Die Universität Leipzig sagte ­einen Vortrag des israelischen Historikers Benny Morris ab – Die Geschichtsstunde fällt aus

Die Universität Leipzig hat dem Druck antiisraelischer Gruppen nachgegeben und einen Vortrag des israelischen Historikers Benny Morris abgesagt. Der wirft der Universität »Feigheit« vor.

Als die US-amerikanische Fotografin Nan Goldin kürzlich zu einer Ausstellungseröffnung in Berlin eine Rede hielt, in der sie Deutschland die Unterstützung eines »Genozids« vorwarf und ein Ende der »75jährigen Besatzung« Palästinas forderte – gemeint ist also das Jahr 1949, als begann, was nun beendet werden soll, die Existenz Israels –, betonte Goldin einen Punkt besonders: Der eigentliche Zweck ihrer Reise sei nicht die Ausstellung gewesen, sondern diese Rede. Denn sie sei als »Test« konzipiert – darf man das noch sagen in Deutschland?

Diese Woche wurde an der Universität Leipzig abermals getestet, was man in Deutschland sagen darf, doch diesmal fiel die Antwort negativ aus. Kurz vor dem geplanten Termin am Donnerstag wurde ein Vortrag von Benny Morris abgesagt. Der ­israelische Historiker ist bekannt dafür, die Geschichtsschreibung seines Landes einer kritischen Revision unterzogen zu haben, vor allem hinsichtlich der Vertreibung arabischer Palästinenser im Unabhängigkeitskrieg 1948.

In einer gemeinsamen Begründung sprachen der Antisemitismusbeauftragte der Universität, Gert Pickel, und die Judaistikprofessorin Yemima Hadad über Äußerungen von Morris, die »teilweise als verletzend und sogar rassistisch gelesen werden« können. »Zusammen« mit Sicherheitsbedenken sei dies der Grund für die Absage des Vortrags gewesen. Gegen Morris’ Vortrag hatte unter anderem die Gruppe »Students for Palestine Leipzig« protestiert. Sie forderte: »Cancel the Lecture«, und rief dazu auf, Protest-E-Mails an die Universität zu schicken.

Auf Nachfrage der Jungle World sagte Gert Pickel, der Vortrag hätte stattfinden können, wenn es nicht »relativ konkrete und nicht allgemeine Sicherheitsbedenken« gegeben hätte. Man habe nicht noch einmal erleben wollen, was sich vor drei Wochen ereignet hatte. Er bezog sich dabei auf einen Vortrag des pro­stitutionskritischen Vereins Sisters e. V. Anfang November an der Uni Leipzig. Rund 60 Demonstranten hatten den Vortrag so lange gestört, bis er abgebrochen und die Polizei gerufen wurde. Der Studierendenrat hatte in einem offenen Brief den Vorwurf erhoben, der Verein fokussiere »sich auf die Ausstiegshilfe für sexarbeitende (cis) Frauen und schließt dabei trans* Personen gezielt aus«.

Im Gespräch mit der Jungle World wirft Morris der Universität »Feigheit« vor. Nicht er müsse sich verteidigen, sondern die Universität. Er wies außerdem darauf hin, dass wegen angeblicher Sicherheitsbedenken bereits geplant gewesen sei, dass er den Vortrag nur online halten sollte. Doch auch das war den zuständigen Professoren offenbar nicht sicher genug, sie bestanden auf eine komplette Absage.

»False balance« gegen Israel

Auf Nachfrage der Jungle World sagte Pickel, dass man Morris’ Vortrag ja im Hörsaal übertragen hätte, wenn die Sicherheitsrisiken nicht dieselben gewesen wären. Den Vortrag komplett online abzuhalten, wie es zu Beginn der Covid-19-Pandemie üblich war, sei »tatsächlich nicht erwogen« worden, so Pickel. »Warum, kann ich nicht sagen.«

Pickel sagte, ihn bedrücke, dass eine false balance entstehe, weil »bei etwas kontroverseren israelischen oder pro­israelischen Rednern massivster Druck ausgeübt wird, während Pro-BDS- und andere Veranstaltungen dieses Bereiches sich vor so einem Druck nicht fürchten müssen, aber gleichzeitig dauernd über eingeschränkte Meinungen klagen«.

Doch gerade deshalb war es ja so fatal, Benny Morris zu canceln. Die weltweite Tendenz, israelische Forscher pauschal zu boykottieren und auszuschließen, erhält dadurch Bestätigung.

Es geht um ein 20 Jahre altes Zeitungsinterview

Die strittigen Zitate, gegen die sich der Protest von Students for Palestine Leipzig richtete, stammen nicht aus Morris’ wissenschaftlichen Werk, sondern ausschließlich aus einem in­zwischen 20 Jahre alten Interview, das Morris der israelischen Zeitung Ha­aretz gegeben hatte. Sie lösten schon damals eine Kontroverse aus, weshalb sich Morris kurz darauf in einem weiteren Artikel verteidigte. Die Verdichtung eines siebenstündigen Gesprächs auf zwei Zeitungsseiten sei ihm »nicht gerecht« geworden. Die schärfsten Aussagen seien ausgewählt worden, »manchmal ohne Nuance oder Qualifizierung«.

Allerdings distanziert sich Morris nicht vom Gros seiner Aussagen. So sagte er zum Beispiel, dass »so etwas wie ein Käfig gebaut« werden müsste, um Israel vor den Palästinensern zu schützen. Die Wortwahl »Käfig« bereue er, das schrieb er schon damals, aber ansonsten bleibe er bei seiner Ansicht. Er habe einen Sicherheitszaun gemeint, der verhindern würde, dass weiterhin regelmäßig Selbstmordattentäter nach Israel kämen, die Busse und Restaurants in die Luft sprengten. Es gebe »ein tiefes Problem im Islam«, sagte Morris außerdem. Das »menschliche Leben zählt dort nicht dasselbe wie im Westen«, es gebe »keine Freiheit, Demokratie und Offenheit«.

Das ganze Interview ist von einem tiefen Pessimismus durchzogen. Um die Jahrtausendwende gab es eine jahrelange Terrorkampagne gegen Israel, der Friedensprozess war endgültig gescheitert. Die Selbstmordattentate der sogenannten zweiten Intifada seien Ausdruck »des tiefen Willens der palästinensischen Bevölkerung«, zeigte sich Morris überzeugt, »sie wollen, dass, was in dem Bus passiert, mit uns allen passiert«; mit »Bus« meinte er die in dieser Zeit üblichen Mordattacken von Palästinensern in öffentlichen Verkehrsmitteln Israels. Die Mehrheit der Palästinenser wünsche sich keinen Frieden, sondern die Zerstörung Israels, so Morris – und er halte es für gut möglich, dass ihnen das in den nächsten Jahrzehnten gelingt.

Morris verweigerte 1988 den Wehrdienst im Westjordanland

Morris ist für seine schonungslosen Studien zur Geschichte seines Landes bekannt. Selbst in dem fraglichen Interview von 2004 erzählt er von bisher nicht dokumentierten Verbrechen israelischer Soldaten im Krieg 1948 – in diesem Fall Vergewaltigungen –, die er in der neuen Ausgabe eines seiner Bücher darstellen werde.

1988 verweigerte Morris den Wehrdienst im Westjordanland und ging stattdessen ins Gefängnis, weil er die Erste Intifada – den damaligen Aufstand der Palästinenser – für einen »legitimen Kampf für die Befreiung von der Besatzung« hielt. Seinen Büchern kann man entnehmen, dass die Gründung Israels in vielerlei Hinsicht eine Katastrophe für die palästinensische Bevölkerung darstellte – und gleichzeitig einen Kampf der Juden um ihr nacktes Überleben.

Er argumentiert, dass Israel die Palästinenser in der Westbank seit Jahrzehnten unterdrücke, dass aber eine friedliche Lösung und ein Ende der Gewalt unmöglich sei, weil die palästinensische Nationalbewegung all die Jahrzehnte und bis heute an der Zerstörung Israels festgehalten habe.

Sowohl Gegner wie Verteidiger Israels können sich davon provoziert fühlen. Eine Auseinandersetzung mit diesen Positionen würde zumindest das Niveau der Debatte um einiges heben. Denn die scheint zu großen Teilen nur noch aus Cancel-For­derungen und Cancel-Vorwürfen zu bestehen.

https://jungle.world/artikel/2024/49/benny-morris-leipzig-gecancelt-die-geschichtsstunde-faellt-aus