Siebenjähriger aus sächsischer Grundschule geholt und abgeschoben

Bundespolizisten haben am Dienstag in Delitzsch (Nordsachsen) einen Erstklässler aus seiner Grundschule geholt und ihn anschließend zusammen mit seiner Mutter in ein Flugzeug nach Tschetschenien gesetzt. Diese Praxis sorgt für scharfe Kritik. Von Kindeswohlgefährdung ist die Rede.

Delitzsch – In der nordsächsischen Stadt Delitzsch haben Polizeibeamte am Dienstag einen siebenjährigen Jungen aus seiner Grundschule abgeholt, um ihn anschließend abzuschieben. Das berichtet der Sächsische Flüchtlingsrat (SFR). Wie Sprecher Dave Schmidtke gegenüber der LVZ erklärte, hätten die Beamten zunächst im Schulgebäude auf den Unterrichtsschluss gewartet. Der Erstklässler Ahmed Tokanaeva sei dann in Begleitung seines Lehrers und unter den Augen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler zum Polizeifahrzeug gebracht und hineingesetzt worden. Familienmitglieder seien zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend gewesen.

Bisher habe Ahmed zusammen mit seiner alleinerziehender Mutter und Großmutter am Delitzscher Karl-Marx-Platz gewohnt und war erst im September in der Grundschule am Rosenweg eingeschult worden. Die aus Tschetschenien stammende Familie sei auf der Flucht vor dem gewalttätigen Ex-Ehemann und hatte deshalb in Deutschland Asyl beantragt. Aus der russischen Teilrepublik gibt es immer wieder Berichte über staatliche Folterungen, Morde und gewalttätige Clankriminalität. Etwa 50.000 Tschetscheninnen und Tschetschenen leben in Deutschland und hoffen auf Bleiberecht. Die meisten Asylanträge werden abgelehnt.

 

Landesdirektion: Polen für Asylantrag zuständig

Wie es am Mittwoch aus der für Abschiebungen zuständigen Sächsischen Landesdirektion hieß, sei die Familie 2019 aus Richtung Polen kommend nach Deutschland eingereist. Weil deshalb nach EU-Recht Polen für den Asylantrag zuständig sei, wurde dieser in Deutschland abgelehnt und die Familie bereits im Januar 2020 ins Nachbarland gebracht. Nach nochmaliger Einreise im August 2020 sei auch der erneute Asylantrag vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt worden. Die Landesdirektion sei nun gesetzlich verpflichtet, diese Anordnung auch umzusetzen.

Sprecher Holm Felber widersprach der Darstellung, der siebenjährige Junge sei von der Polizei direkt aus der Grundschule abgeholt worden. „Das ist nicht richtig. Der Junge wurde nach Schulschluss auf dem Weg zum Hort durch die Polizei nach telefonischer Absprache mit der Schulleitung in Empfang genommen und gemeinsam mit seiner Großmutter und seiner Mutter erneut an die Grenzübergangsstelle Görlitz gefahren und dort vom polnischen Grenzschutz nachmittags übernommen.“ Zwischen dem Hort und der Delitzscher Grundschule liegen etwa 200 Meter Entfernung.

 

Wöller: Abholung nach Schulunterricht nicht ausgeschlossen

Auch Innenminister Roland Wöller (CDU) verwies am Mittwoch gegenüber der LVZ auf die Zuständigkeit der polnischen Behörden. „Nach geltender Rechtslage und auch gemäß Koalitionsvertrag müssen vollziehbar Ausreisepflichtige das Land verlassen. Dabei soll nach der Koalitionsvereinbarung möglichst auf eine Abholung aus Bildungseinrichtungen verzichtet werden, was das Sächsische Innenministerium mit Erlass am 8. April 2020 umgesetzt hat. Einen gänzlichen Ausschluss einer Abholung nach dem Schulunterricht sieht weder der Koalitionsvertrag, noch eine sonstige Rechtsnorm vor“, so Wöller.

Der Flüchtlingsrat befürchtet nun zumindest Schlimmstes für den siebenjährigen Ahmed und seine beiden Angehörigen. Der gewalttätige Ex-Mann habe gute Kontakte nach Polen, so Dave Schmidtke. Es sei deshalb zu befürchten, dass die drei Abgeschobenen im Nachbarland schnell aufgefunden werden und deshalb dort in Gefahr sind. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird auch eine Ablehnung des Asylantrages in Polen erfolgen und anschließend die Abschiebung nach Tschetschenien“, so Schmidtke weiter. Zudem drohe der Familie in der Zwischenzeit im Nachbarland Obdachlosigkeit, da sich Polen nicht an europäische Unterbringungsstandards halte.

 

Scharfe Kritik aus dem Sächsischen Landtag

In der sächsischen Politik wurde der Fall am Mittwoch zum Teil mit Fassungslosigkeit aufgenommen. Zumal erst im Sommer ein Familie aus Georgien wieder nach Pirna zurückgeholt werden musste, weil das Oberverwaltungsgericht den Vorgang als illegal bezeichnet hatte. Die Linken-Abgeordnete Juliane Nagel forderte die Dresdner Kenia-Koalition am Mittwoch auf, Menschenrechtsverletzungen bei der erzwungenen Ausreise zu beenden. „Es ist schockierend, dass eine so kaltblütige Abschiebung in Sachsen noch geschehen kann, nach all den Debatten, die in diesem Jahr geführt wurden. SPD und Grüne müssen Innenminister Wöller endlich einhegen“, so Nagel. Zudem wies sie darauf hin, dass im sächsischen Koalitionsvertrag von CDU, Grünen und SPD stehe: „Wir werden gewährleisten, dass Abschiebungen durch Behörden des Freistaats Sachsen für Betroffene so human wie möglich und unter Berücksichtigung des Kindeswohls gestaltet werden.“

Die sächsischen Grünen reagierten ebenfalls mit scharfer Kritik in Richtung des Innenministeriums vom Koalitionspartner. „Dieses Vorgehen macht mich fassungslos. Die Abholung aus einer Schule vor den Augen der Mitschülerinnen und Mitschüler ist zutiefst traumatisierend – nicht nur für das betroffene Kind, sondern für alle anwesenden Kinder“, so die Grünen-Landtagsabgeordnete Petra Čagalj Sejdi am Mittwoch. Auch aus ihrer Sicht sei der vorliegende ein Fall von Kindeswohlgefährdung. Ihre Partei dränge seit einem Jahr, dass die Regierung einen Leitfaden für humane Rückführungen festlege. Der Entwurf von Innenminister Roland Wöller „zementiert dagegen den Status quo der inhumanen sächsischen Rückführungspraxis“, so Čagalj Sejdi weiter.


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