Ein schizoides Jahrzehnt

Es ist eine schizoide Erinnerung, die an die 1990er Jahre. So beginnt der diesem Jahrzehnt gewidmete Artikel von Franco ‘Bifo’ Berardi , der für das heute beginnende Festival 7 „Anni Novanta: quando il futuro è finito“ (Die neunziger Jahre: wenn die Zukunft vorbei ist) von DeriveApprodi verfasst wurde. Der Artikel entwickelt sich zwischen der großen Netzutopie und der identitären Barbarei, zwischen den Bildern der Cyberkulturen und einem neuen Zyklus von Kriegen, zwischen dem Ende des Reichs des Bösen und dem Beginn des Reichs des Schlechten. Es ist der Beginn des finsteren Zeitalters: Wie können wir es durchqueren, ohne unter der Erpressung von Not, Angst, Schuld und Identität zusammenzubrechen?

Machina

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Ich wurde gebeten, etwas über die 1990er Jahre zu schreiben. Es ist ein kompliziertes Unterfangen, denn meine Erinnerung an die 1990er Jahre ist schizophren. Es ist das Jahrzehnt der großen Netzutopie, aber es ist auch das Jahrzehnt, in dem die identitäre Barbarei begann, die seitdem unaufhörlich gewachsen ist, bis sie heute zu einem Monster geworden ist, das niemand aufhalten oder besiegen kann und das sich schließlich selbst besiegen wird, aber nicht, ohne fast den gesamten Rest der menschlichen Zivilisation mit sich in die Hölle zu reißen.

Zu Beginn der 90er Jahre, als der Zusammenbruch des Sozialismus einen Zyklus von Kriegen auslöste (Golfkrieg 1990/91, Jugoslawien- und Kaukasuskrieg), verwandelte sich die Utopie der Cyberkulturen rasch in einen Prozess der Netzwerkbildung. 1992 brachte mir Alex Sarti bei, wie man einen Webbrowser benutzt, und zum ersten Mal wurde das Konzept eines Netzwerks auf einem Computerbildschirm real. Zwei Jahre später organisierte ich zusammen mit Oscar Marchisio und Elda Cremonini eine internationale Konferenz in Bologna mit dem Titel Cibernauti. Das Geld und die Logistik für die Organisation der Konferenz wurden von Consorzio Università Città zur Verfügung gestellt, dessen Direktor Marchisio zu dieser Zeit war. Luca Sossella kümmerte sich um die Kommunikation und die Grafik, und Alberto Castelvecchi veröffentlichte den Tagungsband.

Es war die erste öffentliche Konferenz, auf der über das Internet gesprochen wurde, und ich muss lächeln, wenn ich daran denke. Um mit den Leuten in Kontakt zu bleiben, die wir zu der Konferenz einladen wollten – Pierre Levy, Alberto Abruzzese, Derrick De Kerkhove, Kim Veltman und andere, an die ich mich nicht mehr erinnern kann -, benutzten wir eine alte Technik: Wir schrieben Briefe mit einer alten Remington, steckten die Briefe in weiße Umschläge, schrieben die Adresse auf den Umschlag, klebten Briefmarken auf und brachten das Bündel Briefe zum zentralen Postamt, das sich in Piazza Minghetti befindet.

Erst am Ende desselben Jahres, im November 1994, erhielt ich meine erste E-Mail-Adresse. Im Jahr zuvor war Mutazione e cyberpunk erschienen. Es wurde von Costa e Nolan veröffentlicht, einem Verlag in Genua, der sehr elegante Bücher herstellt. Dieses Buch war eine Synthese der literarischen und philosophischen Entdeckungen des vorangegangenen Jahrzehnts, aber auch mein persönlicher und politischer Einstieg in die Ära, die sich abzeichnete, seit das Wort „Internet“ in Umlauf war.

Infosphäre, psychochemische Psychosphäre, Cyberspace und Cyberzeit, Technomaya, cosmovisione barocca: Ich hatte diese Worte in der Luft, die ich atmete, aufgesogen und versuchte, sie in Analysewerkzeuge zu übersetzen.

Wir kartografierten kommende Landstriche, zeichneten Karten der Zeit am Horizont.

Im Jahr 1989, nach der erschreckenden chinesischen Unterdrückung im Juni, ging ich für eine Weile nach Kalifornien, um einen Freund zu besuchen, der in Berkeley lebte. Dort wurde viel über Cyberpunk und die virtuelle Realität gesprochen. Eine Art neue subkulturelle Welle, die zugleich unschuldig und desillusioniert, psychedelisch und telematisch war.

Ich las Mirrorshades. [online lesen, d.Ü.) Am Ende des Sommers verbrachte ich ein paar Tage in Berlin, wo die Mauer noch nicht gefallen war. Tian’anmen schien mir einen bevorstehenden Kataklysmus anzukündigen. In China hatte sich das Regime neu formiert, weil Deng Hsiao Ping bereits über eine nationalkommunistische Struktur (im Sinne einer nationalistischen Militärdiktatur, die von einer Parteibürokratie geführt wird) verfügte, die sich in Russland und den anderen östlichen Ländern erst jetzt aufzubauen begann. Die Cyberpunk-Symbolik hatte sich in meinem Kopf mit dem politischen Zusammenbruch des realen Sozialismus vermischt.

Der historische Prozess schien mir an einem doppelten Wendepunkt angelangt zu sein: Einerseits hatte die Bewegung gegen die industrielle Arbeit im Westen die Bedingungen für den allmählichen Ausstieg aus dem stählernen Zeitalter der Industrie und der materiellen Arbeit determiniert. Andererseits hatte der reale Sozialismus durch autoritären Zwang die Bedingungen für die Industrialisierung geschaffen und damit die soziale Dynamik, die sich im Westen stattdessen voll entwickelt hatte, lahmgelegt.

Die chinesische Studentenrevolte stand unter dem Motto der Demokratie, aber die Werte der politischen Demokratie schienen nicht von der Teilhabe am weltweiten Waren- und Informationskreislauf, von der Teilhabe am globalen System, dessen treibende Kraft der Westen ist, trennbar zu sein. Die Macht der westlichen Welt liegt in ihren Bildern, deren Verführungskraft ungebrochen ist.

Der Modernisierungsprozess, die beginnende Öffnung Chinas gegenüber dem Westen, hat der Jugend dieses Landes den Blick auf eine Erfahrungswelt eröffnet, von der sie nicht ausgeschlossen sein will. Die Schlacht in Peking war der Zusammenstoß zwischen dem autoritären Staat und dem planetarischen Kommunikationssystem.

Alles, was in den folgenden Monaten geschah, scheint mir eine Bestätigung dieser Tendenz gewesen zu sein. China und Kalifornien, Nationalkommunismus und Cyberpunk waren divergierende, aber miteinander verbundene Szenarien. Wie das?

Der politische Totalitarismus zerfiel, und die Herrschaft über den psychischen und kognitiven Apparat der Menschheit begann Gestalt anzunehmen: Das Reich des Bösen brach zusammen, das Reich des Schlimmsten begann Wurzeln zu schlagen. Dann kam der Herbst ’89 und die Illusion einer Ära des Friedens. Die Illusion währte nur kurz. Golfkrieg, eurasischer Bürgerkrieg in der postkommunistischen Welt. Migrationsdruck aus Afrika und dem Osten in Richtung Westeuropa; das Wiederaufleben ‘regionalistischer’ Gefühle mit rassistischen und nationalsozialistischen Untertönen im tiefen Europa, in Italien, in Frankreich und beängstigenderweise auch in Deutschland.

Der Entwurf einer neuen planetarischen Ordnung scheint am Horizont zu verschwinden.

Und weiter: Damit das höllische Paradies der netzartigen Technologien den Planeten einhüllen kann, muss eine dunkle Passage aggressiver Nationalismen und Archaismen, die mit hochmodernen Waffen bewaffnet sind, überwunden werden.

Die beiden Szenarien müssen zusammen und getrennt voneinander gedacht werden, denn sie sind begrifflich verschieden, aber in der Geschichte bedingen sie sich gegenseitig. Bevor eine neue homologisierte Ordnung errichtet werden kann, muss eine dunkle Periode verzweifelter Identitäten durchlaufen werden, die sich an blutige Wurzeln, an wahnsinnige Mythologien klammern. Es muss eine Ethik ausgearbeitet werden, die diesem Übergang angemessen ist. Es muss eine Politik der Mutation ausgearbeitet werden.

In diesen Jahren erschien ein Bericht über die nahe Zukunft des Planeten (2100 Recit du prochain siècle), der von Thierry Gaudin, dem Präsidenten der Pariser Gruppe für Forschung und technologischen Austausch, herausgegeben wurde. Das von Gaudin skizzierte Szenario ist beeindruckend. Die Explosion der Fundamentalismen und die wieder aufkeimende Aussicht auf Krieg. Informationsüberflutung und Rückzug der Stämme.

Die Überdosis an Informationen wird schwerwiegende Folgen haben. Der Mensch reagiert wie ein Tier, das in einem Zoo eingesperrt ist. Aus ihrer natürlichen Umgebung gerissen, sind gefangene Tiere Reizen ausgesetzt, die sie psychisch angreifen. Manche reagieren darauf mit Bulimie und Fettleibigkeit. Der moderne Mensch, gestresst durch das Stadtleben, tut dasselbe. Andere Tiere sind unkonzentriert. Sie legen sich zum Schlafen auf den Boden. Der Mensch kann dank seiner zerebralen Gaben geistig entkommen. Auf Überinformation reagiert er mit Zappen. Er praktiziert eine Präsenz-Absenz, die Kunst, da zu sein, indem er woanders ist. Die überinformierte Gesellschaft geht vom Tun zum Vortäuschen des Tuns über. Manager, die durch das Übermaß an Daten verwirrt sind, geben vor zu führen, Forscher geben vor zu suchen, Lehrer, die sich in Datenbanken verirrt haben, geben vor zu lehren, religiöse Menschen geben vor zu beten und Wirtschaftswissenschaftler geben vor zu verstehen.

Dem Bericht von Gaudin zufolge wird der Mensch zwischen 1990 und 2020 den von ihm erfundenen Techniken nicht gewachsen sein. Unfähig, seine Informationen auszuwählen, unfähig, Entscheidungen zu treffen, auf rationale Entscheidungen zu setzen.

Der kulturelle Nebel, den wir New Age nennen, verlagert den Schwerpunkt von der Politik auf den Bereich der Technologie und der Umwelt. Der Bericht von Thierry Gaudin verkündet die unausweichliche Auflösung des Nationalstaates. Die moderne Form der Politik, die zentralisierte staatliche Organisation und selbst Formen der partizipativen Demokratie sind dazu bestimmt, zu leeren Hüllen zu werden. Thierry Gaudin argumentiert, dass die Nationalstaaten zugunsten internationaler Dienstleistungsstrukturen verschwinden: Militärdienst, medizinischer Dienst, Lebensmittelversorgung und so weiter.

Bis zum Jahr 2100“, schreibt Gaudin im Bericht der Gruppe für Forschung und Technologieaustausch, “wird es zwölf Milliarden Individuen geben, was etwa der Anzahl der Neuronen in einem menschlichen Gehirn entspricht. Milliarden von Verbindungen werden über den ganzen Planeten aufgebaut werden, über das telematische Netz von Telefonen, Mobiltelefonen und Mehrfachbildschirmen, als Netze von Neuronen, die ihre Dendriten, das Universum, die Anderen, während der Zeit, in der sich das Gehirn bildet, vorantreiben. Denn dieser neuro-mimetische Planet wird der Beginn eines gewaltigen Lernprozesses sein. Man lernt zu tun, indem man tut, und die Informationszirkulation wird durch Versuch und Irrtum Gestalt annehmen und sich allmählich als eine endgültige Form der Realität etablieren.

Das Problem der Prognose und der politischen Entscheidungsfindung ändert sich in seiner Natur völlig. Wenn wir die planetarische Menschheit in neuro-telematischen Begriffen beschreiben, scheinen sich unvorhersehbare Möglichkeiten der Verbindung zu ergeben. Wie kann eine Funktion zur Steuerung des Ganzen etabliert werden?

In einer Population von Neuronen gibt es kein einziges, das über die anderen befiehlt, und dennoch funktioniert das Gehirn. Das hierarchische Prinzip funktioniert in einem mechanischen, sequentiellen und entscheidungsfähigen System. In einem System, in dem der Informationsaustausch nicht mehr sequentiell abläuft, in dem jeder Informationsfluss reproduzierbar, überlappend und zufällig ist, scheint mir jede Möglichkeit des Regierens zur Auflösung zu neigen.

Im Geiste des New Age gibt es zwei Vorstellungen von der zukünftigen Welt, zwei Perspektiven. Die erste Perspektive ist von ökologischem Katastrophismus geprägt: das Bewusstsein für die Ausbreitung degenerativer Prozesse, die die natürliche Ökosphäre und die geistige Ökosphäre betreffen. Die zweite Perspektive ist von paradigmatischem Optimismus geprägt, dem Glauben, dass die mentalen und sozialen Bedingungen für ein glückliches Segeln auf den Wellen des neurotelematischen Ozeans geschaffen werden. Diese beiden Vorstellungen drehen sich um den Begriff eines neuen Paradigmas.

Doch zu Beginn der 90er Jahre macht uns die historische Vergangenheit – die sozialen und kulturellen Rückstände, die immense Anhäufung ideologischer, imaginärer und wirtschaftlicher Trümmer, die die moderne Geschichte mit sich gebracht hat – unerwartet einen Strich durch die Rechnung.

Wir stehen am Anfang einer dunklen Zeit.

Wie überstehen wir sie, ohne uns selbst auszulöschen, ohne unter der Erpressung von Not, Angst, Schuld und Identität einzuknicken? Wie bleiben wir Nomaden in einer Welt der Serben und Kroaten?

Erschienen im Januar 2024 auf Machina, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

https://www.machina-deriveapprodi.com/post/un-decennio-schizo

https://bonustracks.blackblogs.org/2025/01/24/ein-schizoides-jahrzehnt/