Zum Stand der antisemitischen Dinge nach dem 7. Oktober

Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober erleben wir eine neue Welle des globalen Antisemitismus, die zwar ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat, historisch betrachtet aber nicht überraschen kann. Sie ereignet sich im Gefolge des Angriffs der Hamas auf Israel und der unkritischen Parteinahme großer Teile der Welt für Palästina gegen Israel und nicht etwa davon abgetrennt und parallel dazu. Dabei hat die Unverhohlenheit und Selbstverständlichkeit, mit der selbst die grauenvollsten Taten als Akte des Widerstands und der Dekolonisierung gefeiert werden, eine neue Dimension postmoderner moralischer Verwahrlosung offenbart.

Der im Code, in der Chiffre kondensierte und damit leicht transportierbare Judenhass, wie ihn Shulamit Volkov beschrieb, ist in der auf jeder Demonstration zu hörenden Parole „From the river to the sea“ exemplarisch geworden. In ihr kommt zum Ausdruck, was selbsternannte Israelkritiker wie fanatisierte Islamisten gleichermaßen eint: der schlecht verschleierte Wunsch, die Israelis ins Meer zu treiben.

Die Codierung kennzeichnet den Antisemitismus in seiner seit dem 19. Jahrhundert häufigsten Erscheinungsform: „It was not Jew-baiting made respectable, but hatred of Jews made symbolical,“ wie Volkov sagt. Dass der Umschlag ins Judenschlagen jederzeit stattfinden kann und jüdische Menschen sich in Deutschland ebenso wie in vielen anderen Ländern nicht mehr sicher fühlen können, ist den Nachrichtensendungen und der Presse zu entnehmen.

Diese Radikalisierung des (linken) Antisemitismus ist erklärungsbedürftig, kann aber auch „nicht mehr einem bloßen Fortwirken des obsolet gewordenen alten ‚Antiimperialismus‘ geschuldet sein“, wie Robert Kurz schon beim letzten größeren Gaza-Krieg 2014 festgestellt hat. Es folgt eine kleine Bestandsaufnahme, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.


Anklage, die Beweise fordert

Dass es den Antisemiten nicht darum geht, was irgendein konkreter Jude getan hat, sondern vielmehr – wie Sartre es genannt hat – um die Idee des Juden, also den bloßen Vorstellungen, die sich der Antisemit vom Juden macht, zeigt sich derzeit massenhaft online in den Entrüstungsstürmen der Stories und Kommentarspalten sowie auf den Straßen der Großstädte des Planeten, etwa nach dem sensationsmäßig aufgebauschten und Israel zugeschriebenen Einschlag einer Rakete an einem Krankenhaus in Gaza. Die IDF musste daraufhin der wutenbrannten Welt beweisen, dass sie nicht für die Explosion verantwortlich war.

Dieser und ähnliche Vorfälle laufen nach einem bewährten Muster ab. So wurde ganz selbstverständlich nach dem 7. Oktober nach Beweisen für die Greueltaten der Hamas gerufen. Israel muss beweisen, dass wirklich Frauen vergewaltigt wurden. Dass wirklich Babies getötet wurden. Dass es nicht das Krankenhaus bombardiert hat. Dass ziviles Leben bei Angriffen verschont wird. Die Beweislast wird umgedreht, im Zweifel gegen den Angeklagten und der Angeklagte vor dem virtuellen Strafgerichtshof heißt von vorne herein Israel – ganz gleich, welche Horrortaten Auslöser für die neuerlichen Militäroperationen Israels sind.

Die Anklage ist das Gerücht über die Juden. Sie ist nicht angewiesen auf Beweise, sondern verlangt sie von Israel. Es ist dabei fast egal, wie Israel reagiert. Am Ende hat die Hamas, die auch Opfer auf der eigenen Seite nicht nur in Kauf nimmt, sondern gewinnbringend zu nutzen weiß, gewonnen, oder zumindest einen Sieg über Israel davon getragen. Das ist die verfahrene Situation, in der Israel sich mittlerweile schon seit einigen Jahren befindet, die Amos Oz einmal als „lose-lose-situation“ bezeichnet hat: Je mehr israelische Opfer, desto besser für Hamas. Je mehr palästinensische Opfer, desto besser für Hamas.

Ein anderes derzeit häufig zu beobachtendes Muster ist die Forderung der Kontextualisierung. Dabei wird, wie bei Slavoj Zizek übergegangen zu „Ja, aber der Kontext!“. Die Hamas hat Babies ermordet, aber der Kontext. Die Hamas hat Leichen verbrannt, aber der Kontext. Die Hamas hat Menschen geschändet und verstümmelt, aber der Kontext. Wobei dieser Kontext selbstredend ohnehin nicht den gesamten Kontext meint, sondern den partikularen Kontext, der 75 Jahre zurückreicht und die „Nakba“ meint.

Der Ruf nach Frieden

Die derzeit überall zu vernehmenden Forderungen eines Waffenstillstands entbehren nicht einer gewissen Ironie, schließlich hat der Überfall der Hamas genau in der Phase eines Waffenstillstands stattgefunden. Vielleicht ist genau das auch der Grund, warum der Ruf nach Frieden nur einseitig in Richtung Israel ausgesprochen wird. Dass die Hamas in dieser Hinsicht kein verlässlicher Verhandlungspartner ist, schwingt dabei unausgesprochen mit. Das ist auch nur schwerlich von einer Organisation zu erwarten, deren erklärtes Ziel die Auslöschung Israels ist. Mittlerweile betonen die Hamas-Führer selbst, dass sie – eben genau deswegen – kein Interesse an einem Waffenstillstand haben. Ob das die unerschrockenen Kommentatoren in ihrer Forderung nach Waffenstillstand überhaupt interessieren wird, ist zu bezweifeln.

Mit dem Ruf nach Frieden klammern sich Linke und andere Palästinasolidarische fanatisch wieder einmal und weiterhin an jene jüdischen Stimmen, die auch jetzt noch Israel oder seiner Regierung die Schuld an der Eskalation geben, aber in Wirklichkeit den Staat nur seiner Existenz bezichtigen. Sehen wir einmal von der Frage ab, wie jüdisch (https://www.commentary.org/articles/joshua-muravchik/not-so-jewish-not-for-peace/) etwa die Organisation Jewish Voice for Peace überhaupt wirklich ist – es ist schon länger klar ersichtlich, dass die Organisation weniger für Frieden ist als dafür, dass Israel kampflos das Feld räumt und dabei für eine jüdische Organisation erstaunlich viele antisemitische (https://www.adl.org/resources/blog/jewish-voice-peace-jvp-what-you-need-know) Stereotype bedient.

Doch auch darüber hinaus gibt es offenbar noch genügend vermeintliche oder tatsächliche jüdische Stimmen, die sich als tokenisierte Jüdinnen und Juden von den Antizionist*innen aller Couleur willig gebrauchen lassen. Linke haben dabei weder Berührungsängste mit Islamisten, noch zögern sie in den USA vorm Schulterschluss mit der ultraorthodox-antizionistischen Sekte Neturei Karta. Israelhass verbindet.

Dass die israelische Linke und gerade die pazifistische schon beim letzten größeren Gaza-Krieg 2014 relativ isoliert war und im Diskurs der Rechten das Feld überlassen hat, hat ebenfalls Robert Kurz bereits damals bemerkt. Wie sehr sich Geschichte wiederholt, kann man aus seinem Artikel „Die Kindermörder von Gaza“ (https://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=schwerpunkte&index=13&posnr=209&backtext1=text1.php) aus jenem Jahr schließen: „Hatte die alte, ‚antiimperialistisch’ formulierte Absicht des palästinensischen Nationalismus und der arabischen Staatenwelt, die Juden ‚ins Meer zu treiben’, in Israel schon eine harte militärische Positionierung über alle politischen und ideologischen Lager hinweg formiert, so ist kaum verwunderlich, dass sich jetzt Ähnliches wiederholt.“

Dieser einheitsstiftende Moment ist, wenn man denn etwas positives in der aktuellen Lage finden möchte, ein Hoffnungsschimmer. Sind Pazifisten für Linksradikale aller Länder schon immer nur dann gut gewesen, wenn sie jüdisch sind, dann werden sie in Israel nach dem 7. Oktober vermutlich keine mehr finden, auf die sie sich berufen können, um ihre „Israelkritik“ mit solch nützlichen Fürsprechern aufzuwerten. Und im Gegenzug haben vermutlich auch die meisten der wenigen übrigen kritischen Stimmen aus Israel nach jenem Datum mitbekommen, was sie von der globalen Linken noch zu erwarten haben: nichts. Der verzweifelte und traurige offene Brief (https://www.sueddeutsche.de/kultur/eva-illouz-linke-hamas-1.6295055) der israelischen Soziologin Eva Illouz spricht in dieser Hinsicht Bände.

Das bedeutet nicht, dass es in Israel keine Stimmen gäbe, die eine Waffenruhe forderten und zwischenzeitlich immer mehr zu hören waren. Diese soll jedoch der Befreiung der Geiseln durch Verhandlung dienen und ist freilich nicht als prinzipielle Absage an die militärische Verteidigung zu missverstehen.
Ein zweiter Hoffnungsschimmer ist, dass die politische Stimmung in Israel nun letztlich zuungunsten Benjamin Netanyahus zu kippen scheint. Nicht nur muss Netanyahu die Verantwortung für das geheimdienstliche Versagen und den mangelhaften Schutz der Grenze tragen. Es war auch seine Strategie, die Hamas als Gegengewicht zur Fatah gewähren (https://www.jpost.com/arab-israeli-conflict/netanyahu-money-to-hamas-part-of-strategy-to-keep-palestinians-divided-583082) zu lassen, um die palästinensischen Bemühungen zur Staatsgründung weiter zu spalten.

Radikalisierung des Hasses

Robert Kurz hat in seinem generell wieder-lesenswerten Text von 2014 einige wichtige Beobachtungen gemacht, die wir heute fast unverändert wieder machen können, so zum Beispiel zur „Maßlosigkeit, mit der Israel anlässlich des Grenzkriegs gegen die Hamas geradezu zum Feind der Menschheit erklärt wird“ oder den zwanghaft sich wiederholenden Erklärungen britischer Professor*innen, die sich im Guardian gegen „Apartheid“, „Genozid“ usw. aussprechen.

Es ist frappierend, mit welcher Geschwindigkeit sich unter den linken Gegnern der israelischen Militärintervention diese Hardliner-Fraktion quer zu allen bisherigen Strömungen und Lagern konstituiert hat und innerhalb weniger Wochen alle Hemmungen gegenüber bislang noch eher als inakzeptabel empfundenen Vergleichen oder Gleichsetzungen Israels mit den Akteuren von Völkermorden, mit sämtlichen großimperialen Kriegsherren, ja sogar mit dem NS-Staat fallen gelassen wurden. In solcher Intensität kannte man das zuvor nur von Rechtsradikalen und Holocaust-Leugnern.“

Doch dabei ist es nicht geblieben, man radikalisiert sich. Neu hinzugekommen ist die Rede vom Genozid. Neu hinzugekommen ist außerdem das Auftauchen von Davidssternen an Häusern, in denen jüdische Menschen leben. Soll man zum allgegenwärtigen Vorwurf des Genozids überhaupt noch irgendwelche Worte verlieren? Obwohl es offensichtlich ist, dass es für Israel mit seinem Waffenarsenal ein Leichtes wäre, einen Genozid zu verüben, der seinem Begriff entspricht? Dass jener Begriff scheinbar sogar in der Wissenschaft zur bloßen Worthülse verkommen ist, mit dem sich Israel delegitimieren lässt? Ein verwässerter, inhaltsentleerter Genozid-Begriff, der nicht mehr den Völkermord beinhaltet, sondern Kriegshandlungen, ist analytisch wertlos. Dass der Begriff auch in den Anklagen gegen Israel nicht mit Inhalt gefüllt wird, weil er nicht gefüllt werden kann, ist die logische Konsequenz. Krieg ist kein Genozid.

Wenn Israel einen Genozid verüben würde, wozu dann all die Feuerpausen und humanitären Korridore? Während mit der Hamas eine Partei in diesem Krieg agiert, die sich den Vernichtungswunsch in ihr Gründungsdokument geschrieben hat, wird in den israelischen Reaktionen, die diesmal umfassender sind als alle bisherigen und auf die Zerstörung der Hamas zielen, jener Vernichtungswunsch hinein imaginiert. Das verweist ein weiteres Mal darauf, dass die Anklage der vermeintlichen Palästinafreunde weniger auf die Realität, deren Begriff vermutlich ohnehin abgestritten wird, als auf die eigene innere Konstitution und ihre Sehnsüchte Bezug nimmt, die sie nach außen projizieren – eine Konstitution, in welcher ein gespaltenes Ich mit dem Neid auf Glück und Bildung aufeinander trifft sowie der Hass auf Vermittlung auf eine diffuse und abstrakte Welt.

Die dekoloniale Lüge

Der Antisemitismus hat die Juden schon immer als mächtig imaginiert. In der Postmoderne werden sie nun auch als weiß betrachtet. Es darf deshalb nicht verwundern, dass die Idee der Intersektionalität, die für viele Linke den theoretischen state of the art darstellt, Jüd*innen ausklammert. Den Antisemitismus kann schlicht nicht begreifen, wer ihn dieser Theorie folgend als bloße Form der Diskriminierung missversteht. In den linken, palästinasolidarischen, antizionistischen Ergüssen wird deshalb ungeniert die Lüge fortgeschrieben, Juden seien per se weiß, genau wie die Lüge, sie seien europäische Kolonisatoren. Dass in den letzten Jahrzehnten die jüdischen Communities fast aller arabischer Staaten vertrieben wurden oder zur Flucht nach Israel gezwungen worden sind, wird dabei genauso ignoriert wie die Existenz jüdischer people of color insgesamt geleugnet wird. Darüber hinaus leugnet die Rede vom zionistischen Kolonialismus, dass Juden in Europa gerade als Andere ausgeschlossen wurden, oder wie Robert Kurz es formuliert: Dass die Juden in Europa „die dort eigentlich ein längst säkulares und nicht-ethnisches Selbstverständnis entwickelt hatten, von ihren eigenen Mitbürgern zum ethnischen, ‚rassischen‘ oder religiösen Fremdkörper gestempelt wurden und deshalb Israel als ihren Staat verstehen mussten, wird ausgeblendet und so die konstitutive Bedingung [Israels] auf den Kopf gestellt.“

Die Verklärung und Rechtfertigung der brutalen Gewalt gegen Jüd*innen ist ein Resultat der Umdichtung des Zionismus zu einer Form des europäischen Kolonialismus. Einer der dekolonialen Relativierer hat auf Instagram jedoch ein tatsächliches Problem benannt, als er sinngemäß aussagte: „der Westen“ (also genauer, die akademische Linke) hat die Subalternen seit Jahrzehnten dermaßen mit postkolonialer Literatur à la Frantz Fanon überflutet, dass man sich jetzt nicht wundern solle, wenn die Gewalt nun auf die Kolonisatoren zurückschlage. Dieser und ähnliche Kommentare offenbaren die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, die Gewalt als Mittel ohne Ziel sprechen lassen soll, ohne dass daraufhin eine Verbesserung der Situation eintritt und unbehelligt von moralischen Maßstäben, die in der postkolonialen Sicht wohl selbst als koloniale abgelehnt werden. Der Relativismus der Gewalt ist nicht nur eine Reaktion der Subalternen – er ist auch ein Resultat der Ideologieproduktion zivilisationsmüder Akademiker*innen unter Innovationsdruck, das in den Politik-Seminaren europäischer Universitäten gedeiht.

Die inhaltsleere Staatsräson

In erwartbarer Weise wird von der Politik und von offizieller Seite wieder das Bekenntnis zur Sicherheit Israels als deutsche Staaträson vor sich her getragen. Auch viele der zivilgesellschaftlichen Solidaritätsbekundungen für Israel sind von diesem Geist getragen. Allerdings bleiben, um Robert kurz erneut sprechen zu lassen, „die Begründungen durchgehend im Bewusstsein falscher Unmittelbarkeit stecken; die Solidarität mit Israel machte sich ohne zureichende Vermittlung mit dem historischen und weltgesellschaftlichen Bedingungszusammenhang auf derselben Ebene geltend wie die Israelfeindschaft und blieb damit hilflos. Diese Erscheinung wird selbstverständlich auf ein spezifisch deutsches Schuldbewusstsein zurückgeführt.“ Oder – müsste hier noch hinzugefügt werden, und das scheint der häufigere Fall zu sein – sie wird mit der historischen Verantwortung begründet. Genau diese Verantwortung ziehen allerdings auch gerade die Leute gerne heran, die in einer beliebten und schon gewöhnlich gewordenen Argumentation den Holocaust als Negativfolie heranziehen, den es, an den Palästinensern durch Israel verübt, zu verhindern gälte. Ebenso beliebt ist es mittlerweile, der deutschen Zivilgesellschaft – das heißt, ihren israelsolidarischen Teilen – einen Schuldkomplex zu attestieren, der aufgrund der Verantwortung der Deutschen für die Shoa die heutige Generation ihrer Nachfahren dazu verleite, hinter Israels Existenz und dessen Politik zu stehen. „Geradezu mitleidig wird der proisraelisch oder auch nur vorsichtig zurückhaltend auftretenden Minorität der deutschen Linken etwa von italienischen, französischen oder lateinamerikanischen Vertretern eines israelfeindlichen ‚Antikapitalismus’ attestiert, sie sei eben noch immer von anachronistischen Schuldgefühlen gebeutelt und sollte endlich mit der ewigen Sühnerei Schluss machen, um die Juden als kriegsverbrecherisches Tätervolk zu entdecken, Gaza als riesiges Konzentrationslager und den Krieg gegen die Hamas als Holocaust an unschuldigen Palästinensern,“ wie Robert Kurz schreibt. „Die Deutschen sollten also mit ihrer eigenen Schuld umgehen, statt diese nun stellvertretend an den Palästinensern abzureagieren.“

Die in diesem Zuge aufgekommene, an kartoffeliger Dreistigkeit kaum zu überbietende Forderung „Free Palestine from German guilt“ ist die prägnante Formulierung jener Idee eines Schuldkomplexes, die lediglich das linke bzw. zivilgesellschaftliche Äquivalent der in rechten Kreisen verbreiteten Rede vom deutschen „Schuldkult“ darstellt, von dem es sich endlich freizumachen gelte. Zudem lässt sich diese Figur genauso gut umdrehen: handelten die Antiimperialist*innen – dieser Logik nach – dann nicht auch nur aus einem Schuldgefühl der weißen bzw. imperialistischen Täterkollektive heraus?

Demgegenüber müsste jedoch auf der simplen Tatsache beharrt werden, dass Solidarität nicht allein auf einem Gefühl der Schuld, sondern wie Kritik auf Erkenntnis beruht und beruhen muss. Die historische Verantwortung, die zur Solidarität führt, kann sich überhaupt nur geltend machen, wenn sie historisch verstanden und vor allem auch begrifflich durchdrungen wurde. Das setzt voraus, sich überhaupt erst einmal einen Begriff von Antisemitismus zu machen und ihn in den Zusammenhang von bürgerlich-liberaler Gesellschaft und Nationalsozialismus einzubetten. Es setzt weiterhin voraus, etwa der Rolle Nazideutschlands in dem Prozess gewahr zu werden, der dem islamischen Antisemitismus in Palästina zu seinem großen Durchbruch im 20. Jahrhundert verholfen hat. Eine zur Schau getragene, sich auf das Lippenbekenntnis beschränkende Solidarität ohne theoretisches Fundament und ohne Inhalt fällt so schnell wieder in sich zusammen, wie sie behauptet werden kann. Dass trotz des Lippenbekenntnisses zu Israel weiter fleißig Appeasement an das schiitisch-fundamentalistische Regime der Judenhasser im Iran betrieben wird, ist nur der unsäglichste Beweis dafür.

Das Konstrukt Palästina

Welchen Anteil am Leid der Palästinenser hat eigentlich die Tatsache, dass sie permanent von ihren arabischen „Brüdern“ hingehalten werden? Sie werden dort, zur Zeit gerade in Ägypten, nicht länger als Flüchtlinge aufgenommen, doch ganz fallen gelassen werden sie auch nicht. Sie bekommen so viel Unterstützung, dass es gerade so reicht, ihre Lage weder wesentlich zu verbessern, noch zu verschlechtern.

Sie dienen nicht mehr nur der arabischen, sondern mittlerweile scheinbar der ganzen Welt als Faustpfand gegen Israel, auf das sich der Hass fast aller arabischen und muslimischen Staaten vereinigt und seit 1948 eingeschworen hat. Sie brauchen einen Schuldigen und die Palästinenser sind das nützliche Opfer. Gäbe es die Palästinenser nicht, sie würden sie erfinden müssen.

Und erfunden haben sie sich tatsächlich, in jenem Jahr der Unabhängigkeitserklärung Israels, das für die arabische Bevölkerung zur Nakba, zur Katastrophe geworden ist, nachdem die umliegenden arabischen Staaten den von ihnen begonnenen Krieg verloren haben und zahlreiche Araber aus ihrer Heimat in Palästina fliehen mussten oder vertrieben wurden. Es war die Geburtsstunde nicht nur des Kollektivs der Palästinenser, sondern auch der weltweiten Palästina-Solidarität. Und weil jede Nation nicht nur auf Traditionen und Narrativen beruht, sondern auch auf Mythen, die sie selbst erfindet, ist es keine Polemik zu bemerken: der Gründungsmythos Palästinas ist ein Opfermythos. Dass daraus keine nationale Identität entstehen kann, auf die sich Menschen in „positiver“ Weise beziehen, wurde schnell bemerkt. Deshalb werden seit einigen Jahren große Mühen betrieben, so etwas wie eine „palästinensische Kultur“ und eine „palästinensische Geschichte“ zu entdecken, und wo sie nicht zu entdecken ist, sie zu erfinden.1

Das nationale Konstrukt der Palästinenser beruht also vor allem auf der Schuld Israels, die allerdings unter der Oberfläche mit dem ausgeprägten Judenhass verschmilzt, den die westliche Moderne gesäht, und die Islamisten wie Sayyid Qutb und die Muslimbrüder zur Reife gebracht haben.

Hätte es Israel, hätte es die Nakba nicht gegeben, die Araber hätten sie erfinden müssen. So haben sie immer einen Sündenbock, den sie für jegliches Übel der Welt verantwortlich machen können sowie ein Opferkollektiv, das man gegen den Sündenbock ausspielen kann.

Viele arabische Staaten, und zur Zeit vor allem Ägypten, möchten genau deshalb keine palästinensischen Flüchtlinge mehr aufnehmen. Dort, wo bereits eine hohe Zahl palästinensischer Flüchtlinge lebt und einen großen Anteil an der Gesamtbevölkerung darstellt, wie in Jordanien oder im Libanon, bekommen sie keine Staatsbürgerschaft, obwohl sie seit vielen Jahren dort leben und in der Regel sowohl Araber, als auch Muslime sind.

Die panarabische Solidarität – falls es sie in dieser Form überhaupt noch gibt – hat also ihre Grenzen, und es scheint, als liege diese Grenze am Jordan. Denn einerseits sind die Palästinenser nützlicher in ihrer Funktion als Faustpfand gegen Israel. Andererseits sind sie ein Faktor der Destabilisierung.

Als die PLO in den Jahren nach dem Sechstage-Krieg 1967 im jordanischen Exil eine eigenständige Armee aufgebaut hat und von dort aus ihre Guerilla-Aktivitäten wie z.B. Flugzeugentführungen geplant und durchgeführt, die jordanische Bevölkerung terrorisiert hat und die Monarchie stürzen wollte, kam es zum Krieg mit der jordanischen Armee. Der König holte pakistanische Militärs ins Land, darunter den späteren Diktator Zia-ul-Haq, um die Streitkräfte zu reorganisieren und die militärische Oberhand zu gewinnen, Unterstützung kam auch von syrischen Truppen. Das Resultat der Operation, die heute als Schwarzer September bekannt ist, waren unter anderem über 3000 tote Palästinenser.

Nach der Vertreibung aus Jordanien hat die PLO im Libanon weiter gemacht und das Land in einen 15 Jahre währenden, opferreichen Bürgerkrieg gestürzt, dessen Nachwirkungen das Land bis heute zu verschmerzen hat.

Ein weiterer Vorgeschmack auf die palästinensische Sache wurde im Zuge des Irak Krieges 1991 geliefert. Im Zuge der Invasion Saddam Husseins hat Kuwait seine fast 400.000 palästinensischen Flüchtlinge, die das Land in den Jahren zuvor aufgenommen hatte, kurzerhand wieder rausgeschmissen, nachdem die PLO die Invasion Saddams begrüßt hatte, vor allem nachdem Hussein ziellos Raketen auf Israel und Palästina abgefeuert hat.

Die Palästinenser haben also schon ein kleines Geschichtchen der Vorliebe für Terrorgruppen und Racket-Herrschaft. Vielleicht liegt es daran, dass kaum noch jemand Bock auf palästinensische Flüchtlinge hat und auch hierzulande die Toleranz schwindet. Dass die aktuellen Geschehnisse in bekannter Manier genutzt werden, den populistischen Migrationsdiskurs mit verlogenen Forderungen rassistisch anzufachen, steht auf einem anderen Blatt. Das palästinensische Geschichtchen zeigt mithin, dass die arabische Solidarität in der Regel nichts als Heuchelei ist. Nur die geteilte Ablehnung Israels führt zeitweise dazu, die seit den innerarabischen Bürgerkriegen bestehenden Brüche zu überbrücken.

Die „palästinensische Sache“

Nicht nur, dass die Hamas der eigenen Bevölkerung so etwas wie ein erträgliches Dasein systematisch verwehrt, indem der Großteil der immensen finanziellen Hilfen ihrem Kampf gegen Israel zugeführt wird während sie zugleich die eigene Bevölkerung terrorisiert. Wie der Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah in Gaza 2007 zudem bewies, zerfällt der palästinensische Staat schon vor seiner Gründung. Und nach diversen vertanen Chancen für eine solche Staatsgründung könnte man an dieser Stelle ja mal ein Stückchen legitime Palästinakritik üben und die sogenannte palästinensische Sache ein wenig hinterfragen. Was sich an dieser Stelle hingegen erübrigt, ist eine neuerliche Aufzählung der Kriege, die gegen Israel geführt wurden sowie der Friedensabkommen, die Yassir Arafat abgelehnt hat, die ihm ein „Free Palestine“, also ein judenreines Palästina gebracht hätten.

Einige Hamas-Funktionäre haben dieser Tage in einem Interview mit der New York Times die Motive der Hamas in einer Offenheit ausgesprochen, an der sich die Antisemiten aller Länder ein Beispiel nehmen sollten: „Das Ziel der Hamas ist es nicht, den Gazastreifen zu regieren und ihn mit Wasser und Strom zu versorgen“, gab etwa Khalil al-Hayya vom Politbüro der Hamas in Katar zu. „Es ging nicht darum, die Situation in Gaza zu verbessern. Dieser Kampf dient dazu, die Situation komplett auf den Kopf zu stellen.“ Und das wichtigste daran: Die Hamas wollte der Welt mitteilen, dass „die palästinensische Sache nicht tot ist.“

Das führt zu der Frage: Was liegt eigentlich noch anderes in der sogenannten palästinensischen Sache, als dieser Gegenpart Israels zu sein, das Opfer Israels zu sein? Mit anderen Worten: Was ist die palästinensische Sache noch anderes, als der Hass auf Israel?

Der Führer der Hamas, Ismail Haniyah bekräftige nach Bombardements der israelischen Air Force, jeder Palästinenser sei bereit, als Märtyrer zu sterben. Wenn das wahr wäre, würden jedoch nicht so viele Menschen in Gaza die Möglichkeit nutzen, unter Todesdrohung der Hamas nach Süden zu fliehen, zuletzt sogar in Konvois, die von israelischen Streitkräften beschützt werden mussten.

Es ist nun schon des öfteren bemerkt worden, dass bei allen pro-palästinensischen Kundgebungen gerade jene Stimmen fehlen, die sich klar gegen die Hamas wenden, ganz so als gäbe es keine innerpalästinensische Opposition. Dass die Hamas von einer Mehrheit gewählt wurde, liegt auf der Hand, bedeutet aber auch, dass es eine Minderheit gibt, die eine Opposition darstellt. Genauso liegt es auf der Hand, dass wir aus Gaza nur vereinzelt von ihr mitbekommen. Ein paar kritische Stimmen hört man hin und wieder aus dem Westjordanland. Aber wo ist die palästinensische Opposition in Europa, wo sie von der Meinungsfreiheit, die es in Gaza nicht gibt, Gebrauch machen könnte, so wie es die iranische Opposition tut? Wir wissen doch, dass es sie geben muss, sei sie auch noch so klein; wir wissen, dass in Gaza Menschen die Hamas klar als die Ursache ihres Leidens benennen können. Wiegt der Hass auf Israel am Ende schwerer?

Die Menschen in Gaza

„Der Bevölkerung in Gaza geht es extrem dreckig, sie hat kein Wasser, keine Medikamente und fast nichts mehr zu essen; großenteils übrigens zumindest in dieser Härte als Folge ihrer freien demokratischen Entscheidung für die Hamas“, konstatierte Robert Kurz 2014. „In der Diktion linker Verharmlosungs-Strategien wird daraus eine Rechtfertigung dieser Entscheidung aufgrund der sozialen Notlage.“ Die vielbeschworene Verzweiflung der Palästinenser, die den zahlreichen verständnisvollen Kommentaren zufolge beinahe gesetzmäßig zu Verzweiflungstaten bis hin zum Selbstmordattentat führt, klingt zwar auf den ersten Blick nachvollziehbar. Allerdings läuft die Logik dieser Argumentation darauf hinaus, den gemeinten Menschen jede Entscheidungsfreiheit abzusprechen, wie auch Kurz feststellt.

Auch so üben sich jene, die vermeintlich solidarisch mit Palästina sind, in der Entmenschlichung, die sie den Juden vorwerfen. Sie offenbaren nur einmal mehr, dass es ihnen um die Menschen in Palästina nur insofern geht, als sie ihnen für ihre Projektionen gegen Israel dienen.

Eine Kontextualisierung, die die Entscheidungsfähigkeit der Menschen in Gaza ernst nimmt, sähe vielleicht so aus: Als Neonazis in den 90er und 2000er Jahren in Deutschland zunehmend Fackelmärsche und andere Gedenk-Kundgebungen ausrichteten, in denen die – meist weit übertriebenen – Zahlen der Todesopfer als „alliierter Bombenterror“ und „Bombenholocaust“ betrauert wurden, kamen antifaschistische Gruppen auf die provokante Idee, Plakate zu verbreiten, in denen in Schutt gelegte deutsche Städte mit Bildern jubelnder NS-Bevölkerung in Kontext gesetzt und mit dem Slogan untermalt wurden: Sowas kommt von sowas.

Eine grauenvolle Logik, die auf kalter Kausalität beharrt, aber dazu beigetragen hat, ein Regime zu besiegen, das ganz Europa terrorisiert hat. In Gaza sieht es mancherorts schon grauenvoll ähnlich aus. Soll man deshalb an dieser Stelle noch einmal die gesamte Entwicklung des Konflikts nacherzählen, die es soweit hat kommen lassen, wenn doch ohnehin kein Kontext die Toten wiederbringen oder die Verwundeten heilen kann? Wo es doch ohnehin egal ist, was Israel tut oder lässt, weil es den Hass der Weltgesellschaft schon a priori und qua Existenz auf sich gezogen hat?
Die USA haben in der Reaktion Israels “Verhältnismäßigkeit” eingefordert. Dabei möchte doch kein israelischer Soldat und keine Soldatin als Teil einer wildgewordenen Mörderbande in Gaza wahllos Frauen und Kinder vergewaltigen, abschlachten und verbrennen, wie eine gewitzte Kommentatorin auf X angemerkt hat.

Vielleicht müssen sich manche „Israelkritiker“ diese Logik erst in ihrer Konsequenz vor Augen führen, um zu erkennen, dass dies nicht die Logik ist, der die israelischen Militäreinsätze folgen. Vielmehr erweist sie den Genozid-Fimmel der Propalästinenser als das, was er ist: bestenfalls uninformiertes Mitläufertum, meistens jedoch die wahnhafte Projektion eigener Sehnsüchte.

Es bleibt zu bezweifeln, aber noch nicht zu entscheiden, ob eine nicht-antisemitische palästinensische Gesellschaft möglich ist. Letztlich können wir wohl nur hoffen, dass das, was in Gaza vielleicht entsteht, sollte es den israelischen Sicherheitsbehörden gelingen die Hamas zu zerschlagen, etwas besseres sein wird, als die Herrschaft wahnsinniger islamistischer Rackets über eine unterdrückte und ideologisch fanatisierte Bevölkerung, wie sie jetzt der Fall ist. Angesichts des grassierenden Judenhasses, der ein vereinigendes Moment regressiver Kollektive und Regimes weltweit ist und sich auch in Gaza bzw. Palästina wohl noch lange halten wird, fällt die Hoffnung darauf allerdings gering aus. Und die Führer der Hamas werden den Krieg wahrscheinlich ohnehin überleben und in Katar weiterhin in den Petrodollars ihrer verbündeten Autokraten-Regimes schwimmen – sowie den Palästina-Hilfen aus Europa und den USA.

Was folgt nun aus alledem?

Manche Linke würden, wie sich in den letzten Wochen gezeigt hat, das Pogrom selbst dann noch leugnen oder relativieren, wenn es vor ihren eigenen Augen stattfindet. Damit nicht genug, Linke machen bei dem ganzen Wahn im großen Stil mit, indem sie vermeintliche propalästinensische Demos besuchen oder gar organisieren, die in Wahrheit nur gegen Israel sind und indem sie die Propaganda der Hamas verbreiten. Eine solche Linke hat nicht nur angesichts des Antisemitismus versagt und ist für Jüdinnen und Juden kein Verbündeter, sondern sie ist eine Gefahr. Sie kann daher auch kein Verbündeter mehr für jedwede kritische, emanzipatorische Praxis sein. Es wäre nur folgerichtig sie als Bündnispartner konsequent auszuschließen und gesellschaftlich zu isolieren.

Die jüdischen Stimmen, die man in immer größer werdender Zahl weltweit hören kann, sind es leid, sich noch für die schlimmsten Verbrechen ihrer Feinde rechtfertigen und mit der Pistole auf ihrer Brust Beweise für die erlittenen Wunden und Verluste liefern zu müssen. Jüdinnen und Juden weltweit sind es leid, in Kollektivhaftung genommen zu werden und bei jeder Eskalation im Nahen Osten um ihr Leben fürchten zu müssen.

Vielleicht ist es an der Zeit den Spieß rumzudrehen und Zeit, eine andere Art von Beweisen einzufordern: Wo sind die Beweise dafür, dass die „palästinensische Sache“ in irgend etwas anderem als dem antisemitischen Vernichtungswunsch besteht?

 


1 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Palästina vor 1900 Jahren schon einmal so genannt wurde – durch den römischen Kaiser Hadrian, der dort die Existenz des aufständischen und verfolgten jüdischen Volkes auszuradieren trachtete. Dabei wurden die Provinzen Syria und Judaea zu Syria Palaestina umgegliedert.