Ultras Chemie Leipzig – oder – Täter(schützer*innen) mit Sexismus-Bewusstsein
Wir sind eine Gruppe, die zu einem Fall sexualisierter Gewalt arbeitet. Wir schreiben diesen Text, um unsere Erfahrungen mit Täterschaft und Täterschutz durch Mitglieder der Ultraszene von Chemie Leipzig zu teilen. Wir wollen damit Öffentlichkeit über den patriarchalen Ist-Zustand der landläufig als Links bezeichneten Fanszene herstellen, Sensibilität und Gespräche inner- und außerhalb dieser anstoßen und unsere Verbundenheit mit anderen Betroffenen ausdrücken.
Vorab: Verantwortung zu übernehmen, wenn Menschen sexualisierte Gewalt erlebt oder ausgeübt haben, kann unterschiedliche Formen haben. Das Wichtigste ist immer der Schutz von und die Solidarität mit Betroffenen. In diesem Sinne teilen wir hier auch keine detaillierten Informationen. Wer diesen Text trotzdem zum Ausgangspunkt macht, um Mutmaßungen über unsere Gruppe anzustellen oder nach _dem einen Täter_ auf dem Norddamm zu suchen, statt sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen, hat nichts verstanden.
**1. Was ist passiert?**
Um es kurz zu machen: Ein Mitglied der Fanszene hat sexualisierte Gewalt ausgeübt. Kurz danach wurden Forderungen an ihn formuliert, gegen die er mehrfach verstoßen hat. Menschen aus dem Täterumfeld wendeten sich von der Betroffenen ab, diese zog sich gezwungenermaßen aus dem Stadion und verschiedenen alltäglichen Orten ihrer Nachbarschaft zurück. Danach kam lange nichts. Als wir irgendwann eine Täter**support**gruppe (Selbstbezeichnung) erreicht haben, wurde deutlich: Sie steht mit ihm im Stadion und betreibt mehr Schutz und emotionales Auffangen des Täters als ihn in einer ernstzunehmenden Auseinandersetzung mit dem Übergriff zu unterstützen und dazu zu motivieren. Der Täter gibt an, sein übergriffiges Verhalten in Ultra-Kreisen transparent gemacht zu haben. Auf uns zugekommen, um z.B. eine Betroffenenperspektive einzuholen, ist niemand.
**2. Ist das ein Einzelfall?**
Natürlich nicht. Wie jede andere Fußball-Fanszene, ist auch die von Chemie Leipzig von patriarchaler Männlichkeit durchzogen. Es geht um Ehre, Stärke und Gewalt gegen den ausgemachten Gegner, die normalisiert, gefördert und belohnt werden. Teil dieser Männlichkeit ist immer auch der Besitzanspruch auf den weiblichen Körper, über den die eigenen sexuellen Bedürfnisse ggf. auch gewaltsam durchgesetzt werden und der Corps-Geist, der vorsieht seine Freunde gegenüber Angreifern (also im Zweifel auch ggü. Betroffenen) zu schützen. Dieser Männerbund schützt, indem Betroffene und ihre Unterstützer*innen durch die reale Macht dessen eingeschüchtert und ohnmächtig gemacht werden. Es wird auf interne Umgänge verwiesen, bei denen völlig unklar ist, was diese sein sollen. Wahrscheinlich bemessen sich diese auch vor allem an Hand der Position innerhalb der Szene-Hierarchie. Wer viel zu melden hat, muss nichts befürchten, andere fliegen, um sich Ärger zu ersparen. In beiden Fällen kommt es nicht zu einer ernstzunehmenden Auseinandersetzung damit, wie die eigenen Strukturen patriarchale Gewalt reproduzieren. Betroffenen bleibt nur die erzwungene Konfrontation oder der Rückzug und Täter bewegen sich weiterhin sorglos in der Kurve. Trotzdem schaffen es solche männerdominierten Gruppen, egal ob Fußball- oder Antifakontext, sich ein linkes Image zu verpassen, obwohl sie emanzipatorischen Ansprüchen, wie hier im Umgang mit patriarchalem Verhalten, offensichtlich gar nicht gerecht werden.
**3. Welche Auswirkungen hat so ein Verhalten?**
Wir haben verschiedene Emotionen gefühlt. Da ist Wut, Traurigkeit, Ekel. Ein Gefühl krasser Fassungslosigkeit, wie sehr der Betroffenen ihre Perspektive abgesprochen wird. Unverständnis, wenn Forderungen, die der betroffenen Person ein Gefühl der Handlungsfähigkeit und Normalität ermöglichen sollen, als Bestrafung diffamiert werden. Da ist ein diffuses Verantwortungsgefühl dafür, dass sich das Geschehene nicht wiederholt und die Resignation, wenn man feststellt, dass man das nicht in der Hand hat. Da ist Kampfgeist gegen diese patriarchalen Strukturen, der aber auch immer wieder überschattet wird von Ohnmacht und Ratlosigkeit, wenn es nicht mal das Interesse gibt, die Täter-Perspektive zu hinterfragen und abzugleichen. Da ist ein großes Ungerechtigkeitsgefühl, wenn die Betroffene – wenn überhaupt – nur noch mit Unterstützung ins Stadion und an Orte im Kiez gehen kann und jedes Mal die Gefahr eingeht, in die Nähe des Täters zu gelangen, während es sich dieser am Stammplatz im Stadion oder in der Kneipe gemütlich macht und sein Umfeld das weiß und mitträgt.
**4. Ein pessimistischer Ausblick**
Wir haben während dieses mehrjährigen Prozesses so viele Enttäuschungen erlebt, dass wir es leid sind, Erwartungen und Forderungen zu stellen, die konsequenzlos bleiben. Wir erhoffen uns daher einerseits Austausch über diesen Zustand und die eigene Verantwortung, die alle je nach Eingebundenheit und Position darin haben (weshalb wir auch die öffentliche Form dieses Textes gewählt haben) und, dass dieser Text Fragen aufwirft: Was kann ich tun, um sexualisierte Gewalt durch mich und meine Kumpels zu verhindern? Was kann ich tun, um patriarchale Strukturen abzubauen? Wenn Gewalt ausgeübt wird (oho, Überraschung – mal wieder): Wie können ich und mein Umfeld damit nachhaltig umgehen, ohne den Schmerz der Betroffenen zu vergrößern? Wir wünschen uns andererseits, dass sich andere Betroffene durch unseren Text gesehen fühlen und wissen, dass sie nicht allein sind, sondern es Menschen gibt, die mit ihnen solidarisch sind. Wir hoffen, dass die Stimmen, die jene Gewalt nicht unkommentiert lassen, lauter werden und alle, die sich in diesem Text angesprochen gefühlt haben, mit ihrem Verhalten nicht weiter folgenlos davonkommen. Wir hoffen, dass es weiter Menschen gibt, die Veränderungen an den patriarchalen und täterschützenden Strukturen der Kurve anschieben und sich von der Gegenwehr des Männerbundes nicht entmutigen lassen.