Antwort auf „einige Gedanken“ aus der 94
Kürzlich veröffentlichten die Genoss:innen der Rigaer94 ein Statement zu den „Geschehnissen in Gaza“, anscheinend, weil sie „von Vielen von der Notwendigkeit“ gehört haben, sich zu äußern. Und das ist auch gut verständlich. Denn schließlich suchen viele, wenn drastische Veränderungen eintreten, nach Orientierung von vermeintlichen oder gewünschten Autoritäten. Was diese sagen, hat für viele dann ein besonderes Gewicht. So mit Sicherheit auch diejenigen, die unter dem Label R94 schreiben und veröffentlichen können. Schließlich steht die R94 doch seit langem für eines der kämpferischsten Häuser in Deutschland; wenige halten so die Fahne hoch im Kampf gegen Verdrängung und Gentrifizierung. Statements aus der R94 waren oft geprägt von dem Bewusstsein des gesellschaftlichen Kampfes, der in beiden ausgetragen wird, und darüber hinaus von besonderer Radikalität. Aus der R94, so mochte es vielleicht scheinen, sprach der Geist der Freiheit. Kompromisslos in einem besetzten Haus zu wohnen, das öffnet ganz gewiss eine besondere Perspektive auf gesellschaftliche Prozesse, die sich aus dem sonst üblichen Alltagstrott heraus nicht einnehmen lässt. Das hat auch uns inspiriert; wir können jedenfalls von uns sagen, dass wir uns in den Kämpfen der R94 solidarisch positioniert haben, so wie es uns mal mehr, mal weniger möglich gewesen ist. Und wir denken, dass nicht nur wir Interesse daran hatten, was wohl die Bewohner:innen der R94 zu den „Geschehnissen in Gaza“ zu sagen haben; immerhin berichtete sogar der „Tagesspiegel“ über das Statement der R94, sodass gesagt werden kann, dass das Interesse sogar über den Kreis der isolierten radikalen Linken hinausging.
Herausgekommen ist allerdings nicht viel, beziehungsweise besser gesagt: viel wirres Zeug, das nun offenlegt, dass Qualitäten in einem bestimmten Bereich des politischen Kampfes ein Verständnis von den Ereignissen in der Welt weder voraussetzt, noch zu stimulieren scheint; dass, wenn die Bewohner:innen der R94 davon sprechen, dass eine Position zum aktuellen Konflikt einen mit Widersprüchen konfrontiert, beziehungsweise gleich einem „Meer von Widersprüchen“, dass „schwer auf uns lastet“, sie nicht Widersprüche in einem politischen oder kritischen Sinne meinen, sondern vielmehr von einem großen, scheinbar undurchdringlichem Wirrwarr sprechen. Und diesem wird sich dann eben mit der Axt genähert, in der Hoffnung, dass dieses Wirrwarr sich verflüchtigt, wenn man sich der Sache mit Grobheit widmet. Nachdem dann alles Widersprüchliche abgehakt ist, erscheint die Sache nun eindeutig und voilá, am Ende wissen dann auch alle, wie damit umzugehen ist. Eines ist jedenfalls ein Ergebnis, mit dem wir persönlich schon früh gerechnet haben: Am Ende ist es jedenfalls sinnvoll und richtig, sich an den aktuellen Ausschreitungen in Berlin zu beteiligen.
Es ist ja leider mittlerweile so, dass inhaltliche Debatten kaum mehr geführt werden. Was es dafür umso mehr gibt, ist das Beziehen von klaren Standpunkten. Wer seinen Standpunkt hat, der konkurriert dann einfach mit anderen Standpunkten. Inhaltlich wird auf nichts mehr wirklich eingegangen, auf Kritik wird mit Gegenkritik reagiert. Das bedeutet, dass die Positionen immer nur statisch nebeneinanderstehen. So lange es keinen Grund gibt, erträgt man sich, sobald aber ein Konflikt auftaucht, schlägt man sich. In der Regel tritt auch irgendwann wieder eine Beruhigung ein, aber Konflikte führen seltenst dazu, dass jemand seine Position ändert. Wir sind alle doch inhaltlich verhärtet. Alle gehen auch davon aus, dass sie alles Nötige und Wichtige schon wissen. Auf Veränderungen und Ereignissen in der Welt wird mit dem Bezug auf die eigenen Grundsätze reagiert. Es ist nahezu gleichgültig, was ist, die meisten haben sich bereits für einen Aspekt aus dem Politkköfferchen entschieden und genutzt werden diese dann als Universalwaffe gegen alles; die Begründung ist regelmäßig, dass dies richtig ist, weil die ganzen Gewalt- und Unterdrückungsmechanismen miteinander verstrickt sind und somit die eigene Waffe auch immer einen Treffer landet. Das wird natürlich nicht mit dieser Eindeutigkeit so gesagt, aber die Figur ist nahezu immer die Gleiche.
Wir wollen daher den Versuch unternehmen, es anders anzugehen. Also keinen Standpunkt zu beziehen, auch wenn es uns innerlich dazu reizt, sondern uns mit den Argumenten und Positionen der Bewohner:innen der R94 zu beschäftigen. Denn wir denken: Die radikale Linke ist derzeit nicht im Besitz des nötigen Wissens oder der passenden Theorie, um sich den Herausforderungen, die die Welt für die Menschen bereithält, zu stellen; Standpunktpolitik mag alles mögliche sein, aber fortschrittlich ist sie nicht; sich nur auf die zu beziehen, die die eigene Auffassung teilen, wird uns nicht im Geringsten weiterbringen und wird uns auch nicht dabei helfen, zusammen am Verständnis der Welt zu arbeiten.
Was wir damit aber nicht meinen ist, dass wir uns alle lieb haben, uns mögen oder immer nett zueinander sein müssen. Schließlich regen einen Handlungen und Äußerungen auf, sie machen einen wütend oder aggressiv und lösen den Wunsch aus, aufeinander loszugehen; damit müssen wir einen Umgang lernen und diese Tendenzen, die uns ja stetig auseinanderdrängen, zu unterdrücken, ist dabei sicher keine zielführende Idee. Und das war jetzt unsere Art zu sagen: Wir geben uns Mühe, aber wir entschuldigen uns schon mal für unseren schlechten Umgangston.
1. „Der deutsche Staat, Politiker*innen und manchmal sogar unsere Mitstreiter*innen sorgen sich sehr darum, wie nah oder fern man sich zu den Ideen der Hamas positioniert.“
Danke für diese Aufzählung. Da haben wir einen schönen Dreiklang: Der Staat, Politiker:innen und – nun ja: diejenigen, die ihr mit „unsere Mitstreiter*innen“ meint, das sind wir. Denn auch wenn wir uns selbst nicht in diese Reihe stellen würden, das ist eine Sorge, die wir haben. Wieso „der Staat“ oder „Politiker:innen“ sich darum sorgen, wollen wir mal vernachlässigen, aber: Wir sind nicht einfach so irgendwie besorgt, weil wir ein bisschen plemplem sind, sondern weil wir gute Gründe dafür haben: Es waren gar nicht so wenige, die den Angriff der Hamas, noch während er stattfand, gefeiert haben, oder in einer etwas abgeschwächteren Form: Kein Problem darin fanden, sich mit denen zu solidarisieren, die es taten. Die Hamas ist aber für uns keine Organisation, die aus berechtigten Gründen für die Befreiung Palästinas kämpft, ganz gleichgültig, wie wir zu einem solchen Anliegen stehen würden. Die Hamas ist in jeder Hinsicht eine menschenfeindliche Organisation, deren wesentliches Interesse die Ausdehnung ihrer eigenen Macht ist, wobei sie dabei eine Auffassung vertritt, wie das Leben aussehen sollte, die jedweder Vorstellung, wie ein befreites Leben für alle aussehen sollte, widerspricht. Sie ist dementsprechend auch für die Unterdrückung, Unterwerfung und Verfolgung freiheitlich gesinnter Kräfte vor allem in Gaza verantwortlich. Sie mögen ebenfalls ein Interesse daran haben, wie progressive Kräfte in Gaza, die daran arbeiten, sich aus der Umklammerung Israels zu befreien. Das macht aber ihren Kampf nicht zu einem Kampf um Freiheit, sondern zu einem Kampf zur Ausdehnung des eigenen Machtbereichs. Die Folge von Erfolgen der Hamas ist ein Rückschritt bezüglich der Kämpfe um die Freiheit der Menschen, kein Fortschritt. Es ist für uns erschreckend, wenn radikale Linke dies abtun als wäre das nur eine Nebensache, denn eigentlich und ganz im Grunde sei dies nur ein unliebsamer Nebeneffekt vom Kampf der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker. Es ist für uns ebenfalls erschreckend, dass diejenigen, die die Bedeutung und Absichten der Hamas in den Vordergrund heben, damit abgewatscht werden sollen, dass sie eben die Interessen des deutschen Staates und seiner Politiker:innen vertreten, die wesentlich durch Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus bestimmt sind, und dass der Grund dafür sei, dass man die eigene Verstrickung in diese nicht erkennen würde. Dass aber die Taten und Absichten der Hamas in den Vordergrund zu stellen nur Ausdruck von Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus sein sollen, dass müsste dann doch erst einmal plausibel gemacht werden, zumal die Hamas unsere eigenen Verbündeten im Kampf für eine freie und gerechte Welt in Gaza verfolgt und im Zweifel auch ermordet. Für uns ist es eben nicht gleichgültig, wer gegen die Unterdrücker kämpft und wieso. Es ist nicht gleichgültig, ob es sich dabei um einen Kampf um die Freiheit aller oder nur um die Ausdehnung der Möglichkeiten einer autoritären Kraft dreht. Genauso wenig haben wir uns über die Rückkehr der Taliban gefreut und wir sehen auch nichts Fortschrittliches daran, wenn faschistische Kräfte gegen den Staat opponieren und diesem schaden, nur weil es der Staat ist, der den Schaden nimmt.
Die Bewohner:innen der Rigaer94 verwenden hierfür in ihrem Text auch die von uns schon angesprochene Figur: Es wird gar nicht der Versuch gemacht, auf die Bedenken der „Mitstreiter*innen“ einzugehen. Es wird einfach gesagt: „Zum historischen Kontext eines asymmetrischen Krieges, welcher nun schon mehr als 70 Jahre andauert, wird dabei jedoch nur wenig gesagt. Ein andauerndes Massaker an der palästinensischen Bevölkerung begann bereits zu der Zeit des britischen Kolonialismus, assistiert durch die Errichtung eines Apartheidregimes in einer künstlich geschaffenen Siedler*innengesellschaft.“
Wir möchten hier noch einmal mit aller Deutlichkeit betonen, dass das kein Argument, sondern einfach nur eine andere Sicht auf die Dinge ist. Wenn wir uns aber grundsätzlich nichts anderes zu bieten haben als Positionen, die daraus bestehen zu sagen: „Siehst du so? Seh ich nicht so!“ werden wir niemals weiterkommen. Wenn es sich wirklich und nicht nur dem Namen nach um „Mistereiter*innen“ handelt, wenn also die politische Verbundenheit nicht aufgekündigt ist, so sollte man sich mit den Bedenken, die in Anbetracht offenkundiger Gräuel geäußert werden, mehr auseinandersetzen, als wir es hier erfahren. Wenn es hingegen egal ist, was andere warum denken, sofern es nicht das ist, was man selber denkt, dann ist dieses Vorgehen natürlich das richtige.
Zu dem Vorwurf, der dann gemacht wird, wollen wir uns im nächsten Punkt äußern, vorher wollen wir aber noch auf dieses eingehen: „Individuen und Kollektive, die nie Sympathisant*innen der Hamas waren, befinden sich heute mit dem Rücken zur Wand und werden aufgefordert, die Richtlinien einer weißen deutschen Bewegung zu befolgen. Zuerst sollen sie sich öffentlich von islamistischen Ideen distanzieren, bevor sie den Raum bekommen, um über ihre eigenen politischen Ideen zur Befreiung von der kolonialen und faschistischen Unterdrückung Israels zu reden.“ Wir können uns gar nicht vorstellen, dass ihr meint, was ihr sagt. Natürlich muss sich jemand erklären, wenn er sich positiv auf Grausamkeiten bezieht, jemand der dies nicht tut, muss dies natürlich nicht. Natürlich muss sich niemand dafür rechtfertigen, dass andere die Verbrechen der Hamas hochleben lassen, wer aber mit ihnen zusammen auf die Straße geht, muss es dann wohl doch. Und es gibt keinen Kontext, wo man sagen kann: Ach, das wusste ich gar nicht. Dass man es immer schon sofort weiß, kann man von niemandem verlangen. Dass man aber dabei bleibt, dass dies nicht so war oder das man es nicht mitbekommen hat und dergleichen, obwohl es ganz offenkundig ist, ist schwerlich zu rechtfertigen. Und es ist verlogen, wenn die Bewohner:innen der R94 nun so tun, als ob dies alles ein ganz ungerechtfertigter Vorwurf wäre. Als würden sich da aktuell die „Stimmen aus Palästina oder der sich im Exil befindenden Communities“ durch ihre Differenzierung auszeichnen. Das ist auch nicht dadurch abzufertigen, dass wir konfrontiert werden mit „einer Realität, die für uns manchmal schwierig zu verstehen ist.“ Die „Stimmen aus Palästina oder der sich im Exil befindenden Communities“ werden hier zwar im Plural genannt, aber als Plural gar nicht berücksichtigt. Vor allem wird durch so ein Gefasel ja gerade einfach nur die lauteste Stimme zusätzlich hervorgehoben und jene, die diese Auffassung nicht teilen, sofern sie zu einer solchen Community überhaupt noch zugerechnet werden, als Kollaborateur:innen der Macht konstruiert.
Wir finden die daneben angesprochene Einschränkung der Demonstrationsfreiheit nicht richtig, allerdings muss man doch sagen, dass diese Einschränkung nicht die Willkürlichkeit hat, die hier behauptet wird. Es konnten reihenweise Großdemonstrationen stattfinden. Wir teilen die Auffassung: „Das Ausmaß der Gewalt, das in den letzten Wochen in Berlin zu beobachten war, lässt sich nicht allein als Reaktion auf den Ausbruch aus dem Gazastreifen erklären.“ Aber auf welches vergleichbare „Ausmaß der Gewalt“ wird denn nicht mit Repression reagiert? Natürlich reagiert der Staat mit Repression, wenn gegen von ihm aufgestellte Grundsätze verstoßen wird. Das ist doch nicht etwas, was nun passiert, weil es um die palästinensische Sache geht. Dass in diesen Riots auch gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung abgehandelt wird, ist sicher, aber wenn sich diese dann in Angriffen auf jüdische Einrichtungen, im Skandieren von antisemitischen Sprüchen, im Lobe der Größe Allahs oder ähnlichem ausdrückt, dann darf man sich demgegenüber als radikale Linke nicht blind machen. Es ist eben auch eine falsche Zuschreibung, wenn man dann hinter die Äußerungen, die einem nicht gefallen, einen diskriminierten Menschen denkt, der in Wirklichkeit etwas anderes meint. Die Aussage „und auch die deutsche “Linke” liebt Opfer, um die man sich “kümmern” kann, um die eigene Schuld zu tilgen.“ trifft dann nämlich auf einen selber zu; man nimmt die Menschen nicht ernst, sondern schiebt ihnen unter, was man sich wünscht. Und es reicht nicht, diese Vorfälle als Nebensache abzutun. Dazu waren es zu viele.
2. „Zum historischen Kontext eines asymmetrischen Krieges, welcher nun schon mehr als 70 Jahre andauert, wird dabei jedoch nur wenig gesagt. Ein andauerndes Massaker an der palästinensischen Bevölkerung begann bereits zu der Zeit des britischen Kolonialismus, assistiert durch die Errichtung eines Apartheidregimes in einer künstlich geschaffenen Siedler*innengesellschaft.“
Nun, das ist ein Vorwurf, der einfach nicht stimmt. Zum historischen Kontext wird und wurde in Hinblick auf diesen Konflikt doch nun schon etliches gesagt. Es gibt ganze Bücher, die sich mit dem Thema befassen. Das hier einfach zu leugnen und ad acta zu legen, was soll das bringen?
Wer sich damit befasst, gerade mit dem angesprochenen „historischen Kontext“, der weiß doch, dass die Sache diese Eindeutigkeit, die hier behauptet wird, gar nicht hat. Es gibt in Israel und den palästinensischen Gebieten wohl nicht nur einen „nun schon mehr als 70 Jahre“ andauernden „asymmetrischen Krieg“ und ein „andauerndes Massaker an der palästinensischen Bevölkerung“, oder wie es anderswo heißt, eine „ koloniale […] und faschistische […] Unterdrückung Israels“. Um die Lage so zu beurteilen, muss man ja ganz viel weglassen was dazugehört. Erst dann bekommt der Konflikt die Gestalt, in welcher er hier präsentiert wird, in seiner vollumfänglichen Einseitigkeit. Es wird nun nicht damit gespart, die Methoden aufzuführen, mit der diese Einseitigkeit herbeigeführt wird. Hinter dem Konflikt stecken: der „Deutsche Staat“, „das israelische Militär“, das „kolonialistische und faschistische Israel“, „Rheinmetall und Co“, „zionistische Autoritäten“, „koloniale Kräfte“, sowie die Verantwortlichen des „II. Osloer Abkommens“. Ihr Ziel ist: „unsere Klasse entlang ethnischer und religiöser Linien zu spalten“, die „tatsächlichen Widersprüche zu verschleiern“ und den notwendigen „passiven Gehorsam der kolonisierten Menschen“ zu erzeugen. Das Ziel dabei ist: „unser Wohlbefinden und unsere ökonomische Stabilität in diesem Land“ zu sichern (und das wohl auch in ihren eigenen Ländern) und sich „eine goldene Nase verdienen“. Die Mittel dafür sind: Der „vom Staat und den Medien befeuerte […], orientalistische […] Diskurs“, der „das Bild “des Arabers” als das ultimative Böse konstruiert“, „rassistische Hetze“, „jeglichen Widerstand zum Schweigen bringen“, seit „100 Jahren“ „palästinensische Menschen umbringen“, „Genozid“, „alle Formen der Selbstverteidigung und Selbstbestimmung als barbarisch, von Gier getrieben oder unzivilisiert“ und die Palästinenser:innen als „von Natur aus antisemitisch“ bezeichnen, das „größte Gefängnis der Welt“ errichten und das „Narrativ der Schuld“ ben
utzen. Demgegenüber stehen dann die Palästinenser:innen, die „die Zäune des größten Gefängnis’ der Welt“ niederreißen, die „aktiv werden und einen Weg zur Befreiung einschlagen“, die „das System ins Wanken“ bringen, uns dazu bringen, „ damit aufzuhören, uns nur mit uns selber zu beschäftigen“, uns „mit einer Realität“ konfrontieren, „die für uns manchmal schwierig zu verstehen ist“, uns dazu auffordern, „aufmerksam zu werden auf eine Realität, von der wir alle profitieren“, damit „unser Ego angreifen“, uns auffordern, „eigene Positionen zu finden oder am Rand zu stehen“, einen Standpunkt „zu diesem Genozid einzunehmen, sollte für alle einfach sein“ und es ist „schmerzhaft, widersprüchlich und erschöpfend, aber notwendig“.
Wir fassen das mal zusammen: Es gibt auf der Welt mächtige Eliten, die das Ziel haben, immer reicher zu werden. Dazu beuten sie den globalen Süden aus. Wir profitieren alle davon. Dieses Verhältnis heißt Kolonialismus oder Imperialismus. Die Mittel um diesen Zustand aufrechtzuerhalten sind Rassismus, Genozid, Faschismus, Mord, Gewalt, Unterdrückung, Manipulation. Demgegenüber stehen die Unterdrückten, die dagegen aufbegehren. Sie wählen dazu Formen, die uns nicht gefallen und die wir nicht verstehen. Wir brauchen das aber auch nicht zu verstehen, sondern können mit ihnen mitmachen oder auf der Seite der Unterdrückung stehen. Das ist zugleich einfach, aber auch schmerzhaft und erschöpfend; zudem notwendig.
Ja, so kann man das natürlich sehen. Allerdings ist das keine politische Betrachtung, sondern der Übertrag von Geschichten wie „Harry Potter“, „Der Herr der Ringe“ oder irgendwelcher banalen Märchen auf die Wirklichkeit. Das ist nicht: Die Wirklichkeit. Wer auf diese Weise Politik begründen oder machen will, der muss sich nicht wundern, dass am Ende gar nichts dabei herauskommt. Natürlich, natürlich (!) ist an all diesem auch irgendwie etwas dran, aber wie kann man glauben, damit etwas Wichtiges zum Angriff der Hamas zu sagen, der in dem ganzen Text der Bewohner:innen der R94 nur ein einziges Mal erwähnt wird und zwar zu Anfang, wo von „den Aktionen der Hamas“ gesprochen wird? Der Grund ist ganz einfach: Wer sich die Welt so erklärt, wie das hier anklingt, der teilt alles auf in Gut und Böse ohne einen Platz dazwischen. Wenn das so ist, dann wird die Hamas zur Kämpferin für das Gute, die deswegen „Aktionen“ für das Gute durchführt, weil sie die „Bösen“ damit trifft, und die „Bösen“, dass sind dann einfach alle, die nicht zu den Guten gehören. Die „Guten“ dürfen dann einfach alles machen, was sie wollen, weil es nur gut sein kann, da sie gegen die Bösen kämpfen. Das Abmetzeln der Hamas ist eine „Aktion“ gegen das Böse. Und wir, wir hier in Deutschland, wir gehören im Grunde mit zu den Bösen, wenn wir nicht selbst die Partei der Guten ergreifen. Dann ist es auch nicht weiter verwerflich, wenn wir selbst abgemetzelt werden. Weil wir sind diejenigen, die profitieren und damit legitime Ziele, es sei denn, wir nehmen alles, was uns widerstrebt, also was im Text als das beschrieben wird, was „schmerzhaft, widersprüchlich und erschöpfend“ ist, zurück und beteiligen uns an den von den Guten durchgeführten „Aktionen“. Was die Guten alles machen, das ist für uns schwer zu verstehen, weil wir selber nicht zu den Guten gehören. Wenn wir aber in den Kampf gegen die Unterdrückung eintreten, dann brauchen wir es auch nicht zu verstehen. Durch unser Eintreten in den Kampf zeigen wir, dass wir verstanden haben. Dann werden die Metzeleien der Hamas zu einer, wie es heißt „konstruierten Schreckensgeschichte“, die nur erfunden wird, um den wahren Schrecken zu verdecken. Die „Aktionen“ der Hamas sind dann „Handlungen“, mit denen uns die Menschen in Gaza zwingen, damit aufzuhören „uns nur mit uns selbst zu beschäftigen“. Es gibt dann nur noch die Bösen auf der einen Seite und auf der anderen Seite, ganz unterschiedslos den Widerstand durch „Selbstorganisation und Selbstbestimmung“, eben „von der West-Sahara zu den Bergen in Chiapas, von Wallmapu zum Kashmir Valley, von unseren Herzen nach Gaza“.
Es scheint ja zumindest so, dass da ein Rest Unbehagen in der Solidaritätsbekundung vorhanden ist. Nicht zuletzt deshalb werden wohl die „Berge in Chiapas“ genannt, die wie ein Schutzgeist gegen das Bündnis mit dem Gräueltaten angerufen wird. Und das Unbehagen wird ja auch deutlich ausgesprochen, wenn die inneren Widerstände gegen das eigene blinde Mitmachen formuliert werden. Wir hoffen jedenfalls, dass die Bewohner:innen der R94 oder auch alle, die den Inhalt des Textes teilen, sich noch einmal versuchen auf dieses Unbehagen zu besinnen und es vielleicht zumindest für eine Weile nicht einfach so niederringen. Es scheint ja auch so zu sein, dass einfach Angst besteht, Angst, wie es heißt „am Rand zu stehen“, weil man nicht schnell genug „eine eigene Position“ ergreifen kann. Es ist aber gar nicht so schlimm. Manchmal ist es sogar besser, an den Rand zurückzutreten und sich erst einmal eine gute Übersicht zu verschaffen, bevor man sich ins Getümmel stürzt, und manchmal ist auch jedes Stürzen ins Getümmel genauso falsch, wie erstarrt vor eigener Hilflosigkeit am Rand zu bleiben.
3. „Die Errichtung eines Apartheidregimes in einer künstlich geschaffenen Siedler*innengesellschaft.“
Im ganzen Text der Bewohner:innen der R94 gibt es so eine Art Grundton, mit welchem versucht wird, die eigene Position zu stärken. Es ist wie ein Gezischel: „Israel – Apartheid“, „Israel – Genozid“, „Israel – Faschismus“, „Israel – Schuld“, „Israel – künstlich“, „Israel – Zionismus“, „Israel – Goldene Nase“. Es zieht sich durch den Text und gibt ihm einen auffälligen Grundton. Es liegt uns fern, hier nun mit dem Finger zu zeigen und zu sagen: „Da habe wir sie, die linken Antisemiten!“ Ein solcher Vorwurf ist sinnlos und vermutlich auch falsch, zumal es – wenn auch schwache – Versuche gibt, im gleichen Atemzug, wie man seine Solidarität zur palästinensischen Sache ausdrückt, sich auch vom Antisemitismus abzugrenzen. Wir haben auch schon ein paar Texte gelesen, die nun versuchen, jedes Mal aufs Neue zu sagen, dass Israel kein Apartheidsstaat ist, dass Israel nicht faschistisch ist, usw.. Wir denken, dass dies nirgendwo hinführt, weil: Es geht uns hier nicht um Worte. Es geht nicht darum, die Worte so einzusetzen, dass man den Feind besonders gut herabsetzen und angreifbar machen kann, und dafür den Freund schützens- und liebenswert. Es ist ein politischer Abweg, den Menschen und Geschehnissen in der Welt eine bestimmte Gestalt oder ein bestimmtes Aussehen zu geben, damit wir ihnen auch ein dementsprechendes Wesen geben können. Es ist sinnlos, auf der einen Seite mit „Israel – Apartheid, Zionismus, Siedlung, Genozid – Feind!“ zu arbeiten, als sei das ein Argument, auf der andere Seite dann zu versuchen dem „Israel – Schutzraum, einzige Demokratie, Sicherheit, Garant – Freund!“ entgegenzuhalten. Beides wird einen immer nur blind machen gegenüber dem, was dort passiert und den Menschen widerfährt. Der Konflikt ist Ausdruck dafür, dass die Menschen trotz aller Bemühungen, die sie anstellen, es nicht schaffen, einen guten Zustand für alle herbeizuführen. Und einer der Gründe dafür ist das anhaltende Unvermögen auf schreckliche Ereignisse anders als mit innerer Verhärtung zu reagieren. Empathie aber, die sich blind macht gegenüber dem Schlechten, was das angebliche Ziel der eigenen Empathie tut und macht, ist keine. Man soll über einen Mörder nicht nur Schlechtes sagen, wer aber nur Gutes über ihn sagt, der ist Kompliz:in. Sich zur Kompliz:in, von welchem Mörder auch immer, zu machen, kann aber niemals Ausgangspunkt einer fortschrittlichen Politik sein.