Rassistischer Zwischenruf: Wie Lok Leipzig den Vorfall beim Pokalspiel gegen Schalke aufarbeitet

Wer sich – nach dem Rassismus-Vorfall im Spiel gegen Schalke – in der Fanszene des Vereins umhört, erfährt viel über Aufarbeitung, Kritik in den eigenen Reihen und einen Stadionsprecher, der gendert. Was geschah wirklich hinter Tor 1 im Bruno-Plache-Stadion? Es werden neue Hintergründe bekannt, etwa über den möglichen Täter.

Leipzig. Über Tor 1 wolle man sprechen? Steffen Kubald lacht.

Der ehemalige Präsident von Lokomotive Leipzig hat einem Telefonat sofort zugestimmt. Lok, sein Verein, dessen Spiele er heute nur noch manchmal besucht, hat eine heftige Debatte hinter sich. Auslöser war ein rassistischer Zwischenruf beim Pokalspiel gegen Schalke – und anschließende Pfiffe gegen den beleidigten Spieler.

Woher der Ruf kam? Aus dem Block, da sind sich inzwischen alle ziemlich sicher, hinter Tor 1. Ein berüchtigter Bereich im Bruno-Plache-Stadion. Was ist das für ein Block?

Durch den Telefonhörer röhrt die Kaffeemaschine. „Früher war es noch schlimmer dort“, sagt Kubald. Doch eine Zeit lang schien es, als könne Lok das Problem eindämmen. Er, Kubald, ließ damals Fangruppen verbieten – „Scenario“. Er erließ Stadionverbote. Manchmal zerstachen ihm jene, gegen die er vorging, nachts die Autoreifen.

Und heute, sagt er, brodele es wieder hinter Tor 1. „Die Leute dort werden älter“, sagt er. „Und sie werden verbissener.“

Was ist da los bei Lok Leipzig? Dem Verein, der 1993/94 im Zentralstadion als VfB für ein Jahr in der Bundesliga auflief. Dessen Fanszene dann stark nach rechts kippte, aber inzwischen als gebändigt gilt. Kubald spricht von einem „Kodex“, an den sich viele halten, auch hinter Tor 1.

Alle paar Wochen kann man sich selbst davon überzeugen. Ein Mittwoch Ende August. Lok bestreitet sein erstes Heimspiel seit dem Eklat gegen Schalke. Chemnitz ist zu Gast – und viele rechnen mit einem Sieg. Denn sportlich, das ist unübersehbar, läuft es für Lok. Letzte Saison gelang beinahe der Aufstieg in die 3. Liga.

An Tor 1 hängen an diesem Mittwoch die üblichen Banner. „Ultras Ü50“, „LOK“ auf Deutschlandfarben und „Brandis“ in Fraktur mit einem Horror-Clown. Insignien einer Fanszene, die nicht mehr die jüngste ist. Die deutschtümelnd ist. So weit nicht verboten.

„Da stehen eher die Älteren, etwas Abgehängten, die dem neuen Zeitgeist bei Lok nichts abgewinnen können“, sagt Marko Hofmann, der einige Meter entfernt von Tor 1 steht. Eigentlich klingt sein Satz ein bisschen anders, aber vor Erscheinen dieses Artikels korrigiert er ihn noch einmal leicht. Bei Lok, hat man den Eindruck, passen gerade viele auf, was sie sagen.

Hofmann ist eine Art Allzweckwaffe des Vereins. Er spielte auf Amateurlevel schon für Lok, er schrieb Bücher über den Verein, er produziert einen Podcast – den LokCast. Und heute springt er als Stadionsprecher ein.

Verglichen mit Tor 1, hinter dem sich jetzt immer mehr Männer mit verspiegelten Sonnenbrillen, Tattoos und bedruckten T-Shirts sammeln, passt Hofmann weniger ins Bild. Der Geschichtslehrer hat sich die Fingernägel blau-gelb lackiert. Und als er seine Durchsage macht, ja tatsächlich: Er gendert!

„Liebe Zuschauer*innen“, sagt Hofmann.

Hofmann erzählt, wie er als Kind Lok-Fan wurde. Und wie in den Nuller Jahren erst Rechtsradikale seinen Verein kaperten. Wie zehn Jahre später andere, modernere Fans die Kurve aufmischten. „Die schlimmsten Feindschaften“, sagt er, „hatten wir unter den eigenen Fans.“

Er erzählt auch von mutigen Vorständen wie Kubald, die Rechtsextremisten rausdrängten. Und wie es letzte Saison so schien, als sei ganz Lok endlich versöhnt. Vielleicht nicht in den Köpfen – aber zumindest schlug niemand mehr zu. Sogar der Zaun, der einst mitten durch die Lok-Kurve ging, um Schlimmeres zu verhindern, wurde abgebaut.

Und dann der Zwischenruf. Aber was ist eigentlich genau passiert? Als „Scheiß N***er“ sei er beleidigt worden, hatte der Schalker Christopher Antwi-Adjei, ein Flügelspieler mit ghanaischen Eltern, nach dem Spiel bei Sky gesagt. Er stellte Anzeige. Die Situation spielte sich, wie könnte es anders sein, direkt vor Tor 1 ab.

„Nimm die Hand, du Scheiß Ni***r“

Um Näheres zu erfahren, muss man mit jemandem sprechen, der live dabei war. Natürlich hat Tor 1 keinen Pressesprecher. Aber man kann sich umhören. Und da erfährt man Folgendes: Den Mann, der den Schalker beleidigte, habe man hier, wo viele zusammenhalten, zuvor noch nie gesehen.

Der Rufer habe auf eine Szene reagiert, in der Loks Mittelfeldmann Alexander Siebeck dem Schalker Antwi-Adjei aufhelfen wollte. Doch der schlug die Hand weg. Der Störer habe daher gerufen: „Nimm die Hand, du Scheiß Ni***r.“ Andere hätten ihn sofort ermahnt: „Halt die Schnauze!“

Bloß: Warum informierte niemand zusätzlich den Sicherheitsdienst? Man habe das abgewogen, sagt einer, der dabei war. Letztlich habe man sich dagegen entschieden – weil der Block voll war, auch mit Kindern. Hier, ein Handgemenge? Vor ganz Sky-Fußballdeutschland? Wie hätte das ausgesehen?

Ex-Lok-Boss Kubald sieht das ein wenig anders. Er wird deutlich, wenn es um die Szene an Tor 1 geht. „Die dort stehen, gehen seit Jahrzehnten zu Lok. Jeder kennt jeden. Wer will dann das Kameradenschwein sein?“, sagt er, einerseits. Aber auch: „Ich finde man muss dann mal die Arschbacken zusammenkneifen, den Ordner holen und alles bezeugen.“

Nun klingt Kubald emotional. Vielleicht, weil es hier auch ein wenig um sein Lebenswerk geht – er, der damals hart in der Kurve durchgriff. Wann immer Lok neue Schlagzeilen mit einem Eklat macht, bekommt es einen kleinen Kratzer.

Dem Lok von heute kann man kaum etwas vorwerfen. Der Verein verlegt Stolpersteine in der Stadt, macht Anti-Rassismus-Workshops und legte seinen Spielern gleich nach dem Schalke-Vorfall „Keen Bock auf Rassismus“-Leibchen zum Warmmachen raus. Der Slogan existiert schon seit Jahren und läuft im Bruno-Plache-Stadion dreimal pro Halbzeit über die Banden.

Aber reicht das? Man könnte das Lok-Geschäftsführer Toni Wachsmuth fragen, den man aber wiederum kaum fragen kann, weil er erst seit eineinhalb Jahren beim Verein ist. Die alten Zeiten kennt er nur vom Hörensagen.

Trotzdem stellt er sich vor dem Spiel gegen Chemnitz auf den Rasen vor Tor 1 und richtet sich per Lautsprecherdurchsage an alle Störer und Hetzer: „Bleibt zu Hause!“ Das Stadion applaudiert. Tor 1 eher verhalten.

Einige Tage später sitzt Wachsmuth in seinem Büro. „Der Fußball kann nicht alles lösen“, sagt er. Der Lok-Geschäftsführer spricht von Problemen, die nicht sein Verein erzeuge – sondern die Menschen in sein Stadion tragen. Lok mache schließlich niemanden zum Rassisten. Aber er könne nicht ausschließen, dass sich Leute mit rassistischen Gedanken für Lok interessieren.

Er hat völlig recht.

Und trotzdem gäbe es ja Spielraum. Bei Hansa Rostock etwa wurde nach Gewalt-Exzessen schon die berüchtigte Tribüne für ein Spiel gesperrt. Warum nicht einfach mal Tor 1 zusperren?

„Damit würde man einen ganzen Block unter Generalverdacht stellen – und viele Fans bestrafen, die sich nichts zuschulden kommen lassen“, sagt Wachsmuth. Und hier hat er wieder recht: Nicht jeder, der hinter Tor 1 steht, ist automatisch ein Problem-Fan. Hier versammeln sich auch Nostalgiker oder Abgehängte, Freunde von Freunden.

Vielleicht ist Lok also beides. Der Verein, der sich sehr bemüht. Aber der auch gelegentlich Störer und Menschenfeinde anzieht. Und der dann, wenn etwas passiert und alle wieder auf Lok zeigen, schnell beleidigt ist: Da habt ihr wieder euer Klischee!

Der sich – zu Recht – mehr Anerkennung wünscht für seine Mühen und Erfolge der letzten Jahrzehnte. Und der, schaut man sich seine Strukturen an, selbst keinen Deut Rassismus in sich trägt.

Es kommt ja auch immer darauf an, wohin man schaut. Beim ersten Spiel nach Schalke hielten die Lok-Gruppierungen „Blue Side Lok“ und „Fanszene Lok“, die inzwischen die Anhängerschaft dominieren, ein Banner hoch: „Uns verbindet Fußball, nicht die Farbe deiner Haut.“

Aus der Lok-Szene hört man jetzt, dass sich der Mann, der einen Schalke-Spieler als „Ni***r“ bezeichnete, über seinen Anwalt bei der Polizei gemeldet habe. Die Polizei erklärt auf Nachfrage, dazu keine Auskunft zu geben – es handele sich „um ein laufendes Ermittlungsverfahren“.