„Kein sicherer Ort mehr“: Warum jüdische Studentinnen Leipziger Uni-Campus meiden

LVZ

Sie verstecken ihren Davidstern, gehen nicht mehr in den Hörsaal und erfinden an religiösen Feiertagen Ausreden, um nicht aufzufallen: Zwei jüdische Studentinnen aus Leipzig berichten, wie das vergangene Semester ihr Leben änderte.

An US-Universitäten haben sich antisemitische Vorfälle seit dem 7. Oktober versechsfacht. In Berlin besetzten anti-israelische Aktivisten einen Hörsaal. Nicht jeder, der studiert, sympathisiert mit Palästina – aber das Lager derer, die im Staat Israel vor allem einen Täter sehen und deshalb auch Juden anfeinden, gibt auf dem Uni-Campus den Ton an.

Und in Leipzig? Vor einer Woche schuf die Universität eine neue Stelle für einen Antisemitismus-Beauftragten. Grund sei eine „Zunahme von antisemitischen Übergriffen“, erklärte der Senat. Durch „Graffiti an Wänden von Hochschulen“ und „Kundgebungen auf dem Campus“ fühlten sich jüdische Studierende nicht mehr sicher. Viele würden sich gar nicht mehr „als jüdisch zu erkennen geben“.

Unter Leipzigs jüdischen Studierenden findet sich kaum jemand, der offen über Anfeindungen sprechen – und sich gleichzeitig öffentlich als Jüdin oder Jude zu erkennen geben würde. Zwei Studentinnen haben zugestimmt, der LVZ anonym von ihren Erfahrungen zu berichten. Der Redaktion sind ihre echten Namen bekannt.

Vorfall im Hörsaal der Universität Leipzig: „Er fragte mich, ob Hitler nicht gute Gründe hatte“

Anja Spira und Bettina Löw sollen die Studentinnen in diesem Text heißen. Sie sind beide Anfang zwanzig, studieren in Leipzig Kultur- und Naturwissenschaften und haben Eltern, die als Juden bereits in der Sowjetunion marginalisiert wurden. Für ihre Eltern, sagen beide zu Beginn, sei die aktuelle Lage „retraumatisierend“.

„Meine Mutter ließ in ihrem Geburtszertifikat ‚jüdisch‘ auf ‚russisch’ ändern, damit sie studieren durfte“, sagt Spira. „Meine Familie wanderte für ein besseres Leben nach Berlin aus“, sagt Löw. Trotzdem, oder gerade deswegen, entschieden sich beide Studentinnen für ein offen jüdisches Leben – jedenfalls bis jetzt. Sie gehen regelmäßig in die Synagoge. Löw lebt als orthodoxe Jüdin.

Von ihrem Jüdischsein zu erzählen, sagt Spira, habe sie schon lange vor dem Krieg im Nahen Osten in seltsame bis bedrohliche Lagen gebracht. Sie berichtet von einer Vorlesung, in der ihr Sitznachbar erklärte: Er habe in der Schule – nicht in Deutschland – gelernt, Juden wollten andere Völker auslöschen. Das sei auch Inhalt seiner religiösen Überlieferungen. „Er fragte mich, ob Hitler nicht gute Gründe hatte.“ Gleichzeitig, habe der Student gesagt, sei er noch nie bewusst einer jüdischen Person begegnet. „Er war perplex“, sagt Spira.

Aber auch von deutschen Kommilitonen sei sie angefeindet worden. „Man hört oft, auch im akademischen Milieu, dass das mit dem Holocaust doch nicht so schlimm gewesen sei. Und vor allem: Dass doch irgendwann einmal gut ist.“

Spira hörte auf, ihren Davidstern zu tragen

Löw besuchte eine jüdische Schule in Berlin, auf der alle paar Monate neben dem Feueralarm auch ein Terroralarm geprobt wurde. Nun lebt sie im Leipziger Osten. „Hier ziehen sehr viele pro-palästinensische Demos vorbei, auf denen extreme Meinungen geäußert werden“, sagt sie. Auf dem Nachhauseweg frage sie sich: „Was denkt wohl diese oder jene Person über Jüdinnen wie mich?“ Sie sei, sagt Löw, „zum ersten Mal in meinem Leben sehr vorsichtig“.

Das Vorsichtsgefühl reicht bis auf den Campus der Leipziger Universität – für Anja Spira „eigentlich immer ein sicherer Ort: links, antirassistisch, Antisemitismus-kritisch.“ In Seminaren oder Pausengesprächen erzählte Spira gern von ihrer Identität. Oder erklärte, weshalb sie einen Davidstern trage.

Bis zum 7. Oktober, dem Angriff der Hamas auf Israel. „Plötzlich wollten Leute, die ich nur vom Sehen kannte, von mir wissen, wie ich dazu stehe. Nicht aus Mitgefühl, sondern misstrauisch.“ Seitdem habe sie auch aufgehört, den Davidstern zu tragen.

Beide Studentinnen haben eine Meinung zum Nahostkonflikt: „Ich fühle absolut mit den leidenden Menschen in Gaza“, sagt Löw. Und: „Nur weil ich jüdisch bin, macht mich das nicht zu einem Netanjahu-Fan.“ Spira berichtet von pro-israelischen Demonstrationen, auf denen die israelische Militäroperation offen verurteilt werde. „Völlig selbstverständlich“, nennt sie das.

„Gefühl, dass der Campus kein sicherer Ort mehr ist“

Auf der anderen Seite vermisse sie solche Differenzierung. „Man hatte nach dem Angriff kaum Zeit zu trauern. Sofort ging es darum, die Terroristen verstehen zu wollen, den Angriff und das Morden als eine logische Reaktion kleinzureden.“

Auf dem Leipziger Uni-Campus gewannen mit dem Krieg im Nahen Osten pro-palästinensische Aktivisten die Oberhand. Der Stura billigte einer Gruppe, die mit einer Zeichnung den Angriff der Hamas verherrlichte, Arbeitsräume zu. Vom Seminargebäude wurde ein „Free Palestine“-Transparent gehisst, begleitet von „From the river to the sea“-Rufen.

Spira begann, den Campus zu meiden. „Ich sehe mir die Vorlesung nur noch online an“, sagt sie. Aber auch beim Lernen in der Albertina wird sie an das Thema erinnert. „Man findet viele Free-Palestine-Sticker oder Abbildungen von Karten, auf denen kein Israel mehr existiert“, sagt sie. „Bei mir erzeugt das einfach ein Gefühl, dass der Campus kein sicherer Ort mehr ist.“

„Das Vertrauen ist einfach weg“

Auf der Frauen-Toilette der Bibliothek Albertina entdeckte sie als großen Schriftzug die Forderung: „Free Palestine from German guilt!“ Man müsse also „Palästina von deutscher Schuld befreien“. Spira sagt: „Wenn das bedeuten soll, dass man in Deutschland vor lauter Schuldgefühl blind gegen Palästina ist, dann ist mein Eindruck eher ein anderer.“

Und Löw, die orthodoxe Studentin, begann vor Kommilitonen zu verheimlichen, warum sie am jüdischen Ruhetag, dem Schabbat, bereits verplant sei. „Wenn mich jemand fragt, ob wir freitags was unternehmen, dann sage ich nur, dass ich mit der Familie unterwegs bin – jedenfalls, wenn es keine engen Freunde sind.“

Die junge Jüdin sagt, das Versteckspiel falle ihr schwer. „Wenn mich jemand auf offener Straße fragen würde, ob ich jüdisch bin: Ich wüsste nicht, was ich antworten soll.“ Vor noch einem Jahr hätte sie nicht gedacht, ihre Identität einmal verstecken zu müssen. „Aber jetzt ist das Vertrauen einfach weg.“

Uni Leipzig wählt 2024 Antisemitismus-Beauftragten

Das Leben, sagt Spira, sei ein Spießrutenlauf. „Man ist als Jüdin nur genehm, wenn man das Richtige sagt.“ Und das bedeute: Gegen Israel zu sein. „Sonst macht man sich fast zur Mittäterin.“ Aber Spira ist in Deutschland geboren, war in ihrem Leben eine Woche lang in Israel, hat dort keine Verwandtschaft.

Wo führt das hin? Im Januar 2024 will die Universität Leipzig in einer Sitzung ihren Antisemitismus-Beauftragten wählen. Kann er die bereits tiefen Gräben beseitigen?

Kürzlich, sagt Spira, habe sie ein Interview mit einem Holocaust-Überlebenden geführt. Dieser habe ihr erzählt: Besonders schwer sei ihm gefallen, nach dem Krieg sein Deutsch-Sein mit seiner jüdischen Identität zu vereinen. Weil es nicht zusammen zu gehen schien – obwohl ja beides wahr ist. Spira sagt: „So fühle ich mich auch.“