Der Fall Wünsche

Als vor ein paar Monaten eine Google Rezension auftauchte, die den Vorwurf übergriffigen Verhaltens seitens einer männlichen Tresenkraft der Zwille zum Inhalt hatte, wurde bei der anschließenden Frage nach dem ‚Wer‘ immer wieder der Name Wünsche genannt.
Im Laufe diverser Gespräche meldeten sich weitere Frauen zu Wort, die zum Verhalten Wünsches ähnliches und mehr zu berichten hatten.
Wir, die Unterstützer*innen nennen explizit keine Namen aus folgenden Gründen:
1. Alle Betroffenen haben Angst vor Wünsches Reaktion
2. In der Vergangenheit hat es bereits Vorwürfe zu übergriffigem / gewalttätigem Verhalten gegeben, die aber ignoriert und dementiert wurden. Betroffene wurden gecancelt und ausgegrenzt.
Wünsche objektiviert und sexualisiert Frauen. Er wird cholerisch, droht und wird handgreiflich bei Kritik und Widerwillen.
Er manipuliert Partnerinnen und soziales Umfeld, so dass sich erstere isoliert fühlen und seinen Forderungen nachgeben, besonders im Hinblick auf sexuelle Handlungen.
Im öffentlichen Raum flirtet Wünsche offensiv mit Frauen, fasst sie an und ignoriert deren Abwehrhaltung. Werden die Frauen deutlicher in ihrer Ablehnung, wird er aggressiv.
All dies sind Formen physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt, die Wünsche seit Jahren im privaten und öffentlichen Raum ausübt!
Quelle: https://de.indymedia.org/node/509255
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Ein Raunen geht durch Connewitz
CN: Der folgende Text bezieht sich auf die Taten von S.W. (im Folgenden W. genannt) – ehemaliges Barpersonal der Zwille in Leipzig Connewitz – und dem Umgang mit ihnen. TW: sexualisierte Gewalt, psychische Gewalt, emotionale Gewalt, physische Gewalt, Victim Blaming, Rape Culture, Manipulation
Ein Raunen geht durch Connewitz: Wie kann es sein, dass ein Mann, der nach außen als aufgeklärt, reflektiert und intellektuell gilt – jemand, der in einem der sozialen Epizentren Connewitz verkehrt – nun mehrfach der sexuellen Übergriffe und Gewalt gegenüber Frauen beschuldigt wird?
Diese Frage, die aktuell an W. gestellt wird, erinnert stark an die, die vor einigen Jahren an R. gestellt wurde. Auch R. war tief eingebunden in die soziale und politische Szene Connewitz. Auch damals sorgten die Vorwürfe für Erschütterung.
Doch das Raunen betrifft nicht nur die Tatvorwürfe selbst. Es betrifft auch den Umgang mit ihnen.
Denn wieder gibt es Zweifel. Wieder wird die Glaubwürdigkeit der Betroffenen hinterfragt – nicht nur aufgrund der Vorwürfe selbst, sondern auch auf Grund vermeintlichen Konsums, vermeintlicher psychischer Diagnosen oder persönlicher Eigenschaften, die als „instabil“ oder „unglaubwürdig“ eingeordnet werden. Doch wie sieht eine glaubwürdig betroffene Frau denn eigentlich aus? Wie hat sie zu sein? Wie hat sie sich zu verhalten?
Das Infragestellen der Betroffenen lässt sich als Just False Disbelief kategorisieren:
Just False Disbelief bezeichnet die verbreitete gesellschaftliche Haltung, Aussagen über sexualisierte Gewalt grundsätzlich anzuzweifeln, solange keine „objektiven Beweise“ vorliegen – obwohl solche Beweise in den meisten Fällen weder realistisch noch ohne erhebliche Eingriffe in die Privatsphäre der Betroffenen erbracht werden können.
Quelle: Deborah Tuerkheimer (2021): Credible: Why We Doubt Accusers and Protect Abusers. HarperCollins.
Es ist also ein gängiges und gesellschaftlich internalisiertes Muster die traumatisierenden Erfahrungen der Opfer in Frage zu stellen.
Doch viel schlimmer noch:
Den Opfern wird nicht nur nicht geglaubt – sie werden aktiv ausgeschlossen, ihnen wird eine Mitschuld an den Übergriffen zugeschrieben, sei es implizit oder explizit. Dieses Muster lässt sich als Victim Blaming benennen:
Victim Blaming (dt. Täter-Opfer-Umkehr) beschreibt die Tendenz, Betroffenen von Gewalt eine (Mit-)Verantwortung für das Geschehene zuzuschreiben – etwa durch die Bewertung ihres Verhaltens, ihres Aussehens, ihrer psychischen Verfassung oder ihrer Lebensweise.
Quelle: Banyard, Ward, Cohn (2007): Unwanted Sexual Contact on Campus: A Comparison of Women’s and Men’s Experiences, Violence and Victims, 22(1), S. 52–70.
Doch auch dieses Muster ist nicht neu.
Denn ein etwaiges Raunen geht seit Jahren durch Connewitz – aber noch nie zugunsten der Betroffenen.
Wie erklärt ihr euch euer Zweifeln an den Betroffenen auf Grund von zugeschriebenen zweifelhaften Persönlichkeitsattributen, während ihr durch diese Brille den Täter nicht in der Glaubhaftigkeit seiner selbsterklärten Unschuld anzweifelt?
Das so etwas möglich war und ist, ist nicht zuletzt den manipulativen Fähigkeiten von W. geschuldet – und einem tiefen Missverständnis oder gar Missbrauch des Konzepts der Definitionsmacht:
Definitionsmacht (oft abgekürzt als DefMa) meint das feministische Prinzip, dass Betroffene von Gewalt das Recht haben, ihre Erfahrung zu benennen und zu definieren – ohne dass Außenstehende sie relativieren, umdeuten oder in Frage stellen. Ursprünglich als Schutzraum gedacht, wird dieses Konzept dann wirkungslos, wenn es von Tätern umgekehrt wird – wenn sie es nutzen, um Deutungshoheit über das Erlebte anderer zu beanspruchen.
Quelle: Anne Wizorek (2014): Weil ein #Aufschrei nicht reicht, Fischer Verlag, sowie Konzeptentwicklungen u. a. durch feministische Gruppen wie das AK Definitionsmacht (Berlin, 2005 ff.).
W. ist in Connewitz präsent – nicht nur als Teil des sozialen-szenischen Umfelds, sondern auch als Tresenkraft in der Zwille.
Er war es, der den Raum hatte. Der Zeit hatte. Der die Möglichkeit nutzte, seine Version der Geschichte wieder und wieder zu erzählen.
Er saß hinter oder vor dem Tresen – einem Ort der Vernetzung, der Gespräche, der Meinungsbildung. Und er nutzte diesen Ort gezielt, um sich selbst als das Opfer darzustellen, andere zu beeinflussen und davon abzulenken, sich mit der Perspektive der Betroffenen auseinanderzusetzen.
Durch seine Position hatte er strukturell mehr Gehör, mehr Zugang, mehr Deutungsmacht – und richtete diese gegen diejenigen, die ihm etwas vorwarfen.
Diese manipulativen Vorgänge fanden und finden jedoch nicht nur im Rahmen seiner Bar-Tätigkeit statt.
Sie setzen sich fort – subtil, aber konsequent – in privaten Gesprächen, in engen sozialen Kreisen, in Kontakten mit Menschen, die er zu manipulieren weiß. Immer wieder versucht er, andere davon zu überzeugen, dass er das Opfer sei, dass ihm Unrecht geschehe, dass er nicht der Täter sei.
Diese Dynamik entfaltet sich nicht zuletzt auch in seinen intimen Beziehungen – mit Sexualpartnerinnen und Ex-Freundinnen.
Gerade dort, wo Nähe besteht oder bestand, wirken diese Strategien besonders stark: durch emotionale Nähe, durch Schuldumkehr, durch subtile oder offene Selbstinszenierung als verletzlicher, missverstandener Mann.
Wie mittlerweile selbstverständlich sein sollte: Gewalt beginnt nicht erst mit physischen Übergriffen.
Emotionale und psychische Gewalt – insbesondere in privaten Räumen, hinter verschlossenen Türen – ist oft schwerer greifbar, aber nicht weniger real.
Sie äußert sich in Kontrolle, in Einschüchterung, in Manipulation, in systematischer Verdrehung von Wahrnehmung. Gerade weil sie so wenig sichtbar ist, bleibt sie oft unkommentiert – und kann ungestört weiterwirken.
Die WHO definiert Gewalt als: „Der absichtliche Gebrauch von physischer Kraft oder Macht, angedroht oder tatsächlich ausgeübt, gegen sich selbst, eine andere Person oder gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt oder mit hoher Wahrscheinlichkeit führen kann.“
Quelle: World Health Organization (2002): World Report on Violence and Health, Kapitel 1.
Und mit all diesem Wissen stellt sich eine entscheidende Frage:
Wird das Raunen nach all den Jahren des Missbrauchs, der Verletzungen, des Traumas endlich dort laut, wo es hingehört – gegenüber der Person, die all das verursacht hat?
Oder wird weiter nur gemurmelt, gezweifelt, relativiert – und das Misstrauen wieder und wieder auf die Opfer projiziert?
Die Zwille und das Black Label haben Konsequenzen gezogen. Aber was ist mit dem Rest?
Was ist mit den Bands, den Festivalverbänden in denen er Mitglied ist, den Veranstaltungsorten und den anderen Kneipen?
Was ist mit denen, die mit ihm zusammenwohnen, mit ihm abkumpeln, mit ihm konsumieren, mit ihm seit Jahren befreundet sind?
Was macht ihr – jetzt, wo all das nicht mehr nur raunt, sondern klar und laut ausgesprochen wird?
Was machen wir als politische und idealistische Szene, die sich als aufgeklärt, antisexsistisch, ja gar als feministisch begreift oder ganz grundlegend als menschlich mit dem Wissen, dass das, was jetzt öffentlich wird, vielleicht längst als Gerücht durch unsere Kreise ging?
Als Flüstern, das wir nicht hören wollten, als Andeutung, die wir nicht nachverfolgt haben, als Schläge, die lediglich intimes Beziehungsdrama waren?
Was machen wir mit dem Schweigen, das wir gepflegt haben, weil all das doch nicht in unserer reflektierten, politisch aufgeklärten Blase passieren kann?
Ein Othering ist schon lange nicht mehr möglich.
Die Vorstellung, dass sexualisierte Gewalt nur „bei den Anderen“ vorkommt – bei den Ungebildeten, Rechten, Konservativen, Unreflektierten – schützt uns nicht vor der Realität in unseren eigenen Räumen.
Othering bezeichnet den Prozess, bei dem Menschen oder Gruppen als „anders“, „fremd“ oder „nicht zugehörig“ markiert werden – meist, um sich selbst als „besser“, „zivilisierter“ oder „überlegen“ zu positionieren. Es schafft künstliche Abgrenzung und verhindert echte Selbstkritik.
Quelle: Gayatri Chakravorty Spivak (1985); vgl. auch Said, Edward (1978): Orientalism.
Fangen wir endlich an, vor unseren eigenen Haustüren zu kehren.
Hiermit solidarisieren wir uns ausdrücklich mit den Betroffenen, die den Mut hatten, W’s Taten öffentlich zu machen.
Quelle: https://de.indymedia.org/node/510554
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RAPE CULTURE PAR EXCELLENCE – in Connewitz und in einer Szene, die sich von Punk bis Metal entweder mit den Federn politischer Verantwortung schmückt oder sich davon zu distanzieren versucht
RAPE CULTURE PAR EXCELLENCE – in Connewitz und in einer Szene, die sich von Punk bis Metal entweder mit den Federn politischer Verantwortung schmückt oder sich davon zu distanzieren versucht Es ist mittlerweile fast zwei Wochen her, dass eine Gruppe Betroffener ihre Erfahrungen mit W. über das Facebook-Profil der Zwille sowie Indymedia öffentlich gemacht hat – und auch das Zwille-Lokal sich dazu positionierte. Was darauf folgte, war ein Backlash, der in seiner Härte kaum zu übertreffen ist.
Es ist mittlerweile fast zwei Wochen her, dass eine Gruppe Betroffener ihre Erfahrungen mit W. über das Facebook-Profil der Zwille öffentlich gemacht hat – und auch das Zwille-Lokal sich dazu positionierte. (https://de.indymedia.org/node/509255)
Was darauf folgte, war ein Backlash, der in seiner Härte kaum zu übertreffen ist. Solche Dynamiken sind nach Outcalls leider nicht neu – und dennoch bleibt es jedes Mal aufs Neue erschütternd, wie erbarmungslos und systematisch Betroffene (ehemalige Sexualpartner:innen, Beziehungspartner:innen sowie Supporter:innen) Repressionen und sozialem Ausschluss ausgesetzt sind.
Diese Reaktionen sind Ausdruck der manipulativen Gefahr, die von dem Täter ausgeht – und zugleich Ausdruck eines strukturellen Problems, das tief in unserer Gesellschaft verankert ist: der Rape Culture.
Was bedeutet das?
Der Begriff Rape Culture (Vergewaltigungskultur) beschreibt ein gesellschaftliches System, in dem sexualisierte Gewalt nicht nur existiert, sondern strukturell ermöglicht, verharmlost oder gar gerechtfertigt wird. In der feministischen Theorie – etwa bei Emilie Buchwald et al. (Transforming a Rape Culture, 1993) – wird Rape Culture als ein kulturelles Gefüge analysiert, das sich durch Sprache, Medien, Institutionen und soziale Dynamiken zieht. Sie basiert auf Geschlechterhierarchien, Täter-Opfer-Umkehr, Schweigegeboten und der aktiven Ausgrenzung jener, die Missbrauch benennen.
Aber: Rape Culture ist nicht bloß ein theoretisches Konstrukt. Sie ist keine abstrakte Idee, die in Lehrbüchern zirkuliert – sie ist gelebte Praxis. Und genau das zeigt sich aktuell in Connewitz und einer musikalischen Szene die weit über den Stadtteil hinaus geht.
Gewalt benennen bedeutet: Bekämpft werden
Die Geschehnisse rund um die öffentliche Thematisierung von Gewalt durch W. machen deutlich: Wer über sexualisierte Gewalt spricht, wird nicht gehört, sondern bekämpft. Statt Solidarität zu erfahren, werden sie zum Problem erklärt, denn ihre Stimmen stören das fragile Gleichgewicht einer Szene, die sich selbst als „emanzipatorisch“ versteht – solange niemand das Schweigen bricht. Die Vorwürfe werden infrage gestellt. Forderungen werden laut, die Betroffenen sollten „Gesicht zeigen“ und ihre gewaltvollen und übergriffigen Erfahrungen bis ins Detail schildern – gegenüber Menschen, die kein Recht auf diese Informationen haben. Es heißt: Wenn nur eine konkrete, nachweisbare Tat vorliegt, werde man ihnen glauben.
Während den Betroffenen vielerorts das Vertrauen verweigert wird, wird täterzentriert agiert – wie so oft in solchen Fällen.
Das Muster ist klar: Nicht die Tat wird aufgearbeitet, sondern die Kritik daran wird kriminalisiert.
Der Druck auf die Betroffenen wächst – insbesondere durch die Anonymisierung des Statements, die alle ehemaligen Sexual- oder Beziehungspartner:innen potenziell ins Licht der Repression rückt. Zu wenige stellen sich ehrlich die Frage:
Kann es sein, dass ich etwas übersehen habe?
Warum wird den Betroffenen nicht nur nicht geglaubt – warum erfahren sie erneut so viel Gewalt?
Diese Realität hat sowohl strukturelle als auch psychologisch-manipulative Grundlagen. Täter, die sich lange ungestraft in linken, aktivistischen oder subkulturellen Szenen etablieren können, nutzen oftmals hochgradig kalkulierte Strategien. Sie folgen dabei nicht selten einem perfiden System aus Kontrolle, Charme, Einschüchterung, Sprachvernebelung und Desinformation.
Typisch sind dabei:
zermürbende, sich ewig ziehende Gespräche
rhetorische Verwirrung („Word Bombing“)
gezielte Stimmungsschwankungen oder emotionale Eskalation
Täter-Opfer-Umkehr auf sozialer und persönlicher Ebene
Zu abstrakt? Hier potenzielle Strategien in Kürze:
1.Gaslighting
Definition:
Gaslighting ist eine Form psychologischer Manipulation, bei der das Erinnerungsvermögen, die Wahrnehmung oder das Urteilsvermögen einer Person gezielt in Zweifel gezogen wird – mit dem Ziel, Macht über sie zu gewinnen. (Quelle: Abramson, K. (2014). Turning up the lights on gaslighting.)
Beispiel:
Eine Betroffene spricht eine übergriffige Situation in einer Bar an:
„Du hast mich bedrängt, obwohl ich Nein gesagt habe.“
Antwort:
„Das ist nie passiert. Du warst einfach betrunken und dramatisch.“
Oder:
„So wie du das sagst, war es nicht. Du hast mir ganz andere Signale gesendet.“
Konsequenz:
Die Betroffene beginnt an sich selbst zu zweifeln, obwohl ihr Unbehagen berechtigt war.
2. Performative Accountability
(auch: performative Reue / pseudo-selbstkritische Statements)
Definition:
Öffentlich zur Schau gestellte Reue, die nicht mit echter Verantwortung oder struktureller Konsequenz einhergeht. Ziel ist es, das eigene Image zu schützen – nicht, Verantwortung zu übernehmen. (Quelle: Ahmed, Sara (2021). Complaint!)
Beispiel:
„Ich habe das gemacht, weil ich so verletzt war, weil ich unter Druck stand, weil ich selbst mit mir zu kämpfen hatte… Heute bin ich reflektierter. Ich wollte niemanden verletzen. Wenn ich es getan habe, tut es mir leid.“
Konsequenz:
Keine Strukturveränderung – stattdessen Selbstinszenierung als „gelernt habender Mensch“.
3. Täterzentrierung / Self-Victimization
Definition:
Statt sich mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, wird die eigene emotionale Reaktion in den Mittelpunkt gestellt. (Quellen: Herman, Judith (1992); Brown, Brené (2012).)
Beispiel:
„Wie soll ich denn jetzt damit umgehen? Weißt du, wie schlimm das für mich ist?“
Konsequenz:
Die betroffene Person wird zur „Täterin“ stilisiert, weil sie Kritik äußert. Nicht selten geht dies mit Androhung von suizidalem Verhalten einher, um Schuldgefühle zu erzeugen und Kontrolle zurückzugewinnen.
Schuldgefühle erzeugen, das Gespräch dominieren, Verantwortung ablenken.
4. Kontextverschiebung (Context Shifting / Emotional Resetting)
Definition:
Wenn Gesprächssituationen zu emotional oder konfrontativ für den Täter wird, werden abrupt das Thema und/oder die Stimmung gewechselt – durch Kochen, Umarmungen, Drogen oder Witze. (Quelle: Lundy Bancroft (2002). Why Does He Do That?)
Beispiel:
Nach einem Konflikt beginnt der Täter zu kochen, zu kuscheln oder Drogen anzubieten – ohne dass die Auseinandersetzung je geklärt wird.
Konsequenz:
Konflikte neutralisieren, Verantwortung vermeiden, Nähe vorspielen.
5. Emotionale Erpressung (Emotional Blackmail)
Definition:
Gefühle wie Trauer, Rückzug oder suizidale Andeutungen werden instrumentalisiert, um Betroffene emotional unter Druck zu setzen. (Quelle: Forward, Susan (1997). Emotional Blackmail.)
Beispiel:
„Ich weiß, ich hab Fehler gemacht. Aber wenn du mich jetzt auch noch verlässt, weiß ich nicht, wie ich weitermachen soll.“
Konsequenz:
Die Verantwortung wird umgelenkt – die Betroffene soll trösten, stabilisieren, schweigen.
6. Toxische Versöhnung (Toxic Reconciliation)
Definition:
Ein vermeintliches „Friedensangebot“, das ohne Aufarbeitung auskommt. Die Gewalt wird durch Gesten (Weinen, Nähe, kleine Geschenke) übertüncht – nicht benannt (Quelle: van der Kolk, Bessel (2014); Gewaltpädagogik.)
Beispiel:
Nach einem Gespräch über Übergriffe bringt der Täter später etwas zu essen und sagt:
„Ich will doch nur, dass es dir gut geht.“
Konsequenz:
Die Betroffene wird mit emotionalen Signalen beruhigt, das Thema wird nicht wieder aufgegriffen.
Konsequenz:Wiederherstellung eines „funktionierenden“ Alltags, Vermeidung von Verantwortung, Kontrolle über das emotionale Klima behalten.
Diese manipulativen Strategien wirken jedoch nicht isoliert – sie werden durch gesellschaftliche Diskursmuster gestützt und verstärkt. Zwei häufige Reaktionsformen, die Täter schützen und Betroffene delegitimieren, sind Tone Policing und Derailing.
Tone Policing
(Tonfallkritik statt Inhaltsauseinandersetzung)
Definition:
Tone Policing bezeichnet den Versuch, Kritik an struktureller Gewalt oder persönlichen Grenzverletzungen zu entwerten, indem man sich auf den Tonfall oder die Emotionalität der Betroffenen konzentriert – nicht auf den Inhalt ihrer Aussage. (Quelle: hooks, bell (2000). Feminism is for Everybody.)
Beispiel:
Nach einem öffentlichen Statement von Betroffenen heißt es in Gesprächen: „Ich finde es wichtig, dass man über sowas redet, aber so wütend und anklagend wie das geschrieben ist, kann man das doch nicht ernst nehmen. Das schreckt Leute nur ab.“
Konsequenz: Statt sich mit dem Inhalt – dem Gewaltvorwurf – auseinanderzusetzen, wird die Form der Kritik als „unsachlich“ problematisiert. Die Betroffenenperspektive wird so delegitimiert, während sich die Kritik am Ton als „vernünftig“ darstellt. Das lenkt vom Gewaltinhalt ab und schützt das bestehende Machtgefüge.
Derailing
(Diskursumlenkung / „Entgleisung“)
Definition:
Derailing beschreibt Strategien, mit denen eine Diskussion über Gewalt, Machtmissbrauch oder Unterdrückung gezielt abgelenkt wird – häufig durch Themenwechsel, Abstraktion oder Umdeutung – um sich nicht mit der Kritik selbst auseinandersetzen zu müssen. (Quelle: Ferguson, Sian (2015). “Derailing 101”, Everyday Feminism.)
Beispiel: „Ich kenne W. schon lange und habe ihn nie so erlebt. Ich denke, wir sollten lieber darüber sprechen, wie wir wieder Vertrauen und Zusammenhalt in der Szene schaffen können.“
Konsequenz:
Die ursprüngliche Kritik – sexualisierte Gewalt – wird in den Hintergrund gedrängt. Stattdessen wird ein abstraktes, „verbindendes“ Thema in den Vordergrund geschoben. So wird Täterkritik entpolitisiert, die Perspektive der Betroffenen verdrängt und ein subtiler Schutz des Täters aufrechterhalten – ohne offene Täterverteidigung betreiben zu müssen.
Diese Manipulationsstrategien und -muster finden nicht nur in intimen Zweierkonstellationen zwischen Beziehungspartner:innen oder Sexualpartner:innen statt. Sie beschreiben nicht ausschließlich die direkte Einflussnahme des Täters, sondern auch das Verhalten von Nahpersonen, die sich im aktuellen Diskurs – bewusst oder unbewusst – täterschützend verhalten. Es sind Personen, die selbst diesen Manipulationsstrategien unterworfen sind. Doch mehr noch: Es handelt sich um gesellschaftlich tief verankerte Dynamiken.
Diese Formen der emotionalen und kommunikativen Manipulation sind Ausdruck eines kollektiven Versagens, das weit über individuelle Beziehungen hinausweist. Es geht um strukturelle Muster, in die viele von uns – teils unbeabsichtigt, teils aus erlerntem Verhalten – verstrickt sind. Vor diesem Hintergrund kann nur wiederholt werden, was bereits in einem anderen Beitrag gesagt wurde: Ein einfaches Othering – also das Verschieben der Verantwortung auf Einzelne oder „die Anderen“ – greift nicht mehr. Es ist unzureichend.
Was hier sichtbar wird, betrifft nicht nur einen Stadtteil, sondern eine stadtteil- und städteübergreifende Szene. Es fordert eine grundlegende Auseinandersetzung mit Selbstbild, Verantwortung und Machtverhältnissen – sowohl individuell als auch kollektiv.
Dieser Weg der Selbstreflexion und kritischen Auseinandersetzung wird für viele schmerzhaft sein. Besonders dann, wenn die Erkenntnis reift, dass man selbst – vielleicht über Jahre hinweg – Teil eines manipulativen Systems war. Dass man nicht nur Zuschauer:in war, sondern möglicherweise von W. für seine Zwecke instrumentalisiert wurde.
Oder dass man andere geschützt hat – durch Schweigen, durch Wegsehen, durch Kleinbeigeben, durch „es ruhen lassen“. In dieser Situation stellt sich eine zentrale Frage – eine, die sich nicht neutral beantworten lässt:
War ich Teil des Schutzes – oder Teil der Gewalt?
Opfer, Mittäter:innen und Täterschützer:innen liegen in solchen Fällen oft näher beieinander, als es eine einfach strukturierte Welt erlauben würde. Solche Verstrickungen sind selten eindeutig. Menschen können gleichzeitig manipuliert und verletzt werden und zeitgleich täterschützend handeln. Bindungen, Gruppenzugehörigkeit, Angst vor Ausschluss oder Scham über vergangenes Verhalten können dazu führen, dass sogar reflektierte Personen Täter verteidigen, Relativierungen übernehmen oder auf Distanz zur Gewaltkritik gehen.
Diese Mehrdimensionalität soll keine Entschuldigung liefern – aber sie verweist auf die Notwendigkeit kollektiver Verantwortung, ehrlicher Selbstprüfung und kontinuierlicher Aufarbeitung. Erst wenn wir die Komplexität dieser Verstrickungen anerkennen, wird nachhaltige Veränderung möglich.
Sicherlich mag dieser Text manchen Leser:innen zu theoretisch, abstrakt oder bildungspolitisch erscheinen. Doch am Ende stellt sich erneut die zentrale Frage:
Wie muss ein Text eigentlich geschrieben sein, um Gehör zu finden?
Und noch grundlegender: Wie muss ein Opfer sich verhalten, um als solches überhaupt anerkannt zu werden?
Für die einen war das erste Statement, das über das Profil der Zwille veröffentlicht wurde, zu emotional, zu unsachlich, zu ungeschliffen. Für die anderen war der zweite Text zu politisch, zu analytisch, zu distanziert.(https://de.indymedia.org/node/510554)
Was diese Reaktionen offenlegen, ist ein bekanntes Muster: Die Betroffenenperspektive kann es in einer Gesellschaft, die von Rape Culture geprägt ist, niemals „richtig“ machen.
Denn nicht die Form entscheidet über die Legitimität eines Vorwurfs, sondern ein System, das Täter schützt, Kritik entwertet und Betroffene diszipliniert. Ein System, das permanent nach dem „richtigen Ton“ sucht – nur, um sich nicht mit dem Inhalt auseinandersetzen zu müssen.
Und genau das beweist: Was hier geschieht, ist nicht neu. Der Umgang mit Outcalls, mit Täterstrategien, mit Manipulation und sexualisierter Gewalt ist längst dokumentiert. Es gibt unzählige Menschen, die darüber geschrieben und gesprochen haben – viele haben ihr Gesicht gezeigt, ihre Glaubwürdigkeit riskiert, ihre Sicherheit verloren.
Diese Stimmen gehören gehört. Diese Erfahrungen sind real. Und sie machen deutlich:
Was gerade passiert, ist keine Ausnahme, auch wenn es schwer zu begreifen ist.
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Quelle: https://de.indymedia.org/node/512223