Prozess gegen Lina E.: Ist sie Teil einer neuen RAF?

In Dresden endet am Mittwoch der größte Linksextremismusprozess seit Jahren. Eine kriminelle Bande soll gezielt Jagd auf Neonazis gemacht haben. Die Polizei sieht längst ihre Nachfolger am Werk – und fürchtet eine Radikalisierung im Untergrund.

Als die Polizei an einem Abend im März 2023 die Wohnungen in einem Haus im Leipziger Stadtteil Connewitz durchsucht, geht sie rabiat vor. Schwer bewaffnete Beamte sprengen Schlösser auf und fesseln Unbeteiligte. Völlig gerechtfertigt, finden die Ermittler, die Sache sei ernst. Sie kennen die Adresse schon länger, jetzt haben sie einen konkreten Hinweis: Sie suchen nach Paul M., einem 26 Jahre alten Leipziger Studenten. Die Polizei hält ihn für einen wichtigen Mann unter den mutmaßlichen Linksextremisten, die nach Attacken auf Rechtsextreme mit Gummihammern und Schlagstöcken untergetaucht sind. Paul M. und die anderen, so die Sorge der Ermittler, könnten sich im Untergrund weiter radikalisieren. So etwas, sagen sie intern beim Bundeskriminalamt, habe es seit der RAF nicht mehr gegeben.

Große Aufmerksamkeit für die Szene

Seit einigen Monaten gibt es eine so große Aufmerksamkeit für die linksextreme Szene wie schon lange nicht mehr. Das liegt vor allem an einem der größten Prozesse gegen mutmaßliche Autonome seit Jahren: Vor dem Oberlandesgericht sind die Leipziger Studentin Lina E. und drei Männer aus Berlin und Leipzig für Attacken auf vermeintliche und tatsächliche Neonazis angeklagt. Am Mittwoch soll gegen sie nach fast 100 Verhandlungstagen ein Urteil fallen.

Wenn das passiert, dann werden viele Angehörige der linken Szene mit im Gerichtssaal sein. Sie werden den Prozess und das ganze Drumherum für übertrieben halten – die Razzien, das Gerede von einer neuen RAF. Für die Sicherheitsbehörden aber ist dieses Verfahren erst der Anfang. Die Bundesanwaltschaft ermittelt aktuell insgesamt gegen 15 Beschuldigte aus dem Umfeld von Lina E. Geht es nach linken Aktivisten, nach den Anwälten von Lina E., dann piesacken Polizei und Justiz hier aber die Falschen – und ermitteln ohne Sinn für die wahren politischen Verhältnisse im Land, blind für die rechtsextreme Gefahr.

Lina E. und ihre drei Mitangeklagten sollen eine kriminelle Bande gebildet, in Sachsen und Thüringen gezielt Jagd auf Neonazis gemacht und bei sechs Angriffen insgesamt 13 Menschen verletzt haben, einige davon schwer. Für E., die mutmaßliche Rädelsführerin, fordert die Bundesanwaltschaft acht Jahre Haft. Die 28 Jahre alte Frau sitzt seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Doch die Ermittler gehen davon aus, dass ihre ehemaligen Weggefährten, Männer wie Paul M., weiter Taten nach dem selben Muster begehen. Sie glauben, dass es längst eine Nachfolgegeneration junger Männer und Frauen Anfang 20 gibt – allesamt untergetaucht und bereit zu schweren Straftaten.

Budapest im Februar 2023. Jedes Jahr feiern hier Rechtsextreme aus ganz Europa Hitlers Armee für einen gescheiterten Ausbruchsversuch am Ende des Zweiten Weltkriegs. „Tag der Ehre“ nennen die Neonazis das. Regelmäßig reisen dazu auch Gegendemonstranten in die ungarische Hauptstadt. Dieses Jahr hat es dabei mehrere brutale Übergriffe gegeben – auf Menschen, die beim „Tag der Ehre“ dabei waren oder von denen die Angreifer das zumindest annahmen.

Der ungarischen Polizei zufolge wurden acht Menschen verletzt, attackiert von Vermummten mit Gummihammern und Schlagstöcken. Im Netz gibt es Bilder einer Überwachungskamera, die eine der Taten aufgenommen hat. Das Muster erinnert an die Angriffe, die der Gruppe um Lina E. vorgeworfen werden.

Und tatsächlich gibt es Verbindungen. Mehrere der mutmaßlichen Angreifer wurden von der ungarischen Polizei festgenommen, europaweit wird nach Verdächtigen gefahndet – die meisten sind Deutsche. Sie kommen aus Leipzig, Weimar und Berlin. Einer von ihnen sitzt in Ungarn in Untersuchungshaft. Es ist ein Mann aus Berlin. Er wurde schon im Dezember 2019 in Eisenach vorläufig festgenommen – nach einem Angriff auf einen rechtsextremen Kneipenwirt. Und: Für diese Attacke ist auch die Gruppe um Lina E. in Dresden angeklagt.

Beim Landeskriminalamt in Sachsen gibt es eine Sonderkommission zur Ermittlung politisch links motivierter Straftaten. Soko Linx heißt sie. Die Ermittler dort arbeiten nach den Taten in Budapest mit der ungarischen Polizei zusammen. Auf den Überwachungsvideos aus Budapest entdeckten die sächsischen Staatsschützer nach RND-Informationen bekannte Gesichter – und sie gehen davon aus, dass diese Menschen an den Angriffen in Budapest beteiligt waren. Auf den Videos war demnach Paul M. zu erkennen, nach dem die Polizei wenige Wochen später in dem Haus in Leipzig-Connewitz erfolglos suchte – und der zur Gruppe um Lina E. gehört haben soll. Außerdem wollen Ermittler Johann G. identifiziert haben. Er ist einer der wohl gefährlichsten Linksextremisten des Landes – vorbestraft, gesucht mit Zielfahndern und per Haftbefehl. Auf seinen Fingern soll Johann G. die Worte „Hate Cops“ tätowiert haben, „Hass für alle Polizisten“. Und G. ist der Verlobte von Lina E. Er soll zusammen mit ihr die linksextreme Gruppe angeführt haben, von der ein Teil am Mittwoch das letzte Mal vor Gericht steht.

Per Öffentlichkeitsfahndung gesucht

Johann G. steht nicht in Dresden vor Gericht – er ist seit Sommer 2020 untergetaucht. Nach den Taten in Budapest ist er aber nicht mehr der Einzige, der trotz Fahndung von ungarischen und deutschen Behörden verschwunden bleibt. Mit ihm sind es inzwischen sechs mutmaßliche Linksextremisten aus Deutschland. Sie werden von der ungarischen Polizei per Haftbefehl und Öffentlichkeitsfahndung gesucht. Das heißt unter anderem: Ihre Namen und ihre Fotos wurden im Internet veröffentlicht. Man muss dazu wissen: In Deutschland dauert es normalerweise lange, bis auf diese Weise öffentlich nach Verdächtigen gesucht wird, die Hürden dafür sind hoch. In Ungarn, das von einer Koalition unter Führung der rechtskonservativen Partei Fidesz regiert wird, forderten zuletzt Politiker noch weiter rechts stehender Parteien eine Einstufung „der Antifa“ als Terrororganisation. Übertreibt es die ungarische Polizei also aus politischen Gründen – so, wie es ihnen die linke Szene von Deutschland aus vorwirft?

Dirk Münster ist Chef des sächsischen Staatsschutzes, er leitet die Soko Linx beim Landeskriminalamt in Dresden. Und auch ihn beschäftigt die untergetauchte Gruppe der mutmaßlichen Budapest-Angreiferinnen und Angreifer. Seine Abteilung kennt einige der Verdächtigen aus Leipzig, die meisten davon Männer und Frauen Anfang 20. Manche von ihnen seien schon zuvor mit politisch motivierten Straftaten aufgefallen, allerdings weit unterhalb des Schweregrades, um den es jetzt geht. „Wir gehen aber davon, dass die Leute, die von der Szene zu Angriffen ins Ausland geschickt werden, eine herausgehobene Stellung haben“, sagt Münster. Dass die Verdächtigen trotz intensiver Fahndung immer noch nicht gefunden worden seien, besorgt ihn. „Wir befürchten, dass sich die Gruppe im Untergrund weiter radikalisiert.“ Ein internes Papier des Bundeskriminalamtes, über das das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ berichtet hatte, geht sogar noch weiter: Die Gesuchten könnten sich demnach auch mit Geld sowie Falschpapieren ausgestattet haben. Und: Ein derartig professionelles Vorgehen sei bei Linksextremisten „letztmalig zu Zeiten der RAF feststellbar“ gewesen.

Neben den Taten von Budapest ist ein mutmaßliches linksextremes Netzwerk zwischen Leipzig, Berlin, Jena und Weimar noch wegen weiterer Taten im Visier. Es geht dabei unter anderem um Gewalttaten in Eilenburg in Sachsen, in Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt und um Angriffe in Thüringens Hauptstadt Erfurt. Das Landeskriminalamt in Thüringen ermittelt inzwischen auch in einer eigenen Arbeitsgruppe zum Linksextremismus. Die Ermittler verfolgen dabei auch einen Angriff in Erfurt Anfang des Jahres, bei dem zwei Rechtsextremisten von einer Gruppe Vermummter unter anderem mit einer Axt attackiert worden waren. Beweise für eine Beteiligung eines sächsisch-thüringischen Netzwerkes oder des Umfeldes von Lina E. gibt es bislang aber offenbar keine.

Die Beweislage ist auch im Dresdner Prozess um Lina E. umstritten. Die zuständige Bundesanwaltschaft hält die Gruppe „in der Gesamtschau“ für überführt und sieht ihre Taten im Grenzbereich zum Linksterrorismus. Die Anwältinnen und Anwälte der Angeklagten dagegen fordern Freispruch in fast allen Fällen. Sie sprechen von einem „politischen Verfahren“ und halten es etwa bei nahezu keiner der zur Rede stehenden Attacken für belegt, dass die Angeklagten unter den vermummten Angreifern waren. Und sie kritisieren, dass die Verteidigung selbst für einen der Angeklagten ein Alibi hat vorbringen müssen. Sie unterstellen gar, dass die Bundesanwaltschaft entlastendes Material absichtlich zurückgehalten habe.

Seit Beginn des Prozesses gegen Lina E. gibt es Proteste aus der linken Szene – die Ermittlungen seien einseitig, der Vorwurf einer kriminellen Vereinigung sei konstruiert und der wichtigste Zeuge in dem Verfahren, ein vorbestrafter Linksextremist und Insider, unglaubwürdig. Solche Kritik wollen radikale Linke nach dem Urteil nun mit landesweiten Protesten ausdrücken – und drohen dabei auch offen mit Gewalt.

Mobilisierung für den Tag X

Für jedes in dem Prozess verhängte Haftjahr wolle man eine Million Euro Sachschaden anrichten, heißt es etwa in einem Aufruf. Europaweit wird schon seit Monaten für eine Demonstration am Samstag in Leipzig mobilisiert, dem sogenannten Tag X. Es könnte sein, dass die Androhungen nur militante Folklore sind. Es könnte aber auch so sein, wie es der sächsische Verfassungsschutz befürchtet: nämlich, dass es sich bei dem Gewaltaufrufen um den Auftakt einer neuen „militanten Kampagne“ handelt. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) jedenfalls spricht davon, dass auf Leipzig und die ganze Republik am Samstag eine „sehr schwierige Lage“ zukomme. Man rechne für Leipzig mit der Anreise „von sehr gewaltbereiten Aktivisten und Extremisten“.

Und auch die Angriffe auf die Neonazis könnten weiter gehen. In Leipzig sind zuletzt wieder die Adressen vermeintlicher und tatsächlicher Rechtsextremer veröffentlicht worden – inklusive Ausführungen dazu, wo die ihre Hunde ausführen und für gewöhnlich einkaufen. Es ist aber nicht so, dass all das innerhalb der radikalen Linken widerspruchslos gutgeheißen wird. In einem langen Schreiben der kommunistischen Gruppe „Kappa“ aus Leipzig etwa steht, wie sehr die Ermittlungen der vergangenen Jahre die linke Szene gelähmt hätten – und, dass Militanz immer gut begründet sein müsse, dass nicht nur „Gewaltfetische“ ausgeübt werden dürften. Auch in einem Aufruf der Roten Hilfe Leipzig wird deutlich, dass in der Szene heftig diskutiert wird, „ob Gewalt im Kampf gegen Nazis mehr Schaden als Nutzen hervorbringt“. Und dann hat das Büro einer Linken-Abgeordneten in Sachsens Landtag zum sogenannten Tag X einen offenen Brief geschrieben. Darin werden die Gewaltandrohungen kritisiert und die Protestierenden darum gebeten, „Leipzig und Connewitz nicht zu zerkloppen“.

 

Anmerkung der Moderation: Wir haben einen Link zum gemeinsamen Aufruf von RH Leipzig und EA Dresden ergänzt, weil uns der kurze Zitatausschnitt irritiert hat. Wir lesen ihn anders.