Das Geschäft mit den Anmachsprüchen „Bist du so zickig, wie du aussiehst?“ – Pick-Up-Artists werden für Leipzigerinnen zum Problem

Immer wieder berichten Frauen: Sie werden in der Leipziger Innenstadt angeflirtet, angemacht, bedrängt. Die LVZ hat sich bei Betroffenen und in der Szene selbsternannter Verführungskünstler umgehört – und erfahren: Hinter den ungeschickten Avancen steckt ein lukratives Geschäft.

Sara hat es am Leipziger Hauptbahnhof erlebt. Ein junger Mann kam auf sie zu. „Ich wusste gar nicht, was der will“, sagt sie. Der Mann habe rumgedruckst. „Du stehst hier irgendwie so cool mit deiner Sonnenbrille rum – würdest du mal mit mir einen Kaffee trinken wollen?“

Sie hätten, sagt Sara, nicht wirklich ein Gespräch geführt. Eher habe der Mann lauter Floskeln abgespult. „Ich habe mich nicht belästigt gefühlt“, sagt sie.

Clara erlebte es anders, in den „Höfen am Brühl“. Es ging unscheinbar los. „Hey, darf ich Dich mal was fragen“, stellte sich ein fremder Mann vor. Und fragte: „Würde es Dich stören, wenn Dein Partner noch Fotos seiner Ex am Kühlschrank hat?“ Dann habe er sie schon nach einem Kaffee-Date gefragt.

Als sie verneinte, hakte er nach: „Bist Du sicher? Du könntest echt was verpassen.“ Als „unangenehm“ beschreibt Clara die Begegnung gegenüber LVZ.

Immer wieder berichten Leipzigerinnen auf sozialen Medien und im Freundeskreis davon, dass sie in der Innenstadt angesprochen werden. Nicht empathisch und zugewandt, sondern von abgeklärten „Pick-Up-Artists“ – die sich manchmal auch bedrängen.
Die selbsternannten Verführungskünstler sehen Frauen in der Fußgängerzone als ihre Testobjekte – und bezeichnen etwa die Karl-Liebknecht-Straße in einem öffentlichen Forum als „Traummeile“, auf der sich Flirt-Taktiken perfektionieren lassen.

Zwei Männer: Lehrer und Schüler

Die Leipziger Volkszeitung hat mit einem Dutzend Leipzigerinnen gesprochen, die innerhalb der letzten Jahre offenbar in Berührung mit Pick-Up-Artists – und Teilnehmern von Flirtkursen kamen. Manche dieser Frauen sagen: Es passiert immer häufiger. Und hinter den Sprüchen steckt auch ein lukratives Geschäft.

Die Leipziger Jurastudentin Catharina erlebte es in diesem Sommer täglich, dass Männer sie ansprachen – und nahm ein Tiktok-Video dazu auf. Wie könne es sein, fragt sie da, dass sie jeden Tag in der Innenstadt mindestens zwei Männer ansprechen? „Was steckt dahinter?“, fragt sie.

Am Petersbogen wurde auch die LVZ Zeuge solcher Ansprechversuche. Die Männer agierten dabei im Duo, in einer Art Lehrer-Schüler-Konstellation: Nachdem der eine immer wieder scheinbar wahllos Passantinnen angesprochen hatte, zogen sich beide immer wieder zur Beratung zurück. Ein Gespräch mit der Zeitung lehnten sie ab.

Jura-Studentin Catharina sagt: Die Männer gingen immer gleich vor. Erst würden sie ihr Komplimente machen. Dann würden sie sagen, dass sie neu in der Stadt seien. Und dann fragen, ob man nicht gemeinsam die Stadt erkunden wolle.

„Es gibt nichts zu holen bei mir“, sagt Catharina in dem Video. „Ich habe einen Freund.“ Und fragt: „Gibt es das schon immer?“

„Dann lauf’ ich immer extra schneller“

In der Kommentarspalte ihres Videos bekam sie eine Antwort darauf. „Einer hat mich in Leipzig in der Innenstadt schon dreimal angesprochen“, schreibt die Leipzigerin Tessa. „Und es war dreimal derselbe.“ Eine andere schreibt, sie würde die Männer inzwischen schon von Weitem erkennen. „Dann lauf’ ich immer extra schneller.“

„Wie organisiert das Ganze abläuft, wusste ich vor meinem Video tatsächlich selbst noch nicht“, sagt Catharina der LVZ.

Auch die Leipziger Influencerin Marie-Christin Schneeweiß vermutet ein System hinter den Anmachsprüchen. „Bist Du auch so zickig, wie Du aussiehst?“ So sei sie in der Leipziger Innenstadt angesprochen worden. In einem Tiktok-Video machte sie den Vorfall öffentlich und ihrem Ärger Luft. „Wir brauchen eine Petition gegen Pick-Up-Artists“, sagt sie.

Unter ihrem Video erzählten Dutzende Frauen von ähnlichen Erfahrungen in Leipzig: Männer, die einfach nicht lockerlassen. Eine berichtet, wie sie ein Mann trotz Absage in den nächsten Laden verfolgte. Die Männer seien unterwegs wie „Versicherungsvertreter“, sagt Schneeweiß, und würden bloß „Nummern sammeln“ – und „Kurse belegen“.

Männer sind oft in Gruppen unterwegs

In Onlineforen lässt sich viel über die Welt und das mitunter professionelle Vorgehen der Pick-Up-Artists erfahren. In größeren Städten Deutschlands ist die Szene lokal organisiert. Die Männer bilden dort ein „Lair“, (deutsch: Höhle, Lager) und verabreden sich zum „Gamen“: Dabei suchen sie, meist in Gruppen, bestimmte Fußgängerzonen heim, um dort gezielt Jagd auf Frauen zu machen. Sie verwenden vorbereitete Sprüche, Fragen und Taktiken, um Frauen zu überrumpeln, ihnen näherzukommen.

Wer nach einem Leipziger „Lair“ sucht, stößt auf das „Pickupforum“. Wo die besten Spots abseits des Hauptbahnhofs seien, will dort ein Nutzer wissen. Er fahre zum „Daygame“ meist nach Leipzig, antwortet einer – da hier ordentlich was los sei. Zwischen Wilhelm-Leuschner-Platz und Kurt-Eisner-Straße befinde sich eine regelrechte „Traummeile“ – ein guter Spot, um Frauen zu treffen.

Wer sind diese Männer? Die Leipziger Volkszeitung konnte mit einem sprechen, der immer wieder mit Bekannten aus dem „Pickupforum” in Leipzig unterwegs ist. Er will anonym bleiben, soll hier Tobias heißen. Der 37-jährige Ingenieur wohnt seit zwei Jahren in der Stadt. Anerkennung von Frauen, sagt er, mache „süchtig“.

Er sagt: „Wenn man sich gezielt eine raussucht und nachher auch die Bestätigung bekommt, die man haben möchte – das ist natürlich toll“.

Ist das Flirt-Spiel nicht eine Gefahr für Frauen? Er sehe das eher harmlos, sagt Tobias. Über die Fußgängerzone erweitere er einfach seine Kontakte, sagt er. Onlinedating wie auf Tinder komme für ihn nicht infrage – das gebe sein Äußeres schlicht nicht her. Außerdem sei dort „kein Beziehungsmaterial“, sagt er.

Lieber spreche er Frauen im echten Leben an. Und: Wenn es sein muss, unter einem Vorwand. Im besten Fall, sagt Tobias, bekomme das Gegenüber ja gar nicht mit, dass jemand Pick-up betreibe. „Ich bin mit meinen Intentionen vielleicht nicht ganz offen“, gibt er zu. Manipulativ finde er das nicht.

Was angeblich alle Frauen wollen

Hinter den Flirtversuchen steckt ein ganzes ideologisches Regelwerk. „Lob des Sexismus“ heißt das 20 Jahre alte Standardwerk der deutschen Szene, geschrieben vom „Verführungskünstler“ Lodovico Satana, der darin beschreibt, dass die meisten Frauen Männer begehren, die möglichst dominant auftreten: „Wenn Du bei Frauen auf Dauer erfolgreich sein möchtest, ist es unerlässlich, innerhalb der Gruppe an Rang zu gewinnen.“

Daher, so Satana, müsse man auf offener Straße Flirt-Situationen herbeiführen. Was bei ihm danach klingt, als würde man in ein Gefecht ziehen, Mann gegen Frau. „Es heißt, dass Du Deinen Arsch hochkriegst“, empfiehlt Satana in seinem Bestseller. „Es heißt, dass Du rausgehst und genau das tust, wovor Du dich am meisten fürchtest.“

Und manche Männer buchen auch „Kurse“, wie es die Influencerin Marie Schneeweiß andeutet. Die Leipziger Grafikdesignerin Luisa erlebte es live, als sie in der Innenstadt gleich dreimal in Folge angesprochen wurde.

Die Männer, erzählt die 25-Jährige der LVZ, hätten sich immer nach dem gleichen Schema vorgestellt: Sie wirke so sympathisch, ob man sich nicht kennenlernen könne. „Als dann der dritte Mann ankam, dachte ich mir wirklich: Ist das jetzt versteckte Kamera oder was?“, sagt Luisa. Die Männer hätten jegliche Verbindung untereinander abgestritten.

Daygame, Target, Close – Vokabular einer schwierigen Szene

Die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Luise Tönhardt hat in Leipzig eine ganze Masterarbeit zur Sprache und zum Gemeinschaftssinn der Pick-Up-Community geschrieben. „Die Männer verbindet das Gefühl, ein Schicksal oder Ziel zu teilen“, erklärt sie.

Hilfreich sei auch das Vokabular: Für das „daygame” sprechen die Männer ihre „targets“, ihre Ziele, tagsüber statt nachts an. Die Stufen des Erfolgs werden „close“, also Abschluss, genannt. Eine Handynummer zu ergattern, ist der „number close“. Der erste Kuss heißt „kiss close“ und der „full close“ ist noch die freundlichere von zwei Bezeichnungen für Sex.

Gezielte Eskalation als Flirt-Faktor

Die manchmal ungelenken Sprüche und gar Berührungen sollen als gezielte „escalation“ helfen, „high quality women“ rumzukriegen und „last minute resistance“ – also Gegenwehr – zu vermeiden.

Tönhardt glaubt: „Die Männer in der Gemeinschaft teilen ein Weltbild, nach dem sie in der Verantwortung seien, sich eine Frau zu suchen und da Arbeit hereinzustecken.“ Der Grund dafür: eigene Unsicherheit und eine verzweifelte Suche nach Intimität. Und manche professionellen Pick-Up-Artists machen aus dieser Verzweiflung ein Geschäft. Manchmal verdienen sie damit Tausende Euro.

Robert heißt ein 34-jähriger Leipziger, der so ein Coaching besuchte. Der LVZ erzählt er: Der Coach riet ihm, gezielt Grenzen zu überschreiten. „Der war wirklich drauf aus, die Frau noch am selben Tag ins Bett zu kriegen“, sagt er. Er brach das Coaching ab. Sein Geld bekam er nicht wieder.