Rechte Montagsdemonstrationen (2): Der Überfall am 26. September 2022

Gegen 20:15 Uhr ist der Demonstrationszug am 26. September 2022 um Anmelderin Annette H. wieder auf dem Augustusplatz auf der Gewandhausseite eingetroffen. Während die letzten Redebeiträge unter anderem von einer Frau laufen, die betont, dass die USA an allen Vorgängen in der Ukraine neben den Ukrainern selbst schuld seien, lösen sich die ersten Gruppen aus der Demonstration, verlassen meist links und rechts entlang des Gewandhauses den Platz.

Die Einsatzkräfte der Polizei sind unterdessen sichtbar damit beschäftigt, sich um den noch etwa 30 Personen starken Gegenprotest zu kümmern, immer mehr Beamte kehren der noch laufenden Demonstration am Mendebrunnen den Rücken, um sich auf die andere, die Opernseite des Platzes zu konzentrieren.

Während hier bis zu zehn Einsatzwagen der Polizei auffahren, ist gegen 20:30 Uhr die Kundgebung an der Gewandhausseite nahezu frei von Polizei. Auch Journalisten sind hier keine mehr zu sehen, als die letzten zwei Beamten auf Motorrädern und ein Einsatzwagen das Feld räumen, ziehen sich auch die LZ-Reporter zurück.

Nur wenige, darunter ein paar vom antifaschistischen Gegenprotest, bekommen deshalb mit, was jetzt geschieht – die Polizei muss im Nachgang eingestehen, dass sie mal wieder zum Tathergang trotz der Nähe zur noch laufenden Kundgebung keinerlei eigene Beobachtungen gemacht hat.

„Wollt ihr Stress“, fragt ein in schwarz gekleideter Mann eine Gruppe offensichtlich vom Gegenprotest kommender junger Mädchen und Jungs, die zu dieser Zeit an der Haltestelle am „Radisson“-Hotel stehen. Für diese Frage an die 14- bis 20-Jährigen ist er nach Zeugenaussagen gegenüber LZ die wenigen Schritte vom Augustusplatz rübergekommen, dicht hinter ihm folgt eine Gruppe Männer und überquert den Georgiring in ihre Richtung.

Ohne die Antwort abzuwarten, schlägt der erste Angreifer zu, die nach Zeugenschätzung fünf weiteren Männer rücken schnell auf, prügeln ebenfalls auf die Jugendlichen ein. Vier von ihnen werden ernsthaft verletzt, drei liegen danach teils regungslos im Gleisbett. Zwei Jugendliche haben so schwere Verletzungen, dass sie später zur ambulanten Behandlung ins Krankenhaus gebracht werden müssen.

Es werden Zähne zerschlagen, bei einer jungen Frau von unter 18 Jahren besteht anfangs der Verdacht einer Wirbelfraktur, vom Gesicht eines jungen Mannes läuft das Blut bis auf die Jacke, ein Handy wird gestohlen.

Mit dem Knie im Rücken

Die Polizeibeamten kommen für eine Demonstrationslage deutlich zu spät. Als sie von ihrem falsch gewählten Standort auf der weiter weg gelegenen Seite des Augustusplatzes aus über den Ring rennen, ist von den Angreifern keine Spur mehr zu sehen. Sie sind längst in die Gegenrichtung über die Goldschmidtstraße geflohen, wie Zeugenaussagen und das später in dieser Gegend in einem Müllcontainer geortete, offenbar auf der Flucht weggeworfene Handy einer Geschädigten belegen.

Finden werden es später Helfer der Angegriffenen, die Polizei hat beim Eintreffen am Tatort erst einmal große Probleme, die Lage überhaupt einzuschätzen. Und greifen einen jungen Mann auf, der sich kurz darauf als hinzugeeilter Helfer erweisen wird, aber beim Eintreffen der Beamten die Flucht ergreift. Eine sofortige Nahortfahndung nach den Tätern hingegen findet offenbar nicht statt, zu lange befassen sich die Beamten mit den Opfern, teils so, als hätten sie Tatverdächtige vor sich.

Dabei drückt ein Beamter beim Eintreffen umgehend sein Knie einem bereits verletzt am Boden liegenden jungen Mann in den Rücken, andere reißen nach einer kurzen Ansprache eines weiteren Beamten eine halb besinnungslose junge Frau nach oben auf die Beine, man hört Schmerzensschreie. Da bei ihr später der Verdacht auf einen Wirbelbruch besteht, hätte dies bereits der Weg in die Querschnittslähmung sein können.

In drei Fällen am Boden liegender Menschen leisten die Beamten keine Erste Hilfe, während eine weitere Person sichtlich verstört in der Ecke des Haltestellenhäuschens hockt. Kurz darauf eröffnen sie den Anwesenden, Indizien dafür gefunden zu haben, dass es sich um „gegenseitige Körperverletzungen“ zwischen zwei verfeindeten Parteien handeln könnte.

Die Familien der Geschädigten haben mittlerweile Rechtsanwälte eingeschaltet, die Sache könnte also noch ein Nachspiel haben.

Den Ermittlungsansatz eines angeblich gegenseitigen Angriffs wird am Dienstag auch die Pressestelle der Polizei auf LZ-Nachfrage bestätigen und einräumen müssen, auf die Aussagen der Einsatzbeamten angewiesen zu sein. Mehrfach betont Polizeisprecherin Sandra Freitag telefonisch dabei, dass gegen die Geschädigten nun doch nicht ermittelt würde, aber dennoch „Indizien vorhanden seien“, dass die Auseinandersetzung irgendwie gegenseitig war. Wie die Beamten darauf kommen, kann sie aus Ermittlungsgründen nicht sagen.

Von den umgebenden Eindrücken vor Ort, dem Zustand der Geschädigten oder ihres jugendlichen Alters hat man in der Pressestelle keine eigenen Erkenntnisse: Erneut hat niemand der Kommunikations-Beamten das Demonstrationsgeschehen selbst beobachtet.

Wenn man auf das Ende sieht …

Die Einschätzungen der Einsatzleitung an diesem 26. September 2022 kann man hingegen am entblößten Augustusplatz rings um den Mendebrunnen und der Gewandhausseite während der Schlusskundgebung ablesen. Die vorgegebene Gewaltlosigkeit nicht weniger Demonstrationsteilnehmer/-innen im Namen von „Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung“ ist weit geringer ausgeprägt, als sie während ihrer Aufmärsche unter den Augen der Beamten suggerieren wollen.

Der Anteil gewaltsuchender Demonstranten wächst, die Zahl ungeklärter rechter Übergriffe in Leipzig ebenfalls.

Wenn sich in der Lageeinschätzung und an dem Vorgehen der Polizei nicht sehr bald etwas ändert, steht unter Umständen schon ab dem 3. Oktober 2022 ein Lehrstück einer sich aufschaukelnden Gewaltspirale rings um die „Montagsdemos“ ins Haus. Unter dem Eindruck der brutalen Gewalt vom Montag, der steigenden Zahl rechtsextremer Demoteilnehmer und einer hilflosen bis zusehenden Polizei sind allein diese Woche vier verschiedene Aufrufe aus der Zivilgesellschaft, aber auch im radikaleren linken Milieu für die kommende Woche gestartet.

Hier wiederum könnte über die Zivilgesellschaft um „Leipzig nimmt Platz“ bis hin zu Thomaskirchpfarrer Christian Wolff hinaus eine Szene mobil machen, die, anders als die jugendlichen Gegendemonstranten bislang, selbst die Auseinandersetzung mit den Rechtsextremisten sucht.

Am Ende könnten Polizeibeamte am Tag der Deutschen Einheit in Leipzig zum Prellbock einer anschwellenden Brutalisierung nun auch auf der Seite des Gegenprotestes und damit auf beiden Seiten werden. Ob sie selbst durch ihren Umgang mit den zurückliegenden Demonstrationen dazu beigetragen haben, wird neben anderen Themen am heutigen 29. September 2022 Gegenstand eines Gespräches zwischen Polizeipräsidenten René Demmler und Vertretern von „Leipzig nimmt Platz“ sein, welche angesichts der Lage um einen Termin baten.

Legida 2.0 verhindern

Am kommenden Montag werden aus mehreren Himmelsrichtungen Leipzigs sogenannte Zubringerdemos erwartet, das zivilgesellschaftliche Bündnis „Leipzig nimmt Platz“ mobilisiert für 19 Uhr auf den Augustusplatz und den Leipziger Ring, während es erste Signale der „Bewegung Leipzig“ gibt, ihren mittlerweile neofaschistischen Umzug bereits 15 Uhr starten zu wollen.

Man darf als sicher gegeben annehmen, dass auch diese Zeitverlegung nach dem Überfall vom Montag nicht unbeantwortet bleiben wird. Bereits jetzt lautet der Aufruf zum Gegenprotest „Legida 2.0 verhindern“. So oder so droht das lange eher mäßige Geschehen bei den 100 bis 200 Teilnehmerinnen starken Montagsdemos weiter zu kippen. Die Lage ähnelt zunehmend den Auseinandersetzungen vor rund sieben Jahren.

Eine Zeit, in der Leipziger Polizeipräsidenten noch selbst auf der Straße waren, um einerseits den eigenen Beamten den Rücken zu stärken. Und andererseits zu signalisieren, dass Neonazis in Leipzig nicht unwidersprochen die Ängste von Menschen für ihre Umsturzfantasien und Gewaltfetische nutzen können.

https://www.l-iz.de/leben/faelle-unfaelle/2022/09/rechte-montagsdemonstrationen-2-der-ueberfall-am-26-september-2022-474254, Von Michael Freitag 29. September 2022