Silvester in Borna: Rohes Neues
Gab es zu Silvester in der Kleinstadt Borna wirklich Ausschreitungen mit 200 Rechtsextremen?
Die Meldung, die das Nachrichtenportal T-Online am vergangenen Samstag veröffentlicht hat, verkündet Ungeheuerliches: In der Silvesternacht hätten in der sächsischen Kleinstadt Borna bei Leipzig etwa 200 Personen gewütet und randaliert, dabei das Rathaus beschädigt und Polizisten angegriffen; Anwohner hätten von „Sieg Heil“-Rufen berichtet.
Damit bekam die seit Tagen andauernde emotional geführte Debatte um Silvester-Ausschreitungen eine Wendung: Im Fokus steht nun nicht mehr nur die Frage, welche Rolle Integrationsprobleme in migrantisch geprägten Stadtteilen spielen. Plötzlich geht es darum, ob es diese Probleme nicht auch bei einem Teil der Ostdeutschen gebe.
So sagte ein Journalist im Nachrichten-Podcast Apokalypse und Filterkaffee: „Gerade in ostdeutschen Kleinstädten gibt es auch Abgehängte, die hängen da buchstäblich ab, zum Teil ohne Job, ohne Frau, ohne Lebenssinn.“ Die Frage sei, was man mit diesen Abgehängten mache. „Abschieben kann man die ja nicht. Wohin auch?“ Auch die Süddeutsche berichtete über angeblich 200 Randalierer. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil wiederum machte sich die Behauptung zu eigen, dass in Borna Rechtsextreme mit lauten „Sieg Heil“-Rufen Sicherheitskräfte angegriffen hätten. Und die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler mutmaßte, die Täter seien „diesmal wohl ohne Migrationsgeschichte (wichtiges Detail)“.
Betrachtet man die Vorfälle in Borna genauer – und fährt man sogar hin –, stellt man fest, dass vieles von dem, was da berichtet wurde, übertrieben ist.
Der Bürgermeister der Stadt heißt Oliver Urban, ist 55 und Mitglied der SPD. Ein Treffen, am Montag dieser Woche in seinem Rathaus. Draußen, an der hellen Fassade, sind allerlei kleine schwarze Flecken zu sehen. Das seien Spuren von etwa 25 Raketen, die aufs Ratshaus geflogen seien, sagt Urban. „Ich will nichts verheimlichen, auch nicht beschwichtigen. Es gibt die unschöne Entwicklung, in Borna an Silvester die Sau rauszulassen.“ Das habe man bereits vor Jahren erlebt.
Trotzdem haben sich die Dinge, so wie er, wie Anwohner und die Polizei sie beschreiben, eher anders zugetragen als bisher berichtet. Eine zusammenhängende Gruppe von 200 Randalierern, die rechtsextreme Parolen skandierten, kann hier niemand bestätigen, den die ZEIT fragt. Tatsächlich seien um die 200 Personen auf dem Marktplatz gewesen. Etwas weniger als die Hälfte von ihnen seien dem Anschein nach Menschen mit Migrationshintergrund gewesen. So schlussfolgert es Urban nach Hinweisen von Bürgern, Ähnliches berichten Anwohner. Ein kleinerer Teil von diesen 200 Feiernden, ungefähr 30 Personen, habe sich den Angaben der Polizei zufolge von anderen abgehoben: Diese 30 seien teilweise mit Sturmhauben vermummt gewesen und hätten in dem Moment, in dem ein Streifenwagen eintraf, eine Rakete auf die Beamten gerichtet und abgefeuert. Zudem sei versucht worden, den Weihnachtsbaum umzukippen oder mit Pyrotechnik anzuzünden, was jeweils misslang.
Dass die Beamten und das Rathaus so gezielt und von Vermummten attackiert wurden, bereite der Polizei Sorgen, so sagt es deren Sprecher Olaf Hoppe. Deswegen habe man die Bevölkerung um Hinweise und Videos gebeten. Von zwei jungen Männern, jeweils 19, Deutsche, haben die Beamten noch in der Nacht die Personalien aufnehmen können. Ermittelt werde wegen Landfriedensbruchs. Wie konkret sie an den Randalen beteiligt waren, sei noch unklar.
Allerdings habe die Polizei, so sagt es Olaf Hoppe, jenseits der Presseberichte bislang keine Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung der Täter. Auch keiner von den zwölf Polizisten, die vor Ort waren, habe das so beschrieben. Wobei natürlich nicht auszuschließen sei, dass die weiteren Ermittlungen doch noch in diese Richtung führten.
Aber worauf bezieht sich T-Online dann in seiner Berichterstattung? Das Portal und der Autor des Textes haben Fragen der ZEIT dazu unbeantwortet gelassen. Offenkundig gibt es für die Aussage, Anwohner hätten „Sieg Heil“-Rufe gehört, eine Quelle: den (inzwischen gelöschten) Facebook-Kommentar einer Frau. Diese ist 56 Jahre alt und lebt in einem Eckhaus am Bornaer Markt.
Sie habe in der Silvesternacht um ein Uhr tatsächlich eine Gruppe von jungen Männern gehört, die „Sieg Heil“ rufend die Straße vor ihrem Schlafzimmer entlanggelaufen seien. Gesehen habe sie die Gruppe nicht, aber der Lautstärke nach seien es bis zu zehn Personen gewesen, sagt die Facebook-Nutzerin, die anonym bleiben möchte. Es ärgere sie, dass ihr Kommentar aus dem Zusammenhang gerissen worden sei. Ob Rechtsradikale die Randale orchestriert hätten? Das könne sie nicht wissen.
Der sie zitierende Journalist habe sie auch nicht kontaktiert und nach Hintergründen gefragt.
Die Ermittlungen würden noch Zeit brauchen, sagt der Sprecher der Polizei. Aus der Bevölkerung habe es bislang zumindest einen verwertbaren Hinweis gegeben, der bei der Suche nach weiteren Tatverdächtigen helfe. Beim nächsten Silvesterabend, das könne man jetzt bereits ankündigen, würden mehr Beamte in der Stadt sein.
Der Oberbürgermeister, Oliver Urban, will dann auch ein Böllerverbot für den Markt verhängen. Auf einer Wiese soll es stattdessen ein von der Stadt finanziertes professionelles Feuerwerk geben.