Wie erkennen Sie Linke? „An den Haaren“ : Junge Neonazis nach Springerstiefel-Exzess in Berlin vor Gericht
Rechtsextreme Teenager aus Sachsen-Anhalt greifen im Dezember Wahlkämpfer der SPD in Lichterfelde an. Im Prozess bereut nur einer die brutale Attacke – bis er sich selbst verrät.
Es gibt unterschiedlichste Gründe dafür, Opfer einer Straftat zu werden. Im Fall von Carolyn Macmillan und ihrem Mann spielen erst eine Zigarette und schließlich zwei rote Wollmützen entscheidende Rollen, dass es ausgerechnet sie trifft.
Ein Samstagmittag im Dezember in Lichterfelde-Ost im Südwesten Berlins. Es ist Markttag und die Macmillans werden von einer Gruppe rechtsextremer Teenagern mitten auf der belebten Straße zusammengeschlagen. Ein Gewaltexzess von jungen Neonazis, der mit Springerstiefel-Tritten in Gesicht und Bauch des Opfers seinen Höhepunkt findet.
Es ist der 14. Dezember und in Berlin wird demonstriert. Neonazis haben zum Aufmarsch durch Friedrichshain mobilisiert, auch überregional haben sich Teilnehmer angekündigt. Am Vormittag treffen sich acht junge Menschen auf einem Gleis des Leipziger Hauptbahnhofs. Es sind junge, radikalisierte Rechte. Sie wollen nach Berlin zur Demo und steigen in den Zug.
Bereits hier gibt es Ärger, erzählt eine von den Teenagern am Mittwoch vor Gericht: Celine, 17 Jahre alt, aus der Nähe von Leipzig, das einzige Mädchen in der Gruppe. Sie lernt einen der Jungs vorher über Instagram kennen. Er ist ein junger Neonazi aus Halle und aktiv bei „Deutsche Jugend Zuerst“, einer der zahlreichen neu entstandenen rechtsextremen Jugendgruppen.
Er fragt sie, ob sie nicht mal Lust auf eine Demo hätte. „Ich hatte Bock“, sagt Celine und erzählt ihrer Mutter, sie würde nach Halle fahren. Stattdessen ist sie in der Regionalbahn Richtung Berlin. „Dort gab es schon Stress mit Linken“, sagt Celine. „Wie erkennen Sie Linke?“, will der Richter wissen. „An den Haaren“, antwortet die Teenagerin. Die jungen Neonazis stickern das Abteil mit Reichsflaggen-Aufklebern voll, einer von ihnen holt eine Fahne raus. Sie grölen, saufen und benehmen sich daneben.
Als einer von ihnen, der 19-jährige Elias U., auch noch auf der Zugtoilette beim Rauchen erwischt wird, schmeißt der Schaffner sie raus. Statt im Berliner Osten stranden sie in Lichterfelde-Ost und erblicken an der Bushaltestelle gegenüber des Bahnhofs zwei rote Wollmützen: Carolyn Macmillan und ihren Mann. Ihnen ist kalt.
Plötzlicher Angriff auf SPD-Mitglieder
Mehrere Stunden betreute das Paar einen SPD-Infostand direkt gegenüber. Sie ist Fraktionsvorsitzende in Steglitz-Zehlendorf, er einfaches Mitglied. Der Stand ist eingepackt, ihre roten SPD-Wollmützen noch nicht. Sie warten auf den Bus, als die Neonazis auf sie aufmerksam werden. Erst greifen sie nach den Mützen, dann stürzen sie sich auf die sozialdemokratischen Wahlkämpfer.
Ein brutaler Gewaltexzess. Noch am Boden liegend, wird ihr Mann mit Springerstiefel-Tritten traktiert, erzählt Macmillan. „Die Polizei hat nicht lange gebraucht, mir kam es aber lange vor, weil ich dachte, mein Mann stirbt gleich“, sagt die Kommunalpolitikerin im Gerichtssaal. Auch sie wird angegriffen.
„Ich dachte noch: Das habe ich seit den 90ern nicht mehr gesehen. Große Gruppe, schwarz gekleidet, Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln“, sagt Macmillans Mann im Zeugenstand, „dann ging es schon los“. Er sagt, es sei reines Glück, dass er nicht schwer verletzt wurde. „Linke Zecken“, hätten die rechtsextremen Teenager zwischendurch gebrüllt.
Polizist wird rassistisch beleidigt, dann angegriffen
Die Polizei ist schnell da, doch die Gewalt nimmt kein Ende. Die Neonazis drücken die Beamten gegen die Glaswand eines Imbisses, bis diese zersplittert. Besonders auf einen Beamten mit Migrationshintergrund haben sie es abgesehen. „Polizei-Ali“, sollen sie ihn laut Anklage beleidigt haben, seine Kollegin „Bullenfotze“. Am Ende des Einsatzes erleidet ein Polizist eine Kopfplatzwunde, die genäht werden muss. Ein anderer eine Fraktur im Mittelhandknochen der rechten Hand.
Am Mittwoch sind im Amtsgericht vier Täter angeklagt, die besonders brutal zugeschlagen haben sollen. Alle kommen sie aus Sachsen-Anhalt. Da ist Phillipp B., geboren 2005, aus Aschersleben. Weil er im Januar seine Ausbildung begann, wurde er vorerst haftverschont. Die Brüder Pascal (17) und Florian K. (19) aus Halle/Saale. Und schließlich Elias U. aus Leuna. Ebenfalls 19 Jahre alt, mit Trainingsjacke des Halleschen FC und wie Florian K. seit Monaten in Untersuchungshaft.
Reue doch nur geheuchelt
Was er vorher gemacht hat, will der Vorsitzende wissen? „Nichts“, sagt U. Er ist der einzige der Gruppe, der sich zu Beginn reumütig zeigt. Es tue ihm leid, lässt er über seinen Verteidiger mitteilen. „In der Haft habe ich über mein Verhalten und meine Einstellung nachgedacht. […] Ich habe erkannt, dass ich auf einem Irrweg war“, zitiert ihn sein Rechtsanwalt. Er wolle politisch andere Wege einschlagen.
Wie wenig diese angebliche Reue wirklich wert ist, wurde im Verlauf der Verhandlung deutlich. Elias U. muss sich immer wieder das Lachen verkneifen. Als seine Opfer die brutale Attacke detailliert schildern, sitzt er grinsend auf dem Anklagestuhl. Auch den beiden Brüdern Pascal und Florian geht es ähnlich. Grinsend, fast feixend verfolgen sie die Verhandlung.
Es ist recht warm im Gerichtssaal. Also öffnet Elias U. irgendwann den Reißverschluss seiner HFC-Trainingsjacke – und verrät sich. Unter der Jacke trägt der Teenager ein schwarzes T-Shirt, schemenhaft ist die Silhouette des Kopfs des umstrittenen Autors Ernst Jünger zu erkennen. Das Motiv ist in rechtsextremen Online-Shops erhältlich. „Jugend ohne Migrationshintergrund“, ist unter Jüngers Konterfei zu lesen.
Am Mittwoch wird noch ein weiterer Zeuge gehört. Ein 19-jähriger Student. Er wartet auf den Bus, als er die Attacke beobachtet. „Ich habe viel darüber nachgedacht, warum ich nicht als erstes rüber bin, um zu helfen“, sagt er. „Ich habe sowas noch nie erlebt, ich war einfach zu geschockt“. Ein Bild könne er seitdem nicht mehr vergessen: wie die jungen Neonazis „rhythmisch“ auf die Person am Boden eingeschlagen haben. Ein Urteil wird am 28. Mai erwartet.
https://www.tagesspiegel.de/berlin/wie-erkennen-sie-linke-an-den-haaren-junge-neonazis-nach-springerstiefel-exzess-in-berlin-vor-gericht-13651111.html, 07.05.2025, 18:20 Uhr