Möglicher Kronzeuge im Fall Lina E.: Safe-Handys, Scouting und die 30-Sekunden-Übung

In der dritten Befragung des Aussteigers Johannes D. erhielt das Gericht Einblicke in die linksradikale Leipziger Szene.

Dresden. Er habe, sagt Johannes D., sich schon immer für Politik interessiert. Angefangen bei den Römern und Griechen im Geschichtsunterricht – bis hin zur RAF und Hausbesetzern. Zwischen den beiden Letztgenannten wollte er seinen militanten Aktivismus ansiedeln. Schließlich hätten „geplante und koordinierte Aktionen“ eine hohe „Wirksamkeit“.

Eine höhere, jedenfalls, als einfach auf irgendeiner Demonstration den politischen Gegner anzugreifen. In seinem Fall: Neonazis.

Aber nun sitzt Johannes D. vor Gericht. Und er ist, wenn man so will, als Kronzeuge gegen die mutmaßliche Gruppe um die inhaftierte Leipziger Studentin Lina E. geladen. Er befindet sich im Zeugenschutzprogramm. Mit kurz geschorenen Haaren und im hellblauen Hemd sagte er am Donnerstag zum dritten Mal im Dresdner Oberlandesgericht aus. Auch gegen seine ehemaligen Freundinnen und Freunde.

Was ihm – wie schon vergangene Woche – merklich schwerfällt. Im Laufe des Tages spricht D. immer vernuschelter. Seine Freunde hatten ihn zwar schon längst verstoßen: Auf der linken Plattform Indymedia warf ihm seine Ex-Freundin mehrfache Vergewaltigung vor. Man machte sein Foto, seinen vollen Namen öffentlich.
Richter zum Kronzeugen: „Das ist ein bisschen schade“

Doch jetzt, durch seine Kooperation mit der Polizei, bricht D. in Dresden endgültig mit Lina E. und den anderen. Und die reagieren darauf – wütend. Auf einer Backsteinwand in einem Antifa-Video steht ein Graffiti: 9mm für 31er. Übersetzt bedeutet das: Wer zur Aufklärung eines Falles beiträgt, verdient einen Schuss in den Kopf.

Was also tut D., um den Fall aufzuklären? Am Donnerstag so einiges. Es geht um seine Rolle in der Gruppe. Da nannte man ihn „Scout“. Man könnte auch sagen: Späher. Wenn eine rechte Demonstration in der Gegend um Leipzig stattfand, setzte sich D. in den Zug und beobachtete unauffällig, wer so alles zustieg. Zum Beispiel: szenebekannte Neonazis. Per Anruf gab er den anderen alle Infos durch.

Die Handys kaufte er in einem Geschäft in Berlin-Neukölln, das praktischerweise noch anonyme SIM-Karten im Angebot hatte. Dass deren Verkauf eigentlich längst nicht mehr erlaubt sei, klärt ihn der Richter auf. „Mir ist so eine Gesetzesänderung natürlich bekannt“, antwortet D. lächelnd. Ob es dank ihm, D., dann auch zu Angriffen gekommen sei? Die Antwort bleibt vage: zum Teil ja, zum Teil nein.

D. antwortet häufig so, wenn es um mögliche Taten unter seiner Mitwirkung geht. Einmal kommentiert der Richter das so: „Das ist ein bisschen schade.“

Training „in verschiedenen Formationen“

Was D. gern erzählt: Wer ihn als Scout engagierte. Meistens seien es Lina E. oder ihr Verlobter Johann G., der mutmaßliche Kopf der Gruppe, gewesen. Er nennt die beiden an diesem Prozesstag häufig in einem Atemzug. Damit könnte seine Aussage eine Theorie der Ermittler stützen: Dass Lina E. ebenso wie Johann G. eine hervorgehobene Rolle in der angeblichen Gruppe eingenommen haben soll.

Als sein Freund Johann G. inhaftiert war, erzählt Johannes D., kam er ihn mit Lina E. häufiger besuchen. Danach hätten sie und er häufig noch etwas in Leipzig unternommen. Ihre Beziehung habe sich „intensiviert“.

Ausführlicher wird D., wenn es um die linke Szene, insbesondere die Leipziger geht. Man habe sich regelmäßig zum Training getroffen, sagt er. Zum Beispiel in der Gießerstraße, an einer Graffiti-Wand. Oder in einer Sporthalle in der Nähe des Alfred-Kunze-Sportparks von Chemie Leipzig.

Dort habe man bestimmte Situationen und Bewegungsmuster trainiert – „in verschiedenen Formationen“. Wozu? „Um als Gruppe auf Angriffe zu reagieren oder auch Angriffe zu starten“, so D. Etwa „eine Bewegung wie ein Mob“.

Ein Raunen im Zuschauerraum

Die Trainingsintervalle hätten sich dabei immer auf eine Angriffszeit von 30 Sekunden begrenzt. „Eine Zeit, in der man hohen Schaden anrichten“, aber auch „vernünftig entkommen kann“, erklärt D. Nach Ablauf der Zeit habe eine Person ein Kommando zum Rückzug gegeben.

Gegen Ende will der Richter noch wissen, an welche Standards man sich in der linken Szene denn so halten müsse. Na ja, sagt D. „Eine gewisse Verschwiegenheit“ werde erwartet. Da geht ein Raunen durch den Zuschauerraum, in dem wieder viele sitzen, die Lina E. unterstützen.

passiert am 05.08.2022