Letzte Generation | Paragraf 129: Wie gefährlich ist der „Gummi-Paragraf“?
Gegen die „Letzte Generation“ gehen Behörden auf Basis eines Paragrafen vor, der hoch umstritten ist. Die Warnungen vor einer politischen Instrumentalisierung der Justiz sind laut. Zu Recht?
Hunderte Demonstranten gehen auf die Straße, Prominente und Politiker sehen eine „rote Linie“ überschritten: Nach einer bundesweiten Razzia gegen Aktivisten der „Letzten Generation“ ist der öffentliche Protest groß. Zunehmend rückt dabei ein Paragraf im Strafgesetzbuch in die Kritik, auf dessen Grundlage nun mit Bayern und Brandenburg mindestens zwei Bundesländer gegen die Klimabewegung ermitteln.
Es handelt sich dabei um einen der umstrittensten Paragrafen im deutschen Strafgesetzbuch: den Paragrafen 129. Er regelt die Strafbarkeit zur „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ und besagt, dass mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen muss, wer „eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind“.
Der Paragraf gilt Kritikern schon seit Langem als „Gummiparagraf“ und „Türöffner“ für politisch motivierte Verfahren: Offiziell damit begründet, die Mafia und andere Gruppen der organisierten Kriminalität verfolgen zu können, bestens aber auch dazu geeignet, gegen politisch unliebsame Aktivisten vorzugehen. Dehnbar wie Gummi also, für den Staat nicht nur gegen Mörder- und Schlägerbanden, sondern flexibel auch gegen politische Gegner anwendbar – so sehen es Kritiker.
Die Betroffenen haben mit massiven Eingriffen zu rechnen: Möglich macht ein Verdacht nicht nur Hausdurchsuchungen, sondern auch die Telefonüberwachung oder den Einsatz von GPS-Peilsendern.
Was ist dran an dem Vorwurf, es werde hier auf fragwürdigem Weg gegen die „Letzte Generation“ vorgegangen? Ist der Paragraf 129 eine Gefahr?
Kritiker sehen Grundrechte in Gefahr
Deutliche Kritiker des Paragrafen 129 sind unter anderem die Linken: „Der Strafvorwurf gegen die ‚Letzte Generation‘ ist offensichtlich politisch motiviert und steht im Zusammenhang mit den Wahlen in Bayern“, sagte Martina Renner, innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, t-online. Es gehe „allein um Stimmungsmache und die generelle Kriminalisierung der Klimabewegung“. Dieses Vorgehen gefährde Grund- und Bürgerrechte.
Auch Canan Bayram, Rechtsexpertin der Grünen im Bundestag, sagte t-online, sie sehe den Paragrafen 129 kritisch, „denn es findet keine Einschränkung auf bestimmte Straftaten statt“.
Dem Paragrafen 129 zufolge sei es lediglich ausreichend, dass eine Vereinigung auf die Begehung von Straftaten ausgerichtet sei, die „im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind“. Zwar werde vor Gericht zusätzlich darauf abgestellt, dass die Straftaten von einigem Gewicht seien, so Bayram weiter. „Allein der Verdacht der Mitgliedschaft beziehungsweise die Unterstützung einer Vereinigung ist aber ausreichend, um den Ermittlungsbehörden erhebliche Grundrechtseingriffe wie Hausdurchsuchung und Telefonüberwachung zu ermöglichen.“
Auch Unterstützer, die keine Mitglieder der „Letzten Generation“ sind, könnte dieser Paragraf treffen, sagt Bayram: „Es handelt sich praktisch um ein ‚Berührungsdelikt‘, weil es nicht nur Mitglieder der Vereinigung, sondern auch Unterstützer umfasst.“
Wie oft der Paragraf eingesetzt wird, ist unklar
Wie häufig der Paragraf in der Praxis bisher überhaupt angewendet wird, lässt sich nicht sagen. Einer Statistik, die das Justizministerium des Landes Rheinland-Pfalz auf Anfrage von t-online liefert, lässt sich entnehmen, dass bundesweit im Jahr 2021 neun Verurteilungen wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung erfolgten, im Jahr 2020 sechs, im Jahr 2019 acht.
Aussagekräftig aber seien die Zahlen kaum, warnt das Ministerium, denn: Werden Personen nicht nur wegen des Paragrafen 129, sondern auch schwerer Straftaten verurteilt, fließe der Paragraf 129 nicht mehr in die Statistik ein. Lediglich die Verurteilung wegen des schwereren Delikts werde dann erfasst.
Dass wesentlich mehr Ermittlungen in Bezug auf den Paragrafen 129 eingeleitet als Verurteilungen dokumentiert werden, zeigt schon ein Blick auf die Zahlen aus Schleswig-Holstein: Das nördlichste Bundesland hat im Jahr 2022 fünf, 2021 neun und 2020 siebzehn Ermittlungsverfahren auf Basis des Paragrafen 129 gegen einen oder mehrere Verdächtige gestartet, wie es auf Anfrage von t-online mitteilt.
Auch Spitzenjuristen streiten
Auch unter Juristen ist die Ausdeutung des Paragrafen umstritten – und ebenso, ob er im Fall der „Letzten Generation“ zu Recht angewendet wird. So hält Matthias Jahn, Richter am Oberlandesgericht in Frankfurt am Main und Professor an der Goethe-Universität, die Durchsuchungen bei der „Letzten Generation“ für unverhältnismäßig, wie er dem ZDF sagte. Der Paragraf 129 nämlich ziele auf Vereinigungen ab, die mafiaähnlich organisiert seien. Insofern müsse auch danach gefragt werden, ob die „Letzte Generation“ ähnliche Ziele wie die Mafia verfolge.
Thomas Fischer, ehemals Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof und Autor des Standard-Kommentars zum Strafgesetzbuch, sieht das anders. Er sagte t-online: Viele Menschen gingen davon aus, dass es für die „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ sehr hohe Anforderungen brauche. Aber: „Das stimmt nicht. Die Voraussetzungen für Ermittlungen nach dem Paragrafen 129 sind niedrig.“
Unter die möglichen Tatbestände, die mit dem Paragrafen 129 verfolgt werden könnten, fielen nicht nur schwere Verbrechen, sondern auch zahlreiche andere Vergehen, so Fischer. Das seien beispielsweise auch der gefährliche Eingriff in den Straßen- und Flugverkehr, die Störung öffentlicher Betriebe, die Nötigung und in Einzelfällen die gemeinschädliche Sachbeschädigung. „Mitglieder der ‚Letzten Generation‘ machen sich, soweit ich sehe, solcher Straftaten schuldig.“
Gericht sieht Anfangsverdacht als berechtigt an
Ex-Bundesrichter Fischer weist den Vorwurf des „Gummiparagrafen“, der politisch instrumentalisiert werde, vor diesem Hintergrund deutlich zurück: „Es gibt keine Vorschrift des Strafgesetzbuchs, von der nicht irgendwer sagt, die sei zu weit gefasst. Eine abstrakte Strafnorm hat immer einen gewissen ‚Gummianteil‘, ohne dass dies schon per se verfassungsrechtlich bedenklich wäre.“
Für ihn ist klar: „Der Anfangsverdacht auf Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen die ‚Letzte Generation‘ ist gegeben, die Staatsanwaltschaft muss dem nachgehen.“
Die ersten Gerichtsentscheidungen geben Fischer in seiner Einschätzung Recht: In Brandenburg wurden bereits im Dezember Wohnungen von „Letzte Generation“-Aktivisten auf Basis des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung durchsucht. Ein Aktivist legte Beschwerde ein, doch das Landgericht Potsdam wies sie zurück und bestätigte „insbesondere den Anfangsverdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung“, wie das Justizministerium mitteilt.
Ein Anfangsverdacht ist allerdings noch keine Verurteilung. Die Prozesse dazu laufen noch – und damit dürften auch die Diskussionen um den juristischen Umgang mit der „Letzten Generation“ noch eine ganze Weile anhalten.