Pogromnacht der Nazis: Das Schicksal des verfolgten Leipziger Homosexuellen Werner Kähler

Das Datum 9. November ist nicht nur mit dem Fall der Mauer im Jahr 1989 verbunden, sondern auch mit der Reichspogromnacht 1938, in der die Nazis jüdische Geschäfte und Synagogen in Brand setzten, in der sie prügelten und mordeten. Zu den Verfolgten gehörten auch Homosexuelle. Unter ihnen: der Leipziger Werner Kähler.

Der 20. Juni 1940 war ein Samstag, laut Wetterarchiv ein warmer Tag mit einem milden Abend. Werner Kähler saß mit seinem Freund Erhard Hartmann im Leipziger Burgkeller, als sich plötzlich Mitglieder der Geheimen Staatspolizei vor ihnen aufbauten. Die Festnahme bei der laut Akte „unauffälligen Razzia“ war nicht der erste Konflikt Werner Kählers mit der Staatsmacht, doch sie läutete einen jahrelangen Kampf ums Überleben ein. Sein Schicksal steht für das von Zigtausenden, die Opfer des Nationalsozialismus wurden und an die auf Stolpersteinen erinnert wird. Auch am 9. November 2022, dem 84. Jahrestag der Pogromnacht, wird ihrer gedacht. In Leipzig und anderswo.

Der Stein für Werner Kähler wurde Ende November 2019 vor der Sporthalle in der Brüderstraße eingelassen, die damals Turnerstraße hieß und wo der junge Mann wohnte. Der gelernte Kristallschleifer war homosexuell – und gehörte damit zu einer Gruppe Verfolgter, „die leider bei erinnerungskulturellen Produkten im öffentlichen Raum quantitativ noch unterrepräsentiert ist“, wie Henry Lewkowitz sagt. Er ist Geschäftsführer des Vereins Erich-Zeigner-Haus, der in Projekten mit Schulklassen Biografien von Opfern des Nazi-Regimes erforscht.

Bei ihrer Recherche zu Werner Kähler entdeckten Schülerinnen und Schüler des Anton-Philipp-Reclam-Gymnasiums im Staatsarchiv mehrere Polizeiakten. Darin ist unter anderem von „Abnormalität“ als Verhaftungsgrund die Rede. In einem anderen Papier geht es um „widernatürliche Unzucht unter Männern“. Als Grundlage für die Verurteilungen diente die von den Nazis am 1. September 1935 durchgesetzte Verschärfung des Paragraphen 175, der gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte.

Werner Richard Kähler wurde am 18. November 1912 geboren und führte bis zu seinem 21. Lebensjahr ein unauffälliges Leben. Am 13. September 1935 verurteilte ihn ein Gericht wegen seiner sexuellen Neigung zu fünf Monaten Haft. Trotz seiner Entlassung im Dezember 1935 kam er im Jahr darauf in polizeiliche „Vorbeugehaft“ und 1937 ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel bei Hamburg.

Nach seiner Entlassung drei Monate später verließ Werner Kähler die Hansestadt, am 27. November 1937 zog er nach Leipzig. Bei einem Job in der Kieselgrube Breloh in Munster lernte er Erhard Hartmann kennen, der noch im selben Jahr zu ihm in die sächsische Messestadt zog. Kurz darauf wurde Werner Kählers Freund zum Kriegseinsatz am Westwall in Frankreich dienstverpflichtet. Als die beiden am 22. Juni 1940 verhaftet wurden, weilte Erhard Hartmann gerade zum Kurzurlaub in Leipzig.

Nach Werner Kählers Geständnis, in intimem sexuellen Kontakt mit Erhard Hartmann gewesen zu sein, kam er in Untersuchungshaft und wurde angeklagt. Das Landgericht verurteilte ihn zu einem Jahr Gefängnis und drei Monaten Untersuchungshaft. Von Oktober 1940 bis Ende Juni 1941 saß er seine Haft im Zuchthaus Bautzen ab, wurde danach der Gestapo Leipzig zugeführt.

In den folgenden vier Jahren überlebte Werner Kähler die Torturen in den Konzentrationslagern Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen – bis zur Befreiung durch Einheiten der sowjetischen und polnischen Armee am 22. April 1945. Die psychischen und physischen Folgen begleiteten ihn ein Leben lang. Er starb 75-jährig am 24. Oktober 1987 in seiner Geburtsstadt Hamburg. Was mit Erhard Hartmann geschah, ist nicht bekannt.

Mahnwachen und Steine-Putzen

Die Recherche der elf Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 10 des Reclam-Gymnasium begann im Frühjahr 2019. In mehreren Aktionen sammelten sie Spenden zur Finanzierung des Stolpersteins. Das Projekt zu Werner Kähler war das erste, das sich der Verfolgung unter dem „Rosa Winkel“ widmete – der Kennzeichnung von homosexuellen KZ-Häftlingen in Form von Stoffaufnähern. Am Mittwoch ruft das Zeigner-Haus zu Mahnwachen und zum Putzen von Stolpersteinen auf.

Die offizielle Veranstaltung ist einmal mehr an den Stolpersteinen für die jüdische Familie Frankenthal am Dittrichring 13 geplant – eine weitere von unzähligen Schicksalsgeschichten von Nazi-Opfern, die an diesem Mittwoch ab 17 Uhr der ehemalige Thomaspfarrer Christian Wolff vorlesen wird. Auch der frühere Stadtpräsident Friedrich Magirius und Kulturamtsleiterin Anja Jackes werden sprechen.