Antifa Gedenkkundgebung zum 9.11.2024 | 17:00 Uhr Karl-Heine-Platz / Leipzig

„Nicht Gesetz ist die Parole, sondern Schikane. Die Juden müssen aus Berlin heraus“, so verkündete Joseph Goebbels schon im Juni 1938 bei einer Rede vor Polizeioffizieren in Berlin. Damit sprach er nur aus, was ohnehin schon Praxis geworden war: in ganz Deutschland wurden Juden und Jüdinnen Opfer von antisemitischen Attacken und Überfällen. Das Ziel dahinter war, die Juden so zu drangsalieren, dass sie Deutschland verlassen würden und nicht wenige taten dies auch. Mehr aber blieben.
In den Augen der Antisemiten war dies keine Option: Das Unglück Deutschlands kam von diesen Menschen her, und weil es von ihnen herkam, waren es keine. Alles Schikanieren, alles Drangsalieren, alle Gewalt führten nicht zu dem gewünschten Ergebnis. Es war klar, es stand im Raum: Härtere Maßnahmen mussten her, um sich der unmenschlichen Gefahr, die in den Juden erblickt wurde, zu entledigen.
Und doch gab es ein Hemmnis. Die eigenen Taten, sie sollten sich wirklich als das Richtige, als die gute Tat erweisen, als die sie erlebt werden sollten. Ein Grund musste her, der die Gewalt, die man ohnehin ausüben wollte, rechtfertigte.
Dieser Grund fand sich im Attentat von Herschel Grynszpan, der die antisemitsche Vertreibung seiner Eltern rächen wollte. Herschel, der in Paris untergetaucht war, erschoss am 7. November 1938 den Diplomaten Ernst Eduard von Rath.
Das Deutsche Nachrichtenbüro gab noch am gleichen Tag die Weisung heraus, dass alle Zeitungen das Attentat als große Nachricht bringen sollten. Und so stand es im Völkischen Beobachter:

„Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird. Es ist ein unmöglicher Zustand, daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als ‚ausländische‘ Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen. […] Die Schüsse in der deutschen Botschaft in Paris werden nicht nur den Beginn einer neuen deutschen Haltung in der Judenfrage bedeuten, sondern hoffentlich auch ein Signal für diejenigen Ausländer sein, die bisher nicht erkannten, daß zwischen der Verständigung der Völker letztlich nur der internationale Jude steht.“

Damit war der Startschuss für das bisher größte Pogrom an den Juden in Deutschland gefallen. Schon am 8. November brannte die erste Synagoge in Bad Hersfeld, in mehreren weiteren Städte wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet. Hitler, der sich bei einer Gedenkveranstaltung zum Hitlerputsch in München befand, wies Goebbels an: „Die Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen“. Goebbels gab dies weiter an die Gauleiter der SA und der Gestapo, die dies in Befehle umzusetzen wussten.
Was dies bedeutete, wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November deutlich: im ganzen Reichsgebiet wurden mehrere hundert Juden ermordet, mindestens 300 nahmen sich das Leben. Um die 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume jüdischer Menschen sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden gestürmt und zerstört. Ab dem 10. November folgten Deportationen jüdischer Menschen in Konzentrationslager. Mindestens 30.000 Menschen wurden dabei interniert, Hunderte starben an den Folgen der mörderischen Haftbedingungen oder wurden hingerichtet.

In Leipzig erteilte am frühen Morgen des 10. November der Kreisleiter der Leipziger NSDAP, Ernst Wettengel, auf Anordnung der zentralen NSDAP den Befehl, ein Pogrom zu inszenieren. Um 3:51 Uhr setzten SA-Männer in Zivil die Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße in Brand. Im Verlauf des Morgens wurden auch die Ez-Chaim-Synagoge, das Kaufhaus Bamberger und Hertz, die Höhere Israelitische Schule sowie die Große und die Kleine Trauerhalle des jüdischen Friedhofs in der Delitzscher Straße in Eutritzsch angezündet. Alle heiligen Artefakte und Dokumente wurden entweiht und häufig auf die Straße geworfen, wo sie verbrannt wurden.

Die am Pogrom beteiligten Personen zerschlugen Hunderte von Schaufenstern jüdischer Geschäfte, darunter das Warenhaus Ury. Auf der Suche nach Wertgegenständen verwüsteten sie jüdische Wohnhäuser und Synagogen. Die Plünderer entwendeten Archive, Schriftrollen, silberne Toraschilde sowie einige Glocken und Münzen. Familien berichteten, dass Schmuck, Silberwaren, andere Wertgegenstände, Möbel und Bargeld aus ihren Häusern geraubt wurden. Allein in der ersten Nacht wurden insgesamt 193 Geschäfte, 34 Privathäuser, 3 Synagogen, 4 kleinere Tempel, die Friedhofskapelle und das Ariowitsch-Altersheim zerstört, was einen geschätzten Schaden von mehreren Millionen Reichsmark zur Folge hatte.
Die Verhaftungen jüdischer Mitbürger und Mitbürgerinnen wurden von Gestapo- und Kriminalbeamten durchgeführt, die eng mit der SA und der SS zusammenarbeiteten. Zudem zerrte der Mob Juden aus ihren Wohnungen und brachte sie zur Polizei. In kleinen Gruppen durchstreiften sie die Viertel, klopften an die Türen jüdischer Haushalte und riefen: „Juden heraus!“ und „Raus, ihr Judenschweine!“. Sie brachen die Türen auf und schleiften diejenigen Juden fort, die nicht sofort auf ihre Befehle reagierten. Bis zum 15. November waren in Leipzig nahezu 550 Juden verhaftet worden, von denen etwa 350 in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen deportiert wurden. Mindestens zwölf Leipziger Juden fanden in diesen Lagern den Tod.

Wir wollen am 9. November zusammenkommen, dem 86. Jahrestag der Pogromnacht der Nationalsozialisten. Froh wären wir, wenn wir sagen könnten: dies ist die Zeit für ein stilles Gedenken. Ein Gedenken, dass die Opfer in den Mittelpunkt stellen kann; ein Gedenken, was darin seine Kraft hat, dass das Wissen um das, was geschah, groß ist, in einem Miteinander, dass solche Taten gegenwärtig und zukünftig unwahrscheinlich macht; in einem Leben, dass seinen Namen verdient. Aber dem ist nicht so. Mehr, als das man weiß, dass Antisemitismus schlecht ist, weiß kaum noch jemand. Und obwohl an vielen Orten anlässlich des 9. November Gedenken abgehalten wird: das Wissen darüber, was Antisemitismus ist, nimmt nicht zu, sondern ab. Wir wollen an diesem Tag deswegen nicht nur einfach gedenken, sondern uns gemeinsam bewusst machen, dass es immer auch um die Gegenwart geht und in dieser die Gefahr der zum Fest des Glücks erhobenen Grausamkeit und Barbarei aktuell ist wie nicht mehr seit dem Ende des Nationalsozialismus. Mord und Totschlag, Grausamkeit und Gewalt haben erneut begonnen, nicht nur eine Sogkraft auf Wenige, sondern auf die Gesellschaft als Ganzes auszuüben. Schwer zu sagen, ob dies noch aufzuhalten ist – aber darum geht es: nicht darum, in diesen Zeiten seinen Kummer über die Vergangenheit zu zelebrieren, sondern darum zu kämpfen, dass sie nicht noch einmal sein wird.

Kommt zum antifaschistischen Gedenken!

9.11.2024 • 17:00 Uhr • Karl-Heine-Platz (Leipzig / West)