„Der hätte mich umbringen können”: Leipzigerin berichtet von ihrem Weg aus einer brutalen Beziehung – LVZ
Nele und ihre Kinder waren jahrelang Übergriffen ihres Partners ausgesetzt. Bei Fällen häuslicher Gewalt gab es in Sachsen 2022 einen zehnprozentigen Anstieg. In Leipzig sind es sogar 20 Prozent mehr als 2021. Nele erzählt, wie sich endlich ein Weg aus der Beziehung für sie öffnete.
Es gibt eine Szene, die in Neles* Erinnerungen immer wieder wie in Zeitlupe abläuft. Sie steht im Bad. Schminkt sich. Aus der Bluetooth-Box dröhnt Elektrobeat – Einstimmung für die Party, auf die sie gleich gehen wird. Sie hört nicht, wie die Badtür aufgerissen wird, sieht nur aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung. Wortlos packt Sven* sie an den Haaren, zieht sie in den Flur. Dann fliegen Worte und Gegenstände. Der Schlüssel, das Notizbuch. Und dann gibt es einen „Freeze-Moment”, wie Nele es bezeichnet. Einen Moment, wo alles stillsteht. Sie sieht im Flurspiegel die kaputte Frisur, die zerrissene Bluse. Und dann passiert alles ganz schnell: Sven greift nach der Rotweinflasche, die sie zur Feier mitnehmen wollte, und wirft sie direkt in Richtung von Neles Kopf. Dann ist es schwarz.
Immer Millisekunden im Vorsprung
„Da”, sagt Nele und zeigt auf einen Fleck an der Wand im Flur. Er ist inzwischen blassbräunlich, kaum noch zu sehen. Hat sich mit den Erinnerungen in der Wand diffundiert. Aus der gemeinsamen Wohnung ist sie nicht ausgezogen. „Lange Geschichte”, beantwortet Nele eine Frage, die nicht gestellt wurde. Die Wohnung ist belebt, aber nicht unordentlich. Die Frau, die hier mit ihren Kindern** wohnt, ist in ihrer Unauffälligkeit flagrant.
Sie agiert, bevor das Gegenüber überhaupt reagieren kann. Immer eine Millisekunde im Vorsprung. In ihren Bewegungen flink, aber lautlos. Nele ist rastlos. Es scheint, als sei jemand hier. Und durch jedes Wort, was Nele nicht sagt und jede Bewegung, die sie zu schnell macht, wird sichtbar, was es ist. Es ist Angst. Fast eine Stunde des Räumens und Ordnens vergeht, bis die Situation so entspannt ist, dass es zum Gespräch kommt. Es benötigt viel äußerliche Struktur, bis die innere Stabilität erreicht wird.
Fast neun Prozent mehr Fälle häuslicher Gewalt im Jahr 2022
Nele ist eine der Frauen, die viele Jahre in keiner Statistik zur häuslichen Gewalt vorkamen. Weil keiner bemerkt hat, was ihr fast eine Dekade an Beleidigungen, Schlägen und Tritten zugefügt wurde. Sie gehört nicht zu den 157.550 Opfern häuslicher Gewalt. 157.550 – das sind 9,4 Prozent mehr als im Vorjahr 2021. Nele gehört in irgendeine Statistik, die vor vielen Jahren erstellt wurde.
„Lange her“, sagt sie. Während sie erzählt, wie alles anfing – große Liebe – und wie sich alles entwickelt hat – große Eifersucht – und wie der Alltag aussah – große Wut – reißt sie kleine Fetzen von einer Serviette. Am Ende des Nachmittages hat Nele aus zwei Servietten eine Untertasse voll mit kleinen Kügelchen geformt. Sie spricht leise darüber, wie sie und die Kinder sich jahrelang geräuschlos durch die Wohnung bewegen mussten. Sie kennt jede Diele, die knarrt, übertritt diese noch heute.
„Das bekommst du nicht mehr raus. Nie wieder.“ Sven, Schichtdienst in einer sozialen Einrichtung, oft nachts, brauchte tagsüber Ruhe. Wenn es zu laut war, rastete er aus. „Vergessen geht nicht. So was geht nicht”, sagt Nele. Sie könne nur versuchen, diese „krassen Erinnerungen” aus dem Alltag auszuschließen.
Ausbruch aus gewalttätigen Beziehungen: sechs bis sieben Versuche
Das Gegenteil dessen macht Bianka Winkler. Sie schließt nicht aus. Sie öffnet. Menschen, Anträge, Formulare, E-Mails. Oder – wie jetzt zum Beispiel – die Tür des Frauen- und Kinderschutzhauses Merseburg, dessen Leiterin sie ist. Zu viel darf über das Haus, was sich, seine Bewohnerinnen und deren dunklen Geschichten schützen muss, nicht geschrieben werden. Doch das Haus strahlt etwas Beruhigendes aus. Das einzige Geräusch ist Stille und das, obwohl das Haus fast komplett belegt ist.
„Aus solchen gewalttätigen Beziehungen auszubrechen, ist ein langjähriger Weg, viele Frauen schaffen es aber auch nie”, erklärt Winkler, während sie in der Küche des Schutzhauses Kaffee einschenkt. „Im Schnitt brauchen Frauen etwa sechs oder sieben Versuche, um sich endgültig zu lösen.” Diese Versuche sind nicht nur kräftezehrend, sondern es werden auch unzählige Personen und Institutionen mit involviert. Freunde, Familie, Nachbarn. Schule, Kita, Arbeitgeber. Polizei, Jugendamt, soziale Einrichtungen, Psychologen, Frauenhäuser. Letztere sind so überlastet, dass beispielsweise ein Besuch in einem Leipziger Frauenhaus personell und zeitlich nicht realisierbar war. Verkraftbar, weil es um ein Interview geht. Für Frauen und Kinder in Notlagen gravierend.
Situation in Leipzig besonders angespannt
Rund um dieses Thema gibt es so viele Zahlen, hinter denen die Schicksale, Traumata und Verletzungen förmlich verschwinden. 151 Frauen und 161 Kinder musste die Leipziger Sofortaufnahme zwischen Januar und Oktober 2023 ablehnen. Ein zehnprozentiger Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt wurde im Freistaat Sachsen im Jahr 2022 verzeichnet. Besonders Leipzig sticht in der Statistik hervor: Hier gibt es 20 Prozent mehr Fälle im Vergleich zum Vorjahr 2021.
Noch drastischer sind die Zahlen des gemeinnützigen Recherchekollektivs Correctiv Lokal, aus dessen Studie hervorgeht, dass 2022 an durchschnittlich 303 Tagen keine Aufnahme in den bundesweit 400 Frauenhäusern möglich war. Deutschlandweit fehlen etwa 14 000 Plätze in solchen Einrichtungen.
Es fehlt auch an einer bundeseinheitlichen Regelung, ob und wie viel Frauen pro Aufenthalt bezahlen müssen. Der Satz liegt zwischen 20 und 100 Euro pro Tag. Das regelt jedes Bundesland anders. In Sachsen werden die Aufenthalte in einem der 14 Frauenhäuser beispielsweise mischfinanziert: ein Teil Kommune, ein Teil Selbstfinanzierung.
Statistik zeichnet kein klares Bild von der Lage in Frauenhäusern
Frauenhausleiterin Winkler kennt die Zahlen. Sie weiß, dass jede Zahl eine Person sein kann. Oder eine Rechtfertigung für die Politik. „Ist ein Haus zu bestimmten Zeiten laut Statistik mal nicht 100 Prozent ausgelastet, ist das eine Bestätigung für die Politik, dass Geld und Personal reichen“, so Winkler. Die Realität ist aber: „Wir haben personelle und finanzielle Engpässe. Wir können uns weder um die traumatisierten Frauen noch um die Kinder, die mitkommen, richtig kümmern”, so Winkler.
Ein großes Problem. Aber – laut dem Frauenhauskoordinierungs e.V. – auch nicht neu. Seit 20 Jahren sei bekannt, dass die Zahlen steigen und immer mehr Plätze fehlen. Seit 2018 kommt verpflichtend mit der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, hinzu, dass Deutschland in puncto Betreuung, Beratung und Unterbringungsmöglichkeiten mehr und schneller investieren muss. Doch das geht zu langsam.
Neles Weg raus: Morddrohung und Kontaktverbot
Nele, viele Jahre eine Dunkelziffer, wird nach dem Vorfall mit der Weinflasche plötzlich zu einem Teil in der Statistik. Als sie aus ihrem Blackout erwacht, ist um sie herum alles rot. Sie sitzt in einer großen Lache Rotwein. Kein Blut. Im Flur: Nachbarn, Polizei. Ab diesem Tag gehört sie zu den Frauen, deren Fall polizeilich erfasst wurde. Diese Zahlen steigen seit Jahren kontinuierlich an, in den vergangenen fünf Jahren um 13 Prozent. Doch obwohl Behörden nun aufmerksam sind, dauert es für Nele und ihre Kinder weitere drei Jahre, bis ein Gericht ihr das alleinige Sorgerecht zuspricht. Bis dahin sind sie immer wieder den Übergriffen von Sven ausgesetzt.
Erst viele Polizeieinsätze später, einem Annäherungsverbot und einem „Ich bringe dich um” gibt es endlich genügend Punkte, damit Nele und die Kinder in Ruhe gelassen werden. Ein langer Weg. Viel zu lang. „Der hätte mich umbringen können”, sagt Nele. Warum sie sich nicht eher herausgelöst hat? Sie zuckt die Schultern. Sie hat das alles so oft erzählt. Dem Jugendamt. Der Polizei. Den Psychologen. Vielleicht im falschen Milieu verliebt? „Nee, Sven hat auch Sozialarbeit studiert.” Gewalt kennt keine Schichten.
Nele ist raus aus der Statistik. Aber nicht aus dem Erlebten. In ihren Träumen sieht sie immer wieder, wie er zu der Weinflasche greift. Es ist viele Jahre her. Sven wohnt nicht mehr in Leipzig. Viele Szenen hat Nele vergessen. Vielleicht auch verdrängt. Aber was nie weggehen wird, ist die Angst. Die bleibt.
*Namen, Aussehen, Berufe der beteiligten Personen wurden zum Schutz der Protagonistin geändert, sind aber der Redaktion bekannt