder Reden lassen sich Anknüpfungspunkte finden: „Israel wird zuweilen eine Grund-Bösartigkeit zugesprochen. Aus dieser radikalen Haltung heraus, ist man eher dazu geneigt, antisemitische Positionen und Akteure zu verharmlosen und zu dulden oder gar zu propagieren“, sagt der Soziologe Peter Ullrich. Das zeigt sich auch im Umgang mit Terroristen: Mitte März veröffentlichte „Handala“ auf Instagram das Video eines mit Maschinengewehr bewaffneten Hamas-Kämpfers, der als Freiheitskämpfer dargestellt wird.
Posting der Gruppe „Handala Leipzig“ auf dem eigenen Kanal auf Instagram.
Über den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober auf Tausende Menschen in Israel sagte Katja J. in einer Rede: Der „bewaffnete Widerstand“ habe sich „mit selbst gebauten Waffen und Fallschirmen“ auf den Weg gemacht, die Grenze durchbrochen zwischen „Palästina und Palästina“. Die Geschichten über Vergewaltigungen und Verstümmelungen? – „alles Lügen und Lügen“, so J..
Nach dem Marsch aus dem Leipziger Osten gibt es eine Zwischenkundgebung, bei der die Hamas als „bewaffneter Widerstand“ verharmlost wird .
In ihrer Erzählung wird das Massaker zu Notwehr umgedeutet, werden israelische Opfer verunglimpft. Die vielen Opfer des „Supernova“-Festivals bezeichnete sie als „tanzende Soldaten“ Israels. Polizei und Staatsanwaltschaft prüfen derzeit, ob der Verdacht einer Straftat besteht. Unabhängig davon: Eine solche Stimmung begünstigt Anfeindungen gegen in Deutschland lebende Juden. Die Zahl antisemitischer Straftaten ist zuletzt massiv angestiegen – auch jene mit „religiösem“ oder „ausländischem Hintergrund“.
Was bedeuten die Handala-Rufe „From the River to the Sea“ und „Yalla, Intifada“?
Der von Antisemiten synonym für die Auslöschung Israel gebraucht Satz „Vom Fluss bis zum Meer – Palästina wird frei sein“ ist verfassungsfeindlich und wird der mittlerweile verbotenen Terror-Gruppe Hamas zugeordnet. Gemeint sind der Fluss Jordan und das Mittelmeer, die Israel begrenzen. Bei Demonstrationen war der Ruf trotzdem mehrfach zu hören – für 2024 ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft in neun Fällen. Der ebenfalls von „Handala“ genutzte Ruf „Yalla Intifada“ ist eine Referenz an den jahrzehntelangen „Intifada“-Terror palästinensischer Gruppen in Nahost und wird mitunter in Deutschland strafrechtlich als Aufruf zu Gewalt verstanden.
Postings der Gruppe „Handala Leipzig“ auf dem eigenen Kanal auf Instagram.
Welche Verbindungen gibt es in die linke Szene von Leipzig?
Die Proteste von „Handala“ sind auch geprägt von sogenannten „roten Gruppen“, die den Kommunismus als Gesellschaftsform fordern, sich zudem auch selbst im Befreiungskampf gegen angebliche Kolonial- und Imperialmächte wähnen. Neben linksextremen Gruppen wie „Zora“, dem „Solidaritätsnetzwerk“, dem „Kommunistischen Aufbau“, dem „Studikollektiv Leipzig“ und „Young Struggle“ taucht auch der „Sozialistische Studentenbund“ (SDS) immer wieder mit Redebeiträgen bei „Handala“-Demos auf.
Nicht nur Palästina-Flaggen sind auf der Demonstration am 15. Mai zu sehen
Diese „roten Gruppen“ waren in den vergangenen Jahren in der linken Szene eher nur Randerscheinungen, wurden als zu autoritär und rückwärtsgewandt empfunden. Die propalästinensischen Proteste geben ihr Aufschwung. In Leipzig gibt es mittlerweile mehrere Treffpunkte: „Die Bäckerei“ in Plagwitz oder das „Soziale Zentrum Clara Zetkin“ in Lindenau.
Vor allem aus diesen linken Kleingruppen heraus gibt es immer wieder Versuche, andere Proteste zu kapern, um so maximale Aufmerksamkeit zu bekommen: Am 1. Mai schlossen sich Demonstranten dem Aufzug des Deutschen Gewerkschaftsbundes an. Sie schwenkten auch Palästina-Flaggen. Die Leipziger DGB-Chefin Manuela Grimm versuchte, eine herunterzureißen.
Kurz vor der Kommunalwahl will das Leipziger Demokratie-Bündnis „Hand in Hand“ auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz demonstrieren. Was, wenn es auch dort zu Provokationen kommt? „Sie werden hoffentlich untergehen in der Masse“, sagt eine der Organisatorinnen.