Bürgerbahnhof Plagwitz: Ein Leipziger Viertel und der Streit um eine Brache

In Plagwitz soll eine Brache am Bürgerbahnhof bebaut werden. In den alten Wasserturm soll ein Café, daneben Ateliers. Eigentlich nicht ungewöhnlich. Doch plötzlich stemmen sich Hunderte aus dem Stadtteil gegen das Projekt. Können sie gewinnen?

Leipzig. Die Leipziger Polizei am Samstag, 7. Mai 2022, 13.26 Uhr: „Durch die Sicherheitsfirma des in Planung befindlichen Bürgerbahnhofs in Plagwitz wurde bekannt, dass sich eine Personengruppe mit einer Akkuflex Zugang zur Baustelle verschafft hatte, indem sie die Schellen der zur Absperrung Sicherung eingesetzten Bauzäune auftrennten. Es waren über 50 Zaunsfelder betroffen. (…) Ein vor Ort aufgefundenes Plakat lässt auf eine politisch motivierte Tat schließen. Die Ermittlungen zum Tatgeschehen wurden aufgenommen.“
Jona Holm, Paula Tröger und Maria Kantag stehen an dem Ort, über den ihr ganzer Stadtteil redet. Diese Brache, diese Fläche, dieses – ja was eigentlich? Eine Mischung aus Wiese und zubetonierter Fläche. Bislang wurde über diesen kleinen Zipfel Plagwitz vor allem geredet. Ja, auch wütend. Die drei waren es, die das Gespräch lostraten. Aber, dass jemand hier nachts den Bauzaun abflexen würde? Wird dieser Kampf jetzt plötzlich härter geführt? „Man bekommt hier leider etwas das Gefühl, dass die Stadt mit Absicht uns Bürgerinnen und Bürger nicht beteiligten will“, sagt der Jurist Holm, 35. Dass nun jemand zur Akkuflex greift? Das wundere niemanden so richtig. Auf dem Plakat, das die Polizei am Tatort gefunden hat, stand: „Den Neubau sabotieren, kein Hotel am Radweg“. Die Sabotage richtete sich also gegen zwei Projekte, die Plagwitz in den nächsten Jahren verändern sollen: In Richtung S-Bahnhof saniert der Immobilienmogul Christoph Gröner ein altes Hochhaus, dort soll ein Hotel rein. Auf die Brache soll der Neubau: Büros, Wohnungen, Ateliers, ein Café.
Aber um das Projekt ist ein Streit ausgebrochen. Nicht die normale, gewöhnliche Empörung eines Stadtviertels, nein: Nahezu Tausend Viertelbewohnerinnen und -bewohner meldeten sich bei ihrer Stadt mit Ideen. Sie treffen sich regelmäßig, um sich über die Zukunft der Brache zu beraten. Und nun flexen sie sogar die Bauzäune auf. Und das alles nur wegen einer Brache? Spricht man mit Holm, Tröger und Kantag, die alle seit rund zehn Jahren im Leipziger Westen leben, dann bekommt man das Gefühl: Den Menschen geht es hier um nicht weniger als die Zukunft ihrer Stadt. „Ich mache hier Spaziergänge, das ist als Freifläche einfach typisch Leipzig“, sagt die Einzelhändlerin Tröger, 33. „Mir wäre wichtig, dass der Platz allen zugute kommt – und nicht privatisiert und abgeschottet wird“, sagt die Lehrerin Kantag.
Um zu verstehen, was der Streit um den Bürgerbahnhof Plagwitz bedeutet, muss man ein Jahrzehnt zurückschauen. Damals verkaufte die Deutsche Bahn das Gelände – allerdings nicht an die Stadt, die verzichtete. Den Zuschlag erhielt ein Investor, für 346. 000 Euro. Rückblickend: ein Spottpreis. Aber man kann den Standpunkt der Stadt von damals auch verstehen. Leipzig war um 100.000 Einwohner geschrumpft. Wer hätte ahnen können, dass sie bald wieder derartig wächst? Dass eine Brache wertvoll werden könnte – und nicht eine Last? Der Streit um die Brache ist daher auch die Folge einer Politik, die nicht wusste, was einmal aus Leipzig wird. Heute, im Jahr 2022, hat der Eigentümer des Geländes, die LEWO, nun Pläne gemacht. Büros und Wohnungen sollen hier hin, davon sogar die Hälfte Sozialwohnungen. Also freiwillig mehr als das normalerweise notwendige Drittel. In die denkmalgeschützten Gebäude auf dem Komplex – einen alten Wasserturm und ein altes Bahngebäude – sollen Ateliers und ein Café. Auf einer 3D-animierten Darstellung sieht man schon das hypermoderne, idyllische Plagwitzer Leben aufblühen, wie es sich der Investor vorstellt, zwischen E-Autos und Lastenfahrrädern. Anfang des Jahres sollte es dann losgehen. Bauarbeiter rodeten die ersten Sträucher auf dem Gelände, rissen einige bungalowartigen Gebäude ab. Zur Verwunderung der Anwohnerinnen. Und etwa dem Jurist Jona Holm. Er rief bei der Stadt an, man berichtete ihm von einem Bebauungsplan. Er fragte sich: Haben wir nicht auch ein Recht, da mitzureden? Zusammen mit seinen entfernten Nachbarinnen Kantag und Tröger gründete er eine Bürgerinitiative – und eine Telegram-Gruppe, in der sich über den Bürgerbahnhof ausgetauscht werden soll. Inzwischen sind mehr als 500 Personen Mitglied. In der Gruppe wird beinahe täglich rege diskutiert. Wer beantragt Einsicht in Kaufverträge? Wer findet heraus, was hier gebaut werden darf? Holm wollte genau das: Dass sich sein Stadtteil organisiert. „Ich möchte, dass die Stadt den Bürgerinnen und Bürgern gehört – und nicht den Investoren“, sagt er.
Die Stadt verfügt über ein Instrument, um ihre Bewohnerinnen einzubeziehen: Ein Bürgerbeteiligungsverfahren. Zum Bürgerbahnhof meldeten sich so viele wie nie zuvor: Mehr als 900 reichten ihre Vorschläge ein (normalerweise sind es zwischen 10 und 20). Und der Investor, die LEWO, versuchte, den Leuten entgegenzukommen: Sie schickte ihren Projektentwickler André Jaschke zur Klärung vor. Jaschke, ein Ur-Leipziger, ist ein erfahrener Vermittler. Er hat schon am Eutritzscher Freiladebahnhof als Zwischenhändler gewirkt, besänftigte dort Anwohner. Das Projekt in Plagwitz passe zum ihm, sagt er. Als Kind, erzählt Jaschke, sei er schon durch die alten Bahnhofs­gebäude gestromert. Er kenne diesen Ort, die Menschen. Aber in letzter Zeit komme ihm etwas anders vor. „Es gibt immer Leute, die gegen alles sind“, sagt er. „Zur Zeit merken wir zunehmend, dass Bürger bei Bauprojekten mitreden wollen, aber in der Intensität wie in Plagwitz habe ich das noch nicht erlebt.“ Jaschkes Plan: Er wolle „im Gespräch mit den Leuten vor Ort“ bleiben, er wolle die verschiedenen Projekte des Bahnhofs „berücksichtigen und respektieren“. In den nächsten Entwicklungsphasen wolle er die Wünsche der Anwohnerinnen mit einbeziehen. Gelingt das? Die Lehrerin Maria Kantag war dabei, als sich André Jaschke zum ersten Mal bei der Bürgerinitiative vorstellte. „Das Treffen mit dem LEWO-Vertreter hat mir wenig Hoffnung gemacht“, sagt sie. Denn ihr gehe es zwar auch, aber nicht in erster Linie um den Anteil an Sozialwohnungen oder begrünten Dächern. Oder um schöne Ateliers und Cafés. Sie könne sich, sagt Kantag, hier eher einen Wald vorstellen, eine „unversiegelte und bewachsene Fläche“. Das würden sich die meisten in ihrem Viertel wünschen. „Bäume schützen vor Überhitzung in der Stadt“, sagt sie. Auch die Einzelhändlerin Tröger sieht das so. „Die Vorstellung, dass hier plötzlich drei Stockwerke stehen, finde ich total beklemmend“, sagt sie. „An der Resonanz im Viertel zu dem Thema habe ich gemerkt, dass es nicht nur mir so geht.“ Man kann den Projektentwickler Jaschke fragen, was er davon hält. Er schüttelt den Kopf. „Manche Menschen wollen mitten in der Stadt wohnen – und trotzdem einen Wald direkt vor der Tür haben“, sagt er. „Das kann aber nicht immer alles gegeben sein.“ Wer soll nun noch vermitteln? Vielleicht das Stadtplanungsamt. Man überlege, heißt es dort, „wie in diesem Bereich der Planungsprozess nochmals aufgenommen werden kann“.
Der Jurist Holm hat eine andere Idee. „Die Stadt könnte die Fläche dem Investor wieder abkaufen und einen Park draus machen“, sagt er. Am 12. April bekam das Bauprojekt eine neue Wendung. Das Amt für Umweltschutz verhängte einen Baustopp für die Brache. Auf dem Gelände, hieß es, würden möglicherweise Zauneidechsen brüten. Die Information habe man den sozialen Medien entnommen. Tatsächlich findet sich in der Telegram-Gruppe der Bürgerinitiative ein solcher Hinweis. „Habt ihr schon den NABU mit ins Boot geholt? Vielleicht gibt es ja Zauneidechsen oder Vögel bedrohter Arten auf dem Gelände…“, schrieb eine Nutzerin. „Die Zauneidechsen sind gar nicht so selten“, antwortete ein anderer. Nun soll in einem neuen Gutachten gezeigt werden, ob es die Tiere auf der Brache wirklich gibt. Jaschke ist sicher, dass man keine finden wird. Aber viele, die hier wohnen, glauben sehr wohl daran. Vielleicht wird man sich nicht mal darin in Plagwitz einig sein.
Von Josa Mania-Schlegel