Das Schweigen der Männer

Das Schweigen der Männer
Am Montag, dem 02. Juni veröffentlichte Infratest eine Studie zu sexualisierter Gewalt, laut der ein Fünftel der befragten Frauen im Kindes- und Jugendalter Missbrauchserfahrungen machten. Fast jeden Tag findet in Deutschland ein Femizid statt. Die Zahlen von häuslicher Gewalt steigen, der Gewaltschutz ist chronisch unterfinanziert. Währenddessen: Die AfD im Bundestag und Landesparlamenten, die ein konservatives Rollenverständnis propagiert: die Frauen in der Küche, die Männer am längeren Hebel. Im Eigenheim solle endlich wieder Vater, Mutter, Kind gespielt werden. Die CDU in der Regierung, die den Schutz des „ungeborenen Lebens“ über das der Schwangeren stellt, ein Bundeskanzler, der vor gerade einmal 18 Jahren dagegen stimmte, dass Männer und Frauen in Ausbildung und Beruf gleich gestellt werden sollten. Und in all diesem Elend stehen wir, die Feminist*innen, die Antifaschist*innen. Und wir alle kennen sie, die Fakten, die Zahlen, die Entwicklungen und den Frust.
Und dennoch beobachten wir seit einigen Jahren, dass diese Sorgen unter unseren Genossen nicht gleichermaßen verteilt sind.
Versteht uns nicht falsch, niemand kann sich allen politischen Sphären, in denen es etwas zu ändern gibt, mit der gleichen Aufmerksamkeit und Energie widmen. Aber die Wahl zu haben, sich mit feministischen Anliegen oder, wie sie vielleicht denken, „Frauenfragen“ zu beschäftigen – oder eben nicht – ist ein Privileg, dass nur Männer haben. Und natürlich finden linke Männer den emanzipatorischen Kampf für ein schönes Leben für alle, auch für ihre Genossinnen, wichtig. Aber ihre Prioritäten liegen eben auf anderen politischen Bereichen. Und erneut appelieren wir, versteht uns nicht falsch; Wir sind froh und dankbar, dass unsere Genoss*innen sich stark machen, gegen Faschos und Staatsgewalt. Dass antifaschistiche Demos hohe Mobilisierungspotenziale haben, zumindest in städtischen Gebieten. Dieser Aktivismus sichert auch unser Überleben. Ja, kein Feminismus ohne Antifaschismus. Aber eben auch kein Antifaschismus ohne Feminismus.
Wir sind so wahnsinnig müde, unsere Genossen um ihre Solidarität anzubetteln. Wir sind es leid, euch eure Vorteile aus feministischen Errungenschaften vorzukauen.
Das ist keine Absage an gemeinsame Kämpfe, sondern ein letztes Aufbäumen, um die Dauerhaftigkeit ihrer Voraussetzung einzufordern. Wir brauchen keine bloßen Lippenkenntnisse als Reaktionen auf Forderungen und politische Care (=Erklär)arbeit.
Das zu Recht zum Meme verkommene Check your privileges, die lackierten Fingernägel und die Ansage, Frauen auch mal unrasiert zu lecken tut Herrschaftsverhältnissen keinen Abbruch. Oder, um es weniger polemisch auszudrücken: nur, weil ihr euch mal individuell mit eurer Männlichkeit auseinandergesetzt habt, um eure nervigen Genossinnen ruhig zu stellen und euch mit der eigenen Rolle in patriarchalen Verhältnissen zu befrieden, macht euch das noch lange nicht zu den Guten. Wir wollen Aktion, echte Auseinandersetzung damit, dass auch ihr, liebe Genossen, von der Unterdrückung der Frau profitiert: In der Umsorgung in gemeinsamen Haushalten, die nahezu lächerlich stereotype Aufgabenverteilung in Plenas, die Redeanteile in Diskussionen, die ständige Verfügbarkeit weiblicher Körper für eure Lust, die Normalität, mit denen ihr euren übergriffigen Freunden begegnet. Der peinliche Versuch, die eigene Männlichkeit gleichzeitig zu kritisieren und erhalten zu wollen, hat uns in eine Sackgasse getrieben.
Wenn ihr bis hier hin gelesen habt, sind in der Zeit im Schnitt zwei Frauen auf der Welt in Folge einer Komplikation in ihrer Schwangerschaft oder der Geburt gestorben. Eine Frau oder ein Mädchen in Deutschland ist währenddessen Opfer häuslicher Gewalt geworden. Wie oft ruft ihr euch sowas ins Gedächtnis? Wir als FLINTAs müssen es, zwangsläufig, vor Augen haben.
Für uns stellt sich daher die Frage nicht, ob wir am 8. März auf die Straße gehen wollen. Für uns stellt sich die Frage nicht, ob wir Eingreifen, wenn wir Zeug*innen sexueller Belästigung werden – denn wir wissen, die Nächsten könnten wir sein. Es stellt sich die Frage nicht, ob wir für Kitaplätze und Fachkräfte streiken, ob wir für flächendeckenden Gewaltschutz und seine Finanzierung kämpfen, ob wir uns im Erzgebirge FundamentalistInnen, AntifeministInnen und Faschos entgegenstellen, die unser Recht auf körperliche Selbstbestimmung abschaffen wollen. Feministischer Widerstand ist für uns seit jeher Notwendigkeit, egal zu welchen Themen wir politisch sonst noch so aktiv sind. Und so müsst ihr euch, liebe Genossen, die Frage gefallen lassen: Wieso ist das für euch anders? Wieso sehen wir euch zwar auf der Demo am ersten Mai, aber nicht auf der am 28.9.? Wisst ihr überhaupt, was für ein Kampftag das ist? Oder am 25.11.? Warum sitzt ihr im Bus nach Gera, Döbeln, Wurzen, um das Hinterland antifasistisch zu unterstützen, aber nicht im Bus zu feministischen Demos in ländlichen Gebieten?
Nein, das hier soll kein Aufruf zum Wettbewerb sein, welche Themen nun die meiste Aufmerksamkeit verdienen. Das hier ist lediglich eine Erinnerung, dass eine befreite Gesellschaft nur dann erkämpft werden kann, wenn Männer sich kontinuierlich mit ihren konkreten Rollen auseinandersetzen, wenn sie selbstkritisch bleiben und ihre eigenen Interessen zum Wohle der Emanzipation zurückstellen lernen, wenn sie bereit sind, Widersprüche und die Anstrengung der Auseinandersetzung auszuhalten.
Vielleicht sehen wir uns ja am 14.6. in Annaberg-Buchholz, wenn wir uns dem christlich-fundamentalistischen Anti-Abtreibungsmarsch entgegenstellen, der die größte antifeministische Mobilisierung in ganz Mitteldeutschland darstellt. Wir würden uns jedenfalls darüber freuen.