Wie weit geht der Kampf gegen Neonazis?
Eine linksradikale Bande aus Leipzig soll brutal Jagd auf Rechtsextreme gemacht haben. Seit mehr als einem Jahr läuft der Prozess gegen sie. Er gibt Einblicke in eine verschlossene Szene – und in eine Welt, in der Gewalt als politisches Mittel gilt.
Dresden/Leipzig. An einem Dezemberabend 2019 löst auf einer Autobahn in Thüringen ein Blitzer aus. Er steht in einem Tunnel, höchstens 80 Stundenkilometer schnell dürfen Autos dort sein. Es blitzt oft an dieser Stelle, 128.000 Mal im Jahr 2019. Aber so wichtig wie dieses eine Foto aus dem Dezember sind die Bilder für die Polizei selten. Denn in dem Auto sitzen, so ermitteln es die Beamten später, zwei Männer mit einem Plan. Sie sind unterwegs nach Eisenach, um einen deutschlandweit bekannten Neonazi anzugreifen – um ihn möglichst schwer zu verletzen.
Über das, was in dieser Nacht passieren wird, wollen die beiden Männer aus dem Auto mit möglichst wenigen Menschen sprechen – und am besten gar nicht. Das ist so üblich in ihren Kreisen. Doch es kommt anders.
Zweieinhalb Jahre später ist der eine Mann aus dem Auto auf der Flucht. Er gilt als einer der gefährlichsten Linksextremisten des Landes. Der andere Mann kommt an einem Sommertag in den Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Dresden. Er wird begleitet von Polizisten, die sein Leben schützen sollen. Der Mann setzt sich auf den Platz des Zeugen – und fängt an zu reden.
Seit Herbst 2021 steht in Dresden eine mutmaßliche linksextreme Bande vor Gericht. Von Leipzig aus soll sie jahrelang Jagd auf vermeintliche und tatsächliche Neonazis gemacht haben. Es geht um sechs teilweise brutale Angriffe mit insgesamt 13 Opfern. Angeklagt sind drei Männer und eine Frau. Die Frau ist Lina E., 27 Jahre alt, in Kassel geboren, zuletzt Studentin in Leipzig. Zusammen mit ihrem inzwischen untergetauchten Verlobten soll sie die linksradikale Bande angeführt haben. Seit mehr als zwei Jahren sitzt Lina E. in Untersuchungshaft.
Kein vergleichbarer Fall seit 20 Jahren
Nach der Festnahme von Lina E. machte der Fall bundesweit Schlagzeilen. Dabei mag das alles erst einmal gar nicht so spektakulär klingen – Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Gewalttätern sind schließlich nicht neu. Doch dieser Fall ist besonders. Wegen des Mannes aus dem Auto, der vor Gericht redet, während alle anderen schweigen. Und weil es Polizei und Staatsanwaltschaft nur selten gelingt, linksextreme Strukturen aufzudecken, eine mutmaßliche radikale Bande vor Gericht zu bringen und Beweise für Straftaten vorzulegen. Der letzte vergleichbare Fall ist fast 20 Jahre her.
Und Beweise, die gibt es im Fall Lina E. Manche davon sind umstritten – die Interpretation abgehörter Gespräche der mutmaßlichen Gruppe etwa. Einer der Angeklagten hat inzwischen ein Alibi für eine der Taten vorgelegt. Doch es gibt auch DNA-Spuren, die an den Tatorten und den mutmaßlichen Tatwaffen gefunden worden sind. Nach einer Attacke in Thüringen wurden Lina E. und mehrere andere Beschuldigte auf der Flucht vor der Polizei gestellt. Und die Ermittler haben bei Lina E. Sim-Karten gefunden, die auf Personen registriert sind, die es gar nicht gibt. Nur selten wurden diese Sim-Karten benutzt – und immer nur kurz vor oder nach den Angriffen auf die Neonazis.
Trotzdem bleibt in dem Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Dresden lange vieles unklar. Hat es wirklich eine linksextreme Gruppe gegeben? Wie soll sie organisiert gewesen sein? Wie hat sie ihre Taten finanziert? Antworten auf diese Fragen sind nötig, wenn das Gericht Lina E. und den anderen nicht nur die Körperverletzungen nachweisen will, die sie begangen haben sollen. Sondern wenn es auch ein Urteil wegen des schweren Vorwurfs geben soll, die Angeklagten hätten eine kriminelle Vereinigung gebildet. Immer wieder kritisieren die Anwältinnen und Anwälte der Angeklagten, dass die einzelnen Taten nichts verbinde, die Beweise falsch zusammengepuzzelt würden und die ganze Nummer zu sehr aufgebauscht werde.
Kronzeuge packt aus – zu Strukturen und Ideen Linksradikaler
Dann kommt der Tag, der zum Wendepunkt in dem Prozess werden könnte. Vor Gericht erscheint Johannes D. Es ist der Mann aus dem Auto, das auf der Autobahn in Thüringen geblitzt wurde. Er soll beteiligt gewesen sein an den Attacken auf die Neonazis, zur Gruppe um Lina E. gehört haben, wurde wegen anderer linksextremistischer Straftaten bereits verurteilt. D. ist im Zeugenschutz. Vor Gericht begleiten ihn Polizisten mit stichfesten Westen. Die Beamten glauben, dass das Leben von D. gefährdet ist.
Es kommt fast nie vor, dass Linksextremisten mit den Sicherheitsbehörden reden – für die Ermittler ist Johannes D. also ein Glücksfall. Und für die linksradikale Szene ist er ein Verräter. Denn mit dem, was er vor Gericht gleich tun wird, verstößt er gegen einen Kodex in der linksradikalen Szene, an den er sich lange selbst gehalten hat: Mit der Polizei, mit Richterinnen und Richtern spricht man nicht.
Warum er es trotzdem tut, dazu sagt Johannes D. gleich zu Beginn seiner Aussage vor Gericht selbst etwas. D. ist in seinen Kreisen schon länger ein Geächteter. Eine mutmaßliche Ex-Freundin hat ihn öffentlich der Vergewaltigung bezichtigt. Danach verlor D. jede Unterstützung aus der linksradikalen Szene – und sagte offenbar schnell zu, als Beamte des Verfassungsschutzes ihn um Zusammenarbeit baten.
Deswegen sitzt er nun also hier, als Zeuge im Prozess gegen Lina E. Und er packt aus, viele Stunden lang. Er erklärt, dass sich die mutmaßliche Gruppe über geklaute Kreditkartendaten finanziert haben soll. Er erzählt, wie man sich über Messengerdienste, in denen sich die Nachrichten regelmäßig von selbst löschen, zu den Attacken verabredet habe. Wie man bei den Angriffen sogenannte Wegwerfhandys benutzt habe und die eigenen Smartphones zuhause gelassen habe, um digitale Spuren zu vermeiden.
Und Johannes D. spricht auch davon, wie die Angriffe auf die Neonazis gezielt trainiert worden seien. „Es war schon für den militanten Straßenkampf“, sagt er über diese Trainings. Es sei darum gegangen, aus einer Überzahl heraus anzugreifen. Dabei habe man schnell handeln wollen, um „hohen und langanhaltenden Schaden“ bei den Opfern anrichten, aber auch noch „vernünftig entkommen“ zu können. Mit Schlagwerkzeugen wie Hämmern und Schlagstöcken habe man die Opfer gezielt an Knien, Schienbeinen und Sprunggelenken treffen wollen – und das auch geübt.
Hauptangeklagte Lina E. wird verehrt in linker Szene
Der Kronzeuge Johannes D. redet also viel im Prozess gegen Lina E. Er macht genaue Angaben, erzählt Details, beschuldigt seine ehemaligen Freunde. Aber es gibt eine Sache, zu der er dann doch fast nichts sagt: Dazu, warum er Neonazis angegriffen hat. Da kommen von ihm vor allem Floskeln über den Unterschied zwischen legalistischen und militanten Methoden, die wie aus auswendig gelernt klingen, aus einem Antifa-Lehrbuch. Johannes D. hat auch nur wenig, so scheint es, darüber nachgedacht, wohin diese ganze Gewalt eigentlich führen soll.
Dabei ist das die entscheidende Frage. Und um sie wird gerungen, seit die mutmaßliche Gruppe um Lina E. öffentlich bekannt geworden ist. Für die Bundesanwaltschaft, die in dem Fall die Ermittlungen leitet, sind die Taten, um die es hier geht, an der Schwelle zum Linksterrorismus. In der linken Szene dagegen wird Lina E. verehrt und verteidigt – auch von Menschen, die keine Autonomen sind. Ihre Lesart: Lina E. habe sich Rechtsextremen in den Weg gestellt – gerade in Ostdeutschland, gerade in Sachsen. Dort also, wo Staat und Sicherheitsbehörden, so sehen das manche, viel zu wenig gegen rechtsradikale Strukturen unternehme. Fanartikel mit dem Namen von Lina E. werden verkauft, in Graffiti wird ihre Freiheit gefordert. Nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland. Die Rote Hilfe, ein Verein zur strafrechtlichen Unterstützung bei mutmaßlich linksextremen Straftaten, hat öffentlich gefordert: Die gesamte Linke und die Zivilgesellschaft sollten für die sofortige Freilassung von Lina E. und die Einstellung des Verfahrens eintreten.
All das klingt, als sei sich die Linke, auch die politische, einig in ihrer Unterstützung für Lina E. und die anderen Beschuldigten in dem Verfahren. Dabei ist die Anwendung von Gewalt sogar unter Linksradikalen umstritten.
Extremismus-Forscher: „Linke Gewalt hat Rechtfertigungsproblem“
Davon kann Alexander Deycke erzählen. Er ist Politik- und Sozialwissenschaftler bei der Bundesfachstelle Linke Militanz, angesiedelt an der Universität Göttingen. Er sagt, dass es zwar immer viel Solidarität in der linken Szene gebe, wenn wegen mutmaßlicher Straftaten ermittelt werde. „Aber das heißt ja nicht, dass alle die, die sich an der Solidarität beteiligen, die Taten selber genauso begehen würden“, sagt Deycke. Insgesamt sei es so, dass sich die radikale Linke argumentativ ganz schön anstrengen müsse, um Gewalt zu rechtfertigen – immerhin trete man ganz grundsätzlich für eine gewaltfreie Gesellschaft ein. „Wenn Gewalt begründet wird, dann wird meistens auf höherwertige moralische Ziele verwiesen, beispielsweise die Bekämpfung von Neonazismus“, sagt Deycke.
Neonazis, so sehen das jedenfalls manche Linksradikale, dürfen also verprügelt werden. Nicht nur, sagt der Extremismus-Forscher Deycke, aus moralischen Gründen. Sondern auch, wenn man so will, aus praktischen. Man hoffe, Rechtsextreme mit solcher Gewalt dazu zu bringen, dass sie ihre Aktivitäten einstellten. Tatsächlich könne man aber auch aus linksradikaler Perspektive kaum davon sprechen, dass Gewalt erfolgreich sei. „Man erntet eigentlich immer gesellschaftliche Ablehnung“, sagt Deycke. „Und hinzu kommt: Man hat weder den NSU erkannt noch irgendwie verhindern können – noch hat man AfD-Wahlerfolge oder die Radikalisierung der AfD bremsen oder aufhalten können.“
Das Oberlandesgericht in Dresden hat sich bislang nur am Rande mit möglichen Motiven für die mutmaßlichen Gewalttaten der Gruppe um Lina E. beschäftigt – auch, weil alle Angeklagten zu den Tatvorwürfen schweigen. Wie die Richterinnen und Richter den Fall sehen, wird sich in den nächsten Wochen zeigen: Im Frühjahr soll das Urteil fallen.