Jürgen Kasek: Hier die Guten, dort die Bösen?
Der Politiker Jürgen Kasek ist dagegen, dass so viele Bürger ihre Wut herausbrüllen. Deshalb sitzt er nicht im Büro, sondern kämpft auf der Straße. Aber ist das klug?
Jürgen Kasek hatte einen Traum: Er wollte Schauspieler werden. Die Bühne, das Publikum, die ständig wechselnden Rollen: Das, sagt Jürgen Kasek, wäre etwas für ihn gewesen. Aber er ist kein Schauspieler geworden. Er hat entschieden, in die Politik zu gehen. Und manchmal fragt er sich, ob die Art, wie er dort auftritt, vielleicht etwas mit seinem Traum von früher zu tun hat. „Im Grunde setze ich mir doch immer noch Masken auf. Und ich stehe heute immer noch auf Bühnen, das gehört zu meiner Arbeit“, solche Sätze sagt Kasek.
Jürgen Kasek, 36, aus Leipzig, ist Landesvorsitzender der sächsischen Grünen, und man tut ihm nicht Unrecht, wenn man ihn einen der umstrittensten Politiker des Ostens nennt. Er gilt als laut und angriffslustig, er ist dauerpräsent in den Medien. Immer dann, wenn in Sachsen über Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit diskutiert wird, wenn in Heidenau oder Bautzen eine linke Soli-Demo stattfindet, dann kann man sicher sein, dass schon bald der Name Kasek auftaucht. Kasek ist derjenige, der stets sofort vor Ort ist, wenn irgendwo dieser Freistaat wieder sein unschönes Gesicht gezeigt hat. Er fährt dann los, begleitet von einem mal kleineren, mal größeren Trupp linker Aktivisten, den er anführt – um zu demonstrieren, Präsenz zu zeigen, mitunter nächtelange Mahnwachen abzuhalten. „Kaltland“ nennt Kasek sein Bundesland Sachsen in solchen Situationen auf Facebook und Twitter. „Kaltland-Reisen“, so wird Kaseks Demo-Reisetrupp deshalb genannt. Von Leuten, die ihn mögen. Und von Leuten, die ihn nicht mögen.
Aber Kasek ist auch unterwegs, wenn es gegen die neuen populistischen Bewegungen geht, gegen Pegida und Legida. Man könnte sagen: Er ist ein Reisender wider die Wut. Zugleich gibt es kaum einen anderen Politiker, gegen den sich inzwischen so viel Wut richtet. Kein anderer wird von Rechtspopulisten derart verachtet und angegriffen. Für Pegida-Frontmann Lutz Bachmann ist Kasek eine Hassfigur. Für die AfD ist er das Feindbild. Für manche ist er der ultimative Grund, niemals die Grünen zu wählen. „Für viele Rechte bin ich das personifizierte Böse“, sagt Kasek. „Da gibt es die Vorstellung, dass ich über Horden Vermummter verfügen würde, die ich per Twitter und Telefon lenke. Dass ich Angriffe kommandiere, damit die Rechten nicht in Ruhe demonstrieren können.“ Linke würden ihn hingegen regelrecht verklären: „Für die andere Seite bin ich ein heiliger Seibeiuns, jemand, der total mutig ist, sich vorn hinstellt und Kraft und Zuversicht vermittelt, dass etwas getan wird gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Viele dieser Leute möchte ich nicht enttäuschen“, sagt er.
Zwischen diesen sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen steht Kasek und fragt sich in letzter Zeit immer öfter: Tut er das Richtige? Ist das, was er tut, Teil der Lösung – oder Teil des Problems? Braucht Sachsen wirklich Politiker, die die Stimmung eher aufheizen, statt sie abzukühlen? Braucht es nicht eher Leute, die mäßigen, statt zu polarisieren? Und ist die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten nicht der letzte Beweis, dass die alten Mittel versagt haben? Im Schnitt führt Kasek jede Woche eine Demo an, wie am vergangenen Montag in Leipzig, seiner Heimatstadt. Linke haben zum Protest gegen Legida, den Leipziger Pegida-Ableger, aufgerufen. Man erkennt Kasek schon von Weitem, am langen, dunklen Lockenzopf, der so etwas wie sein Markenzeichen geworden ist. Er ist ein schlaksiger Typ mit derben Stiefeln, engen Jeans, an seiner Tasche baumelt ein Fahrradhelm. Es ist kein Abend im Krisenmodus, den Kasek hier erlebt; eher eine Selbstbestätigung, vielleicht sogar Selbstbeschäftigung für beide Fronten. Die 200 Legida-Anhänger, die sich nach monatelanger Demo-Pause zusammenrotten, wären kaum aufgefallen, würde gegenüber nicht das andere Lager lärmen. Es herrscht Event-Stimmung. Etwa 400 Linke ziehen durchs Stadtzentrum. Dieses ganze Treiben erinnert ein bisschen an Räuber und Gendarm: Man wird manchmal das Gefühl nicht los, dass die eine Seite die andere beinahe braucht.
Kasek ist in diesem Spiel die wohl wichtigste Figur. Er grüßt unentwegt, etwa zwei Drittel der Demonstranten, sagt er, kenne er wenigstens vom Sehen. Hier trifft sich ein Bekanntenkreis aus Gleichgesinnten, verbunden durchs Protestieren. Irgendwann, Kasek gibt gerade ein TV-Interview, torkelt noch ein anderes Grüppchen heran. Ein paar Zwanzigjährige, die Flaggen schwenken, Anhänger der Satiretruppe „Die Partei“. Sie skandieren: „Antifa, Supermann! Kasek zeigt euch alle an!“ Und das ist vielleicht anerkennend gemeint. Vielleicht aber auch böse.
Es gibt Leute, die werfen Kasek vor, dass er nichts für die gesellschaftliche Versöhnung tue. Dass er sich Pegida in den Weg stelle, aber sich kein bisschen für die Probleme interessiere, die manche Leute zu Pegida oder auch nur zur AfD treiben. Ist das nicht das Gegenteil von Versöhnung? Für seine Kritiker ist er der „Kaltland-Jesus“, die „linke One-Man-Show“. Der Vorwurf, Sachsen sei ein „#failedState“, sitzt locker bei ihm. Vielen gilt Kasek selbst als Teil des Problems, auch Parteikollegen.
Ein paar Tage nach der Demonstration in Leipzig sitzt Kasek in seinem Dresdner Grünen-Büro. Er wirkt erschöpft. „Diese Verantwortung, das brennt mich zum Teil echt aus“, sagt er. Wer Kasek hier, gewissermaßen im Innendienst, erlebt, sieht einen zurückhaltenden, nachdenklichen Menschen, der in der Lage ist, den öffentlichen Jürgen Kasek zu dekonstruieren.
Politik ist ein zähes Geschäft
Nun, im geschützten Raum, fragt er sich selbst: Ist es eigentlich richtig, Woche für Woche auf der Straße zu stehen und gegen die Verhältnisse in einem Bundesland zu protestieren? Wertet man die Rechten auf, wenn man ihnen diese Aufmerksamkeit schenkt? Kasek sagt: „Ich hatte Schwierigkeiten, mir das einzugestehen, aber inzwischen ist mir bewusst, dass ich einen großen Einfluss habe. Und ich versuche immer häufiger zu sagen: Bitte lasst uns zusehen, dass sich die Fronten nicht noch weiter verhärten.“ Kasek reflektiert den Hass, der ihn verändert hat. Er sorgt sich um seine Angehörigen, seine kleine Tochter, er erzählt nur das Nötigste über sein Familienleben, er will es schützen. Wenn er privat unterwegs ist, versucht er, sich zu schützen. „Ich ziehe mir die Mütze tief ins Gesicht, um nicht erkannt, vielleicht sogar angegriffen zu werden“, sagt er. Er weiß auch, dass er längst eine Rolle eingenommen hat in diesem Spiel, das da in Sachsen läuft. Das Gespräch dreht sich schnell um den Narzissmus, den Hang zur übertriebenen Polemik, die Lust auf Bühne: Das sind Eigenschaften, die er an sich beobachtet, und man muss ihn fragen, ob das nicht dasselbe Muster ist, das sich auch auf der Gegenseite beobachten lässt. Ob nicht, gemeine Frage, auch Pegida-Bachmann von solchen Eigenschaften geprägt ist. „Das ist natürlich ein sehr unangenehmer Vergleich, aber da ist etwas dran“, sagt Kasek. „Wir beide dienen als Projektionsflächen.“
Man muss zurückgehen zu Jürgen, dem schüchternen Jungen, aufgewachsen in einer Akademikerfamilie aus Markranstädt bei Leipzig, Mutter Pharmazeutin, Vater Biologe, beide engagiert in der Umweltbewegung, ständig bei Demos, die beiden Söhne von klein auf dabei. Das Familienleben der Kaseks in der DDR: exotisch. Bis auf ein paar kleinere Rebellionen ist Jürgen Kasek den Weg der Familie weitergegangen, er ist Aktivist geworden. Er hat Jura studiert, schon mit dem Hintergedanken, „den Armen und Schwachen zu helfen“. Das macht er bis heute, gewissermaßen. Seine Kanzlei, in der er der einzige Mitarbeiter ist, betreut vor allem die eigene Szene. „Ein Professor hat mich mal aufgezogen und gesagt, der Jürgen will später mal Punks verteidigen. Heute kann ich sagen, ja, genau das mache ich, unter anderem.“ Es gab kaum eine Zeit in seinem Leben, in der Kasek nicht auf Demos war. Erst ist er nur mitgelaufen, dann hat er selbst welche angemeldet, 2014, bei einer Aktion zur Rettung eines Jugendklubs, stand er das erste Mal auf der Bühne. Für Kasek, nebenbei Bassist in einer Metalband, ein Schlüsselmoment: „Vielleicht hilft mir, dass ich Musik mache. Ich habe das Mikro genommen, ein Bein auf eine Box gestellt und einfach losgesprochen. Die Leute sind schnell mitgegangen.“ Solche Auftritte sind Inszenierungen, für die man Talent braucht. Er hat es und weiß das.
Aber steckt mehr hinter diesen Bildern? Was haben Kasek und seine Anhänger bisher tatsächlich erreicht? Seine Bilanz: „Flüchtlingsinitiativen sind entstanden, viele Menschen haben durch uns zusammengefunden.“ Manchmal muss er sich vorkommen wie ein Beleuchtungsmeister. Als nähme er den Scheinwerfer und leuchte dorthin, wo rechte Aktivisten ihr Unwesen treiben. Mitunter sind er und seine Leute die Einzigen, die sich in kleinen Orten einer fremdenfeindlichen Demo entgegenstellen.
Es gibt aber auch den Vorwurf: Dieser Protest verschreckt gemäßigte Stimmen aus der Mitte. Und er verhindert eben Austausch. In einigen Orten, die er besucht hat, fühlt man sich zu sehr ausgeleuchtet vom Lichtmeister Kasek. Zum Beispiel in Heidenau. Was fällt einem heute als Erstes zu dieser Stadt ein? Rechte Krawalle und pöbelnde Menschen. Bürgermeister Jürgen Opitz leidet immer noch darunter, und er ärgert sich über die rechten Protestierer von damals. Aber er hätte lieber auch die Gegendemonstranten um Jürgen Kasek nicht gehabt. „Diese Fronten stehen sich gegenüber, und die normale Bevölkerung wird dazwischen eingequetscht“, sagt Opitz. „Beide Fronten stehen für wenige Menschen. Für die normale Bevölkerung ist es schwer, sich an diesen Extremen zu orientieren.“ Er sei nach wie vor davon überzeugt, „dass der größte Teil der Heidenauer anständige Leute sind. Und dass ein geringer Teil Hilfe braucht. Aber für die benötigen wir schlaue Ideen, nicht Konfrontation.“
Politik, so sieht es Opitz, ist ein zähes Geschäft. Jürgen Kasek vereinfacht es, für ihn gibt es Gut und Böse, jedenfalls dann, wenn er auf der Straße steht. Auch Sachsens CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer sagt: Mit politischen Antworten habe Kaseks Demo-Tourismus nichts zu tun. Selbst grüne Parteifreunde sagen, Kasek sei „monothematisch“ aufgestellt, habe wenig Lust auf die Arbeit in Ausschüssen, stehe lieber auf Marktplätzen. Als sich im vergangenen Jahr die Gelegenheit für ihn ergab, in den Sächsischen Landtag nachzurücken, lehnte er ab und verzichtete auf sein Mandat. Begründung: Er sehe seine Stärken und Prioritäten an anderer Stelle. Vor allem draußen auf der Straße.
Die Grünen stecken in einem Dilemma, wenn es um Kasek geht. Einerseits wissen sie um die Macht und Kraft, die er durch seine Aktionen bündelt. „Jürgen Kasek ist dort sehr präsent, wo die Parteipolitik bisher nicht ihre Schwerpunkte setzte“, sagt der sächsische Grünen-Abgeordnete Valentin Lippmann. Aber dort, wo Politik wirklich gemacht wird? Viele Grüne werfen Kasek vor, dass er immerzu Alarm schlage und das Bild von Sachsen zu verdunkeln helfe. In Berlin dagegen, unter grünen Bundespolitikern, wird Kasek als Held im finsteren Freistaat wahrgenommen. Seine Parteifreunde in Sachsen belastet das: Sie können strampeln und Lösungen suchen, er kriegt das Lob. Neulich hatte Kasek Besuch von Cem Özdemir in Leipzig.
Immer öfter schlägt die Wut jetzt in Gewalt um
Monika Lazar, Leipzigerin und Grünen-Bundestagsabgeordnete, arbeitet seit Jahren mit Kasek zusammen, sie findet seine Arbeit gut. „Aber ich habe auch schon zu ihm gesagt: Mensch, Jürgen, gibt es denn sonst niemanden, der Demos anmelden kann?“
Doch Kasek sieht sich als Identifikationsfigur für seine linke Szene. Wenn man ihn nach Idolen fragt, zählt er Bücher und Persönlichkeiten auf, die ihn faszinieren: Cicero, Cäsar, Napoleon – und Ulrike Meinhof. Letztere erwähnt er nur zögerlich, weil er weiß, was für eine heikle Assoziation das ist. Linksextremismus, linker Terrorismus. „Bei Ulrike Meinhof finde ich den Prozess der inneren Radikalisierung spannend – und erschreckend. Plötzlich bricht jemand alle Brücken zur Gesellschaft ab und wird gewalttätig. An ihrem Beispiel sieht man, was für eine große Gefahr das ist.“
Denn so vehement wie Kasek fordert, dass man Rechtsextremismus in Sachsen und anderswo erkennen und bekämpfen muss, so oft wird eine Gegenfrage auf ihn zurückgeworfen: Gibt es nicht auch ein Problem mit Linksextremismus? Jürgen Kasek erlebt Radikalisierungen auf beiden Seiten, auch in seiner Szene. Jüngstes Beispiel: Bautzen. Als dort im September Krawalle zwischen Rechten und Flüchtlingen eskalierten und Kasek zum Gegenprotest aufrief, stand mit ihm eine Gruppe von etwa 30 Leuten in Bautzen, die meisten schwarz gekleidet, teils vermummt, einige mit Knüppel-Fahnen, mehr Knüppel als Fahne.
Auf der anderen Seite: Rechte, ein paar Dutzend mehr. Es ist nicht zu einer Massenschlägerei gekommen, aber diese Konfrontation hätte eskalieren können. Auch Kasek war erschrocken: „Mir war das nicht geheuer. Wenn der linke Protest so aussieht, weiß ich: Das ist auch nicht besser als die andere Seite.“ Er musste sich später erklären, auch in der eigenen Partei.
Immer öfter schlägt die Wut jetzt in Gewalt um. In der vergangenen Woche wurde Kasek von Fußball-Hooligans im Zug nach Leipzig attackiert, sie warfen ihm eine Flasche an den Kopf, bedrohten ihn. Zum Glück gab es nur eine Beule. Aber es passiert immer häufiger, dass er verbal attackiert wird. Kasek fragt sich, ob das alles noch Sinn hat. „Ich versuche, mehr einzubringen, dass man gegen Gewalt vorgehen muss, unabhängig von der politischen Einstellung“, sagt er. Ein Kommunikationsforscher habe ihm mal erklärt, dass die Menschen Heldenfiguren brauchten, das habe für ihn einleuchtend geklungen. Ende November steht die Neuwahl des Grünen-Landesvorstands an, Kasek tritt wieder an. Er wird dann erfahren, ob seine Partei glaubt, einen Helden zu brauchen. Anführer zu sein, das heißt: Mit Druck und Verantwortung gleichermaßen fertig zu werden. Jürgen Kasek spürt beides.