Zwei Jahre Untersuchungshaft, ein Jahr Gerichtsprozess: Antifa-Verfahren wird zum Mammut

Am 5. November 2020 verhaftete ein Großaufgebot der Sächsischen Polizei im Auftrag der Generalbundesanwaltschaft (GBA) die Antifaschistin Lina in Leipzig Connewitz. Die Untersuchungshaft in der Frauen-Justizvollzugsanstalt Chemnitz dauert nun schon zwei Jahre.

Zwei Jahre, die ihrer eigenen Aussage nach starke gesundheitliche Auswirkungen auf sie hatten. Neben der psychischen Belastung durch die Isolation von Freund:innen und Familie, kam eine lange Verzögerung der Behandlung einer Erkrankung hinzu. Etwa ein halbes Jahr lang wurden ihre Arzttermine immer wieder verschoben, bis sie schließlich, nur unter Aufsicht eines Großaufgebotes der Polizei, in einer Leipziger Arztpraxis behandelt werden konnte, so die Inhaftierte. Zu diesen zwei Jahren U-Haft kommt nun auch ein Jahr Prozess am Oberlandesgericht (OLG) in Dresden, wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Ein Jahr, in dem Lina jede Woche zwei Mal von einem bewaffneten Kommando der Polizei aus der JVA nach Dresden und zurück gefahren wird.

 

Die Aussagen des Kronzeugen

Vor Gericht sagt nach wie vor ein ehemaliger Antifaschist gegen seine mutmaßlichen Mitstreiter:innen aus. Sechs Tage lang hatte der Senat den Mann, Johannes Domhöver, befragt, der ebenfalls beschuldigt wird, an der kriminellen Vereinigung mitgewirkt zu haben. Laut seiner Aussage, hat es eine Gruppe gegeben, die sich vor allem in Leipzig organisierte. Man sei arbeitsteilig und klandestin bei der Vorbereitung von Angriffen auf politische Gegner:innen vorgegangen. Angriffe seien in Szenariotrainings geübt und potentielle Angriffsziele, namhafte Neonazis in Sachsen, Thüringen und Berlin, diskutiert worden. Dabei hätte es drei verschiedene Formen der Beteiligung gegeben. Ein innerer Kreis hätte aktiv Straftaten initiiert. Weitere Personen um diesen Kreis, so auch der Zeuge selbst, seien immer wieder hinzu gezogen worden. Auch seien mit diesen Leuten gemeinsame Trainings organisiert worden. Zuletzt gäbe es weitere Personen im Bundesgebiet, die zur Beihilfe in bestimmten Fällen heran gezogen worden seien.

Seit mehreren Prozesstagen ist die Verteidigung dabei, den Kronzeugen auf Herz und Nieren zu prüfen. Seine Glaubwürdigkeit steht besonders im Fokus, denn Johannes Domhöver bekommt ganz offensichtlich starke staatliche Unterstützung für seine Aussage. Die im Gerichtssaal präsenten Personenschützer sind ein Teil, ein anderer ist die Zahlung von 1.500 Euro monatlich, solange die Zeugenaussage eine Berufstätigkeit verhindern würde. Am 75. Verhandlungstag wurde außerdem klar, dass gegen Domhöver nicht mehr wegen Bildung oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung ermittelt wird. Die für ihn zuständige Staatsanwaltschaft Gera habe ihm und drei weiteren Beschuldigten eine Anklageschrift übersandt, in der dieser Vorwurf nicht auftauche, sagte er widerwillig aus.

Erhellend war die Vernehmung eines der drei Vernehmungsbeamten von der Soko Linx des Landeskriminalamtes Sachsen (LKA) vor dem OLG. Anders als die meisten bisher vernommenen Beamt:innen wirkte der Mann mit Nachnamen Mathe entspannt und offen gegenüber dem Gericht und der Verteidigung. Auch beim LKA wisse man, dass es mit diesem Zeugen ein Problem gebe, so Mathe. Immer wenn es darum ginge, konkret zu sagen, welche:r der Angeklagten, welche Straftaten begangen habe, gerate Domhöver ins Schwimmen. Er selbst habe immer nur die Funktion eines Scouts inne gehabt und könne darum nie sagen, wer beispielsweise Körperverletzungshandlungen vorgenommen habe. Außerdem hätte man zwar viel über Angriffe auf einzelne Neonazis gesprochen, jedoch sei der Angriff auf den Neonazi Leon Ringl in Eisenach in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 2019 der einzige dieser Art gewesen, von dem er wüsste. Die Vermutung der Verteidigung ist darum, dass Domhöver seine Wissenslücken mit Spekulationen auffüllt, um sich das Interesse der Ermittlungsbehörden zu sichern und eigene Vorteile daraus zu ziehen.

Kleine Erfolge der Verteidigung

Am 74. Verhandlungstag war es erstmals soweit, dass der vorsitzende Richter offenherzig über seine Sicht auf eine der angeklagten Taten sprach. Es ging um den Angriff auf einen Leipziger Neonazi im Jahr 2018 vor seiner Wohnanschrift. Bisher lag an Beweismitteln wenig vor: ein unvollständiges Phantombild auf Grundlage der Aussagen zweier Augenzeug:innen, die eine verdächtige, mutmaßlich weibliche Person in räumlicher und zeitlicher Nähe zur Tat gesehen haben. Außerdem fand das LKA an einer verknoteten Tüte eine DNA-Mischspur. Neben der DNA des Angegriffenen und einer weiteren Person, fand sich auch ein unvollständiges Muster, das Übereinstimmung mit der DNA der angeklagten Lina aufweist. DNA-Spuren, vor allem Mischspuren, sind jedoch bezüglich ihrer Aussagekraft heftig umstritten. Entsprechend stellte die Verteidigung zu diesem Komplex einen umfangreichen Beweisantrag.

Nun wurde klar, die DNA-Spur wird vom Senat nicht als Beteiligungsnachweis von Lina an dem Angriff auf Böhm angesehen. Stattdessen, das machte der Vorsitzende in einer im Prozess bisher ungekannten Offenheit klar, geht der Senat davon aus, dass die Spur bei einer Vorbereitungshandlung gelegt worden sei. Angesichts des, auf einem Dachboden gefundenen, Depots mit angelegten Tatmitteln könne daraus aber keine unmittelbare Vorbereitungshandlung durch die Angeklagte abgeleitet werden. Die Vereinigung habe wohl ganz allgemein Material beschafft und so gelagert, dass diverse Personen dazu Zutritt hatten. In jedem Fall ist damit bestätigt, dass es für den Angriff auf den NPD-Stadtrat Enrico Böhm keine zwingenden Beweise gibt, die eine Beteiligung der am OLG Angeklagten Lina E. belegen würden.

Mit dem Alibi, das die Verteidigung eines Beschuldigten aus den Ermittlungsergebnissen der Behörden selbst heraus gearbeitet hatte, ist das die zweite Niederlage für die GBA und die Soko Linx.

Linke Bewegung ringt um Umgang

Die Causa Domhöver ist für Solidaritäts- und Antifagruppen eine Herausforderung. Zunächst einmal sind da die Fälle sexualisierter Gewalt, die von einer Betroffenen und ihrem Umfeld öffentlich gemacht wurden. In dem Schreiben dazu wurde aber auch den Freund:innen und politischen Gefährt:innen Domhövers vorgeworfen, ihn geschützt und seine Gewalt verharmlost zu haben. Immerhin hat sich das Solidaritätsbündnis klar zu den Vorwürfen positioniert und ihm, noch bevor er bei der Polizei aussagte, die Unterstützung entzogen.  Zudem wurde gegen Domhöver  auch durch die Polizei bis Mai 2022 wegen mindestens einer Vergewaltigung ermittelt.

Dennoch konstatierte die Zeitung Analyse & Kritik, dass es ein Ungleichgewicht zwischen der Thematisierung von Verrat und Vergewaltigung gäbe. Auf der linken Plattform de.indymedia.org tauchten mehrfach Texte auf, die als Urheber:innen des Outcalls im Oktober 2021 den Verfassungsschutz oder andere politische Gegner:innen vermuteten. Egal wie nützlich den Ermittlungsbehörden das Isolationsgefühl Domhövers nach dem Outcall gewesen ist, bewirken derlei Mutmaßungen doch immer, die Opfer von sexualisierter Gewalt zum Schweigen zu bringen. Solchen Veröffentlichungen folgten andere Texte, die sich klar auf der Seite der Betroffenen positionierten. Der Fehler sei schon im Vorfeld geschehen. Einigen seiner Genoss:innen hätten von den Vergewaltigungsvorwürfen gewusst, aber nicht reagiert. Ein Teil dieses ehemaligen Umfeldes meldete sich im September zu Wort. In ihrem Text konstatieren sie geschehenes Fehlverhalten und werfen Fragen auf, was sie als Freund:innen und Genoss:innen von Domhöver falsch gemacht haben.

Nach den Aussagen von drei der vier Angeklagten vor dem OLG rückte nun der Fokus eher auf die politische Gestaltung der Verteidigung. In einem offenen Brief an das Solidaritätsbündnis äußerten Unbekannte ihre Sorge, dass die politische Dimension des Prozesses in den Hintergrund treten könne. Von dem Zeugen der GBA komme zur Motivation für antifaschistische Praxis „allenfalls dummes Zeug“. Wenn darauf nicht vor Ort, im Gerichtssaal, eine politische Antwort folgen würde, bliebe am Ende vom Verfahren nicht viel übrig. Die Beschädigung linker Politik sei dann umso nachhaltiger. Der politische Gefangene, Thomas Meyer-Falk, fragte in ähnlicher Weise in einem Kommentar, „ob damit nicht nur letztlich dem Kronzeugen das Feld überlassen wird?“